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Zwischen Reform und Revolte (1961–1969) | Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 | bpb.de

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Zwischen Reform und Revolte (1961–1969)

Dierk Hoffmann

/ 21 Minuten zu lesen

Mit dem Mauerbau werden im Osten viele Rechte der Bevölkerung eingeschränkt. Gleichzeitig erweitert sich der politische Handlungsspielraum beider Staaten für Reformen.

Die 1960er-Jahre bringen weitreichende Veränderungen für West- und Ostdeutschland mit sich. Nach dem Mauerbau stoßen beide Staaten Reformen an, gegen die zum Teil – besonders im Westen – lautstark demonstriert wird. Bei einem Demonstrationszug der Außerparlamentarischen Opposition (APO) geht eine rote Fahne in Flammen auf, Berlin 1. Mai 1968. (© picture-alliance/dpa, Chris Hoffmann)

Die Folgen des Mauerbaus

Der Bau der Berliner Mauer veränderte vor allem das Leben der DDR-Bevölkerung nachhaltig. Die Ostdeutschen, die sich nicht mit dem SED-Regime identifizierten, zählten zu den Leidtragenden. Sie mussten sich nach 1953 wieder einmal rasch mit den neuen politischen Verhältnissen arrangieren. Das in der DDR-Verfassung von 1949 garantierte Recht auf Freizügigkeit (Artikel 8) war, was Westreisen betraf, de facto beseitigt.

Mit der Schließung der Grenze in Berlin gab es für DDR-Bewohnerinnen und -Bewohner keine Möglichkeit mehr, in die Bundesrepublik zu reisen. Familienbande, Freundschafts- und Liebesbeziehungen wurden auseinandergerissen. Bis zum Mauerfall am 9. November 1989 verloren mindestens 136 Menschen an der Sektorengrenze ihr Leben; mindestens 251 Reisende starben im Zusammenhang mit den Kontrollen an einem der Berliner Grenzübergänge. Der Mauerbau und die menschenverachtende Brutalität, mit der die DDR die geschlossene Grenze überwachte, stellten eine schwere Hypothek für die deutsch-deutschen Beziehungen dar. Am 17. August 1962 wurde der 18-jährige Bauarbeiter Peter Fechter bei einem Fluchtversuch tödlich verwundet. DDR-Grenzsoldaten ließen den Schwerverletzten im Todesstreifen zwischen Ost- und West-Berlin qualvoll verbluten, was weltweit für Empörung sorgte.

Um solche „Zwischenfälle“ in Zukunft zu verhindern, war die Bundesregierung bereit, den zinslosen Überziehungskredit, der der DDR im innerdeutschen Handel gewährt wurde, zu erhöhen. Hier zeichnete sich ein Tauschgeschäft ab, das in der Folgezeit die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten bestimmen sollte: Ost-Berlin machte humanitäre Zugeständnisse von westdeutscher Wirtschaftshilfe abhängig. Für die Bundesregierung waren zwei Gründe ausschlaggebend: Bonn sah sich gezwungen, auf den Vorwurf zu reagieren, während des Mauerbaus untätig gewesen zu sein. Darüber hinaus wollte die bundes­deutsche Regierung aus humanitären Gründen etwas für die Menschen in der DDR unternehmen.

Durchlässigkeit der Grenze: das Passierscheinabkommen 1963

Um die Situation für die Menschen zu verbessern, wurde Ost-Berlin der Wunsch übermittelt, Verwandtenbesuche im geteilten Berlin wieder zu ermöglichen. Das erste Passierscheinabkommen, das vermutlich auf entsprechenden Druck Moskaus Ende 1963 zustande kam, bot über 700.000 West-Berlinerinnen und -Berlinern erstmals wieder die Möglichkeit, ihre Verwandten im Ostteil der Stadt über Weihnachten zu besuchen. Es folgten bis 1966 vier weitere Abkommen, die die Mauer teilweise durchlässig machten. In der Gegenrichtung gewährte die SED zumindest DDR-Rentnerinnen und -Rentnern eine gewisse Reisefreiheit, denn sie konnten ab 1964 ihre Familienangehörigen in der Bundesrepublik besuchen. Während die Bonner Regierung das Passierscheinabkommen als Verwaltungsvereinbarung betrachtete, das keine Anerkennung der DDR mit sich brachte, bemühte sich das SED-Regime, das Abkommen als völkerrechtlichen Vertrag erscheinen zu lassen.

Zufriedenheit in Ost-Berlin

Im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung herrschte in der Waldsiedlung Wandlitz (nördlich von Berlin) – dorthin war die SED-Führung bereits Ende 1960 umgezogen – Zufriedenheit über den reibungslosen Abschluss des Mauerbaus. Die Abstimmung mit den Füßen (siehe Abschnitt "DDR-Flucht: "Abstimmung mit den Füßen"" im Kapitel "Interner Link: Zwischen Systemwettstreit und Mauerbau (1955–1961)") war gestoppt. Die SED-Herrschaft schien langfristig gesichert zu sein. Aus der Perspektive der ostdeutschen Führung war der Tag der Grenzschließung der heimliche Gründungstag der DDR. Ob aber der Mauerbau die Herrschaft des kommunistischen Regimes in Ost-Berlin dauerhaft sichern würde, musste die Zukunft erst noch zeigen.

Tatsächlich brachte der „antifaschistische Schutzwall“ – so die offizielle Sprachregelung der SED – die lang erhoffte Planungssicherheit. Mit der Grenzschließung in Berlin stand die Planung und Lenkung der in der DDR zur Verfügung stehenden Ressourcen erstmals auf sicheren Füßen. Das betraf vor allem die Steuerung des Arbeitskräftepotenzials. Die von der Staatlichen Plankommission bis zum 13. August 1961 erstellten viertel- und halbjährlichen Gesamtplanungen waren oft hinfällig gewesen, mussten sie doch infolge der „Republikflucht“ immer wieder nachgebessert werden.

Erfolg und Niederlage: zwei Seiten einer Medaille

In den Führungsgremien der Partei war die Erleichterung über die gewonnenen Handlungsspielräume unübersehbar. Es schien wirtschaftlich wieder aufwärts zu gehen. So schrieb Ulbricht an Chruschtschow Anfang Februar 1962: „Seit dem 13. August erfolgt allmählich eine ökonomische Festigung der Lage in der DDR. Die Abwerbung von Arbeitskräften ist unmöglich gemacht. […] Die negativen Einflüsse der Abwerbung auf die Arbeitsmoral und die Disziplin in den Betrieben sind abgeschwächt.“

Seine Briefzeilen dokumentieren aber auch das Eingeständnis einer Niederlage. Denn das auf dem V. SED-Parteitag 1958 ausgegebene Ziel, die Bundesrepublik ökonomisch zu überholen, war gescheitert. Deshalb kann der Bau der Berliner Mauer auch als Absage an einen Systemwettstreit mit dem kapitalistischen Westen gesehen werden, der zuvor intensiv betrieben worden war. Obwohl die DDR versuchte, dem direkten Vergleich mit dem westdeutschen Klassenfeind aus dem Weg zu gehen, blieb die Bundesrepublik für die ostdeutsche Bevölkerung in den folgenden Jahrzehnten die Referenzgröße, an der der eigene Lebensstandard gemessen wurde.

Planungseuphorie im geteilten Deutschland

Wirtschaftskrise und Wirtschaftsreform in der DDR

Obwohl sich die Rahmenbedingungen für Ost-Berlin schlagartig verbesserten, blieb die ökonomische Lage des Landes ange­spannt. So gingen die Wachstumsraten der industriellen Bruttoproduktion zwischen 1959 und 1963 von 13,1 auf 4,3 Prozent zurück. Im selben Zeitraum sank die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in der verstaatlichten Industrie von 9,6 auf 4,8 Prozent. Noch bedenklicher erschien die Entwicklung der Investitionsquote: Sie sank rapide von 15,3 (1959) auf 1,4 Prozent (1961). Der geringfügige Anstieg auf 2,5 Prozent (1962) ließ sich kaum als Trendwende verkaufen.

In der SED-Führung herrschte Anfang der 1960er-Jahre Konsens darüber, dass die DDR-Wirtschaft modernisiert werden müsse. Die von Ulbricht 1963 angestoßene Wirtschaftsreform („Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung“, kurz: NÖSPL) zielte auf der Grundlage wissenschaftlicher Modelle darauf ab, die Eigenständigkeit der volkseigenen Betriebe zu stärken und Anreize für effizientes Wirtschaften zu schaffen.

Solche Ideen wurden zeitgleich auch in anderen osteuropäischen Ländern diskutiert. So hatte der sowjetische Ökonom ­Jewsei G. Liberman (1897–1981) bereits 1962 ähnliche Überlegun­gen in der Pravda (dem amtlichen Zentralorgan des ZK der KPdSU) angestellt. Er diente den ostdeutschen Wirtschaftsreformern als Kronzeuge für die Notwendigkeit, Änderungen im Planungssystem vorzunehmen.

Die Industriepreisreform als Herzstück

Für die ostdeutschen Reformer bestand die große Herausforderung jedoch darin, marktwirtschaftliche Mechanismen einzuführen, ohne die bestehende Planwirtschaft abzuschaffen. Es gelang ihnen nicht, diesen Widerspruch aufzulösen. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen stand die Industriepreisreform, mit der die Betriebe dazu animiert werden sollten, nicht nur kostendeckend, sondern auch gewinnbringend zu arbeiten. Ost-Berlin entschied jedoch frühzeitig, dass Preisen keine Steuerungsfunktion zukommen sollte.

Da die Kalkulationsvorschriften für die Industriepreisreform ebenfalls Lücken aufwiesen, konnten die Betriebe ihre ­Gewinne und die ihnen zustehenden Prämien erhöhen, ohne die Leistungen steigern zu müssen. Infolgedessen machten sich die Beschäftigten in den Betrieben erfolgreich für Lohnerhöhungen stark, die in keinem Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung standen. Das Anreizsystem erwies sich als stumpfes Schwert. Das Scheitern der Wirtschaftsreform war vorprogrammiert.

Das Ende der SED-Wirtschaftsreform

Die ausbleibenden Erfolge riefen wiederum die Skeptiker in der SED-Führung auf den Plan, die ihre Kritik an der Wirtschafts­reform immer offener artikulierten. Den Unmut bekam insbeson­dere Erich Apel (1917–1965) zu spüren, der seit Anfang 1963 an der Spitze der Staatlichen Plankommission stand und zu den wichtigsten Verfechtern des NÖSPL zählte. Als Gegenspieler erwies sich der ZK-Sekretär für Wirtschaft Günter Mittag (1926–1994).

Kurz nach dem überraschenden Selbstmord Apels am 3. Dezember 1965 begann das Politbüro damit, eine Kurskorrektur vorzunehmen. Mit der Propagierung des „Ökonomischen Systems des Sozialismus“ (ÖSS) wurden die ursprünglichen Reformideen aufgegeben. Schließlich brach die SED-Führung die Wirtschaftsreform ab, da sie Rückwirkungen für das politische System in der DDR und damit einen Machtverlust befürchtete.

Aufstieg der keynesianischen Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik

In den 1960er-Jahren erfasste die Planungseuphorie Ost und West gleichermaßen. Auch in der Bundesrepublik war der ­Glaube an die langfristige Steuerbarkeit politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse weit verbreitet – allerdings unter ganz anderen politischen Vorzeichen und Ausgangsbedingungen. Dabei hat das keynesianische Konzept der Globalsteuerung später als in anderen westlichen Ländern Eingang in die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik gefunden.

Das hing zum einen damit zusammen, dass die ordnungspolitische Vorstellung einer staatlich gelenkten Planwirtschaft unattraktiv war – der DDR-Staatssozialismus wirkte nach wie vor als abschreckendes Beispiel. Das war zum anderen aber auch auf die beispiellose wirtschaftliche Prosperität (= Wohlstand) in den langen 1950er-Jahren zurückzuführen. Die durchschnitt­lichen Wachstumsraten lagen zwischen 1950 und 1954 bei 8,8 Prozent, im nachfolgenden Zyklus (1955–1958) bei 7,2 Prozent und im Zeitraum zwischen 1959 und 1963 bei immerhin noch 5,7 Prozent. Deshalb war staatliches Eingreifen in die Wirtschaft lange Zeit verpönt.

Rezession 1966/67 und Stabilitäts- und Wachstumsgesetz

Erst als unter dem Eindruck der ersten Rezession 1966/67 das Wirtschaftswachstum stagnierte und die Arbeitslosenquote auf zwei Prozent stieg, entschloss sich die große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU, reg. 1966–1969) dazu, das keynesianische Instrumentarium der Konjunkturpolitik zur Bekämpfung der Krise einzusetzen. Erstmals saß nun die SPD auf Bundesebene mit am Regierungstisch. Zu den Ergebnissen der Politik von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) gehörte die „konzertierte Aktion“ – ein Gesprächskreis von Arbeitgebern, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik. Die großen Interessenorganisationen sollten sich an der staatlichen Rahmenplanung beteiligen und zu stabilitätskonformem Verhalten verpflichten.

Von zentraler Bedeutung war jedoch 1967 die Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, womit der Staat eine Mitverantwortung für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht übernahm. Dazu wurde im Grundgesetz ein neuer Artikel (109) eingefügt. Fortan sollte das „magische Viereck“ (Preisstabilität, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetiges Wirtschaftswachstum) die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung bestimmen. Die wichtigste Aufgabe der Globalsteuerung wurde die sogenannte antizyklische Ausgabenpolitik der öffentlichen Haushalte: Im Falle einer Nachfragelücke sollten staatliche Investitionsausgaben steigen, um die Wirtschaft zu stimulieren. Die Finanzierung dieser zusätzlichen Ausgaben hatte in erster Linie über Kredite zu erfolgen.

Wandel der Öffentlichkeit und das Ende der Ära Adenauer

Nur einen Monat nach dem Mauerbau fand in Westdeutschland am 17. September 1961 die Bundestagswahl statt, die eine schwierige Regierungsbildung nach sich zog. Da die Unionsparteien die absolute Mehrheit verloren hatten, waren sie auf die FDP als Koalitionspartner angewiesen, die sich im Wahlkampf auf eine Koalition mit der CDU/CSU ohne Adenauer festgelegt hatte. In den Koalitionsgesprächen konnten die Liberalen den Altkanzler dazu bewegen, sein Amt noch vor Ablauf der Legislaturperiode aufzugeben. Das Ende der Ära Adenauer kündigte sich an.

Adenauers Autoritätsverlust hatte sich freilich schon vorher abgezeichnet. Als 1959 ein Nachfolger für Theodor Heuss als Bundespräsident gesucht wurde, kündigte Adenauer überraschend in einer Rundfunkansprache seine Bewerbung für das Amt an. Er verband seine Kandidatur aber mit der Vorstellung einer politischen Stärkung des Amtes, was mit dem Grundgesetz schwerlich in Einklang zu bringen war. Die dadurch ausgelöste „Präsidentschaftskrise“ ist vor dem Hintergrund des Konflikts in der CDU um die Nachfolge im Kanzleramt zu sehen. Als Adenauer merkte, dass er Erhard als Kanzlernachfolger nicht verhindern konnte, zog er seine Kandidatur wieder zurück.

In der Öffentlichkeit wurde die Kritik laut, der Bundeskanzler habe keine Hemmungen, das höchste Staatsamt für seine persönlichen Interessen zu missbrauchen. Weitere Kratzer erhielt sein Ansehen im sogenannten Fernsehstreit 1960: Adenauers Versuch, ein vom Bund kontrolliertes zweites bundesweites Fernsehprogramm einzuführen, scheiterte am Veto des Bundes­verfassungsgerichts in Karlsruhe, das mit seinem Urteil die Rundfunkfreiheit in der Bundesrepublik stärkte.

Spiegel-Affäre 1962

Der schleichende Vertrauensverlust des Bundeskanzlers in der Öffentlichkeit erhielt durch die sogenannte Spiegel-Affäre den letzten schweren Stoß. Nachdem das Hamburger Nachrichtenmagazin am 9. Oktober 1962 einen kritischen Artikel mit dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ über gravierende Mängel in der Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr veröffentlicht hatte, ließ die Bundesanwaltschaft mit Rückendeckung des Bundesverteidigungsministeriums die Redaktionsräume durchsuchen und mehrere Redakteure (darunter auch den Herausgeber Rudolf Augstein) verhaften.

Ohne die juristische Prüfung abzuwarten, verurteilte Adenauer den Spiegel im Bundestag und sprach von einem „Abgrund von Landesverrat“. Der Bundeskanzler hielt an seinem Verteidi­gungs­minister Franz Josef Strauß (CSU, 1915–1988) lange fest, der bei der Durchführung der Aktion nicht nur Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger (FDP, 1920–1982) und das Auswärtige Amt übergangen, sondern anschließend auch noch das Parlament über seinen Anteil an dieser Aktion belogen ­hatte. Damit stand für viele die Pressefreiheit und die Rechtsstaatlichkeit auf dem Spiel.

Bundesweit protestierten Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Studierende gegen das Vorgehen der Regierung und solidarisierten sich mit dem Spiegel. Die Proteste machten die Affäre zu einem Lehrstück in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit. Die westdeutsche Öffentlichkeit hatte sich gewandelt; weite Teile der Bevölkerung verfügten offenbar über ein stabiles Demokratieverständnis.

Gesellschaftliche Mobilität in der Bundesrepublik und der DDR

Die beiden Gesellschaften in Ost- und Westdeutschland zeichneten sich von Anfang an durch ein hohes Maß an Mobilität aus, wobei bei näherer Betrachtung deutliche Unterschiede auffallen. In der DDR stand die Überwindung des sogenannten Klassengegensatzes im Zentrum der von oben angeordneten sozialistischen Umgestaltung. Diese zielte vor allem darauf ab, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen. Für die Bundesrepublik stellten viele Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler ebenfalls die Überwindung der Klassengesellschaft fest, wobei die Eigentumsfrage – abgesehen von den anfänglichen Sozialisierungsforderungen in der Schwerindustrie – nicht gestellt wurde.

Die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ in Westdeutschland?

In dem Zusammenhang hatte der deutsche Soziologe Helmut Schelsky bereits 1953 die Formel von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ geprägt, die großen Einfluss auf die Zeitgenossen sowie die Forschung der nachfolgenden Jahrzehnte ausübte. Kaum eine andere Deutung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft hat eine solche Aufmerksamkeit erhalten. Dabei konstatierte (= feststellen) der einflussreiche Soziologe das Zusammentreffen von Auf- und Abstiegsprozessen in der deutschen Gesellschaft. Schelsky meinte im Einzelnen den kollektiven Aufstieg der Industriearbeiterschaft und der Angestellten in den neuen Mittelstand sowie den sozialen Abstieg größerer Bevölkerungsgruppen im Zuge von Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg.

Obwohl die These Schelskys wichtige Anregungen geliefert hat, blieb sie keineswegs unumstritten. So herrscht in der Wissenschaft mittlerweile Konsens darüber, dass sich in Westdeutschland soziale Angleichungsprozesse vollzogen, die teilweise schon vor 1945 einsetzten und sich in der Bundesrepublik weiter beschleunigten. Das betrifft den besonders in Deutschland bis 1933 stark ausgeprägten Unterschied zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern auf der einen und Angestellten auf der anderen Seite. Dieser Unterschied ist im Selbstverständnis vieler Angestellter nach 1945 zurückgetreten. Anders als in der Weimarer Republik ist er für die Erklärung politischen Verhaltens in der Bundesrepublik weniger wichtig. Gleichzeitig haben sich Einkommensunterschiede zwischen Selbständigen und Arbeitnehmenden teilweise vergrößert. Trotz bedeutender materieller Verbesserungen sind „Arbeiter Arbeiter geblieben“ (so der Historiker Josef Mooser). Das zeigt sich etwa bei den nach wie vor bestehenden Einkommensunterschieden und schlägt sich auch im unterschiedlichen Konsumverhalten sowie im Bildungsstand nieder.

Enteignung und soziale Mobilität in Ostdeutschland

Dagegen eröffneten die rigorosen Enteignungsmaßnahmen in der DDR ungeahnte Karrierechancen für Arbeiterinnen und Arbeiter, wie sich etwa bei der Besetzung von betrieblichen Leitungspositionen beobachten lässt. Das gelang nicht nur durch die Verstaatlichung von Betrieben, sondern auch durch die bewusste Verdrängung des privaten Unternehmertums. Indem die SED vielen Arbeitern den sozialen Aufstieg versprach, gelang es ihr, die neuen Betriebsleitungen an sich zu binden, von denen etwa 80 Prozent über ein SED-Parteibuch verfügten.

Ulbricht nutzte wiederum die DDR-Wirtschaftsreformen Anfang der 1960er-Jahre, um jungen Funktionären, auf die er zählen konnte, einen raschen Aufstieg in der Wirtschafts- und Parteibürokratie zu ermöglichen. Mit dem damit verbundenen Generationenwechsel wollte er seine Herrschaft langfristig sichern. In der SED-Führung begann ein Stühlerücken; das Personal des ZK verjüngte sich. Diese Entwicklung verleitete einige westdeutsche Sozialwissenschaftler wie Peter Christian Ludz in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre bei der Analyse der SED-Sozialstruktur zu der gewagten Behauptung, dass sich die ostdeutsche Gesellschaft in zunehmendem Maße stabilisiert habe.

Aufkommen der Politikberatung

Die Ausarbeitung der Wirtschaftsreformen fand schließlich in einer Zeit statt, die in Ost und West von einer Verwissenschaftlichung der Politik geprägt war. Auf Anregung der SED schossen wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute in den 1960er-Jahren wie Pilze aus dem Boden, die oft jedoch nur über eine kurze Halbwertzeit verfügten. Außerdem waren deren Aufgaben und Zuständigkeiten meist nicht eindeutig fixiert. Deshalb kann vom langfristig geplanten Aufbau einer Politikberatung in der DDR nicht die Rede sein. Obwohl Ost-Berlin angesichts des wachsenden Steuerungsanspruchs einer komplexen Industriegesellschaft auf die Nutzung von Expertenwissen angewiesen war, rückte die SED nicht von ihrem Anspruch ab, exklusiv über das Wissen „der richtigen Politik“ zu verfügen.

Einwanderungsland und Abwanderungsgesellschaft

Während sich die Bundesrepublik immer mehr zu einem Einwanderungsland entwickelte, überwogen bei der DDR bis zum Mauerbau die Kennzeichen einer Abwanderungsgesellschaft. Die Folgen der „Republikflucht“ waren fatal und konnten nicht mehr ausgeglichen werden. Das hing nicht nur mit der fehlenden Attraktivität des kommunistischen Gesellschaftsmodels für Westdeutsche zusammen, sondern auch mit der Unfähigkeit des Regimes, dem Fachkräftemangel durch eine gezielte Einwanderungspolitik aus den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft zu begegnen. Hier überwogen offenbar die manischen Sicherheitsinteressen Ost-Berlins und die Rücksichtnahme auf die sowjetische Hegemonialmacht. Die Überalterung der DDR-Gesellschaft, die schon in den 1960er-Jahren einen höheren Rentnerinnen- und Rentneranteil aufwies als alle anderen Indus­trienationen, war nicht mehr zu stoppen.

Gleichzeitig muss aber darauf hingewiesen werden, dass in der Bundesrepublik die beträchtliche Immigration – auf die Geflüchteten und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten folgten die aus der DDR Geflüchteten und schließlich die sogenannten Gastarbeiter – mit einem Unterschichtungsprozess verbunden war. Viele konnten die in der alten Heimat angestammte soziale Position oftmals nicht mehr halten und mussten bei der Berufswahl minderqualifizierte Tätigkeiten aufnehmen. Erst der nachrückenden zweiten bzw. dritten Generation boten sich soziale Aufstiegschancen.

QuellentextEinwanderungspolitik in Ost und West

Einwanderungspolitik in der Bundesrepublik

[…] Das erste Anwerbeabkommen [für sogenannte Gastarbeiter] wurde 1955 mit Italien geschlossen, 1960 folgten Spanien und Griechenland, 1961 dann die Vereinbarung mit der Türkei. Bis 1968 wurden weitere Abkommen mit Marokko, Portugal, Tunesien und dem damaligen Jugoslawien geschlossen. Die jeweiligen Regelungen unterschieden sich, machten jedoch deutlich, dass es sich auf dem Papier lediglich um einen Zuzug auf Zeit handeln sollte – woraus sich später der Begriff der „Gastarbeiter“ (damals noch nicht gegendert) etablierte. […]

Der Zuwachs an Arbeitskräften aus dem Ausland, vor allem ausgelöst durch die Anwerbeabkommen, wird bei einem Blick in die Statistik deutlich: Während 1961 gerade einmal rund 1,2 Prozent und damit 686.200 Menschen der in Deutschland Lebenden aus dem Ausland kamen, waren es 1970 bereits 4,9 Prozent mit rund 2.976.500 Menschen, 1980 schließlich 7,2 Prozent mit 4.453.300 Menschen. Bei all dem darf etwas Wesentliches nicht vergessen werden: Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Leben. Vereint ergeben sich unzählige Geschichten voller Schwierigkeiten, Kämpfe, Ausgrenzungen, Enttäuschungen – aber auch von Erfolgen.

Es sind die Erfahrungsberichte über Generationen hinweg, die davon zeugen, welche Tragik und langfristigen Folgen die Trennung von Familie oder das Zurücklassen der Kinder in der Heimat hatte. Die Zeit in Deutschland war geprägt von harter Arbeit, ob am Fließband in Fabriken oder unter Tage. Die Lebensbedingungen waren meist sehr einfach. In Sammelunterkünften oder Wohnheimen gab es kaum Privatsphäre und wenig Anknüpfungspunkte zu Deutschen. Hier existierten stereotype und rassistische Vorbehalte ge­genüber den „Südländern“. Auch die Vorstellungen vieler „Gastarbeiter*innen“ vom Leben in Westdeutschland erwiesen sich oft als nichtzutreffend. Sprachkurse zum Erlernen der deutschen Sprache, unabdingbar für den Abbau vieler Hürden, waren meist nicht vorgesehen. […]

Die ersten Arbeitsverträge endeten – gemäß der Vereinbarung – meist nach zwei Jahren und sollten dann zur Rückkehr in das Herkunftsland führen. Doch einige bauten sich ein neues Leben in der BRD auf und holten ihre Familien nach. Die erworbenen beruflichen Fähigkeiten wurden meist weiterhin sinnvoll eingesetzt und vor allem auch gebraucht. […] Die vorgesehene begrenzte Beschäftigungsdauer wurde deshalb nicht lange beibehalten.

Der Großteil der Arbeitskräfte aus dem Ausland blieb jedoch nicht langfristig in Westdeutschland. Insgesamt ließ sich nur rund ein Fünftel und damit gut drei Millionen von insgesamt rund 14 Millionen „Gastarbeiter*innen“ dauerhaft in der BRD nieder. Mit dem neuen Ausländergesetz von 1965 war der legale Aufenthalt rechtlich möglich, was jedoch weder eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis noch eine Einbürgerung bedeutete. Erst im Jahr 2000 wurde durch das neue Staatsangehörigkeitsgesetz für viele „Gastarbeiter*innen“ und ihre hier geborenen Kinder die tatsächliche Einbürgerung bzw. die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit möglich. […]

Einwanderungspolitik in der DDR

Viele der Erfahrungen im damals geteilten Deutschland lassen sich auch auf die DDR übertragen. Etwas später als in der BRD, von 1967 bis 1986, wurden dort ähnliche Abkommen mit anderen sozialistischen Staaten wie Ungarn, Vietnam, Kuba oder Mosambik geschlossen. Im offiziellen Sprachgebrauch als „ausländische Werktätige“ oder später als „Vertragsarbeiter“ bezeichnete Arbeitskräfte wurden für einen klar begrenzten Zeitraum von zwei bis fünf Jahren zur Unterstützung geholt. Wie im Westen konnten und sollten sie Fachwissen erwerben und bei der Rückkehr in die Heimat ihre neuen Kenntnisse für die dortige Wirtschaft effizient einsetzen. Ähnlich wie in der BRD klafften hier große Lücken zwischen Anspruch und Realität, die meisten „Vertragsarbeiter*innen“ wurden schlichtweg als günstige Arbeitskräfte ausgenutzt.

Während im Westen in den 1960er und 1970er Jahren die höchste Einwanderungsquote zu verzeichnen ist, erreichte die befristete Arbeitsmigration in die DDR erst Ende der 1980er Jahre – also vor dem Mauerfall – ihren Höhepunkt. Die Anzahl der Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund wird im Jahr 1989 mit 91.000 bis 94.000 beziffert. Für den Zeitraum zwischen 1971 und 1989 schätzt man 150.000 bis 200.000 Personen. Der Anteil an ausländischen Menschen in der gesamten DDR war jedoch nie höher als ein Prozent, womit unterschiedliche Kulturen dort deutlich weniger sichtbar waren als im Westen.

Im Osten wurden die Zugezogenen zudem noch strikter von den inländischen Einwohner*innen separiert und mit mehr Verboten belegt. Der Kontakt sollte auf das Nötigste bei der Arbeit reduziert und ansonsten unterbunden werden. Das Leben der „ausländischen Werktätigen“ spielte sich daher vor allem zwischen Arbeit und Wohnheim ab. […] Ausgrenzung und Rassismus waren auch in der DDR an der Tagesordnung. Die Arbeiter*innen blieben oft nach Nationalitäten getrennt unter sich. Der Nachzug der Familie war untersagt. Beziehungen mit Deutschen oder gar Schwangerschaften konnten eine Abschiebung zur Folge haben. Auch nach der Wende wurden binationale Familien – die es natürlich trotz dieser Verbote gab – häufig von staatlicher Seite nicht gleichwertig behandelt, getrennt oder abgeschoben. […]

Textauszug aus Lena Hofer, Anwerbeabkommen der BRD und ihre Folgen: Ein Blick zurück, in: Heike Zech (Hg.): Horizonte. Geschichten und Zukunft der Migration/Horizons. Histories and Futures of Migration, Nürnberg 2023, S. 222–237

Popkultur und Blick nach Westen

Beatgruppen in der DDR

Trotz unterschiedlicher Entwicklung in Ost- und Westdeutschland nach dem Mauerbau gab es auch Gemeinsamkeiten in bei­den Gesellschaften. Das betraf etwa die westlich geprägte Jugend- und Popkultur, die die Heranwachsenden in beiden deutschen Staaten miteinander verband. Auch in der DDR etablierte sich eine kleine, in Ansätzen eigenständige Musikszene, die von den Machthabern argwöhnisch beobachtet wurde. Zu den ersten Beatgruppen gehörten das bereits 1959 gegründete Franke-Echo-Quintett, die Sputniks sowie die Butlers, die nach einem Auftrittsverbot 1962 aus der Klaus Renft Combo hervorgingen.

Daneben gab es noch zahlreiche Amateurbands, denen es vor allem um die Artikulation eines non-konformen Lebensgefühls ging. Dabei verriet die Namensgebung schon die Blickrichtung nach Westen. Die ostdeutschen Bands ließen sich von westlicher Musik, aber auch von neuen musikalischen Trends aus den USA und Großbritannien inspirieren, die über das Radio rasch im Land bekannt wurden. So hatte der US-amerikanische Soldatensender AFN (American Forces Network) viele ostdeutsche Hörerinnen und Hörer. Ein weiterer wichtiger Vermittler war der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), der durch seine Musiksendungen ebenfalls eine vergleichsweise breite Jazz-, Blues- und Rock ‘n‘ Roll-Rezeption in der DDR ermöglichte. Schließlich ging das ostdeutsche Plattenlabel Amiga auf die Musikwünsche ein und veröffentlichte im Frühjahr 1965 eine Lizenz-LP mit Hits der Beatles.

Kulturpolitische Offenbarung: das SED-Kahlschlagplenum 1965

Gegen die heimliche Verwestlichung der DDR-Jugend, die sich auch in der Adaption der westlichen Jeansmode niederschlug, fand die SED-Führung nie ein wirksames Gegenmittel. Daran konnte auch der kulturpolitische „Kahlschlag“ Ende 1965 nichts ändern, der die zaghafte Liberalisierung im Kunst- und Kulturbetrieb im Keim erstickte. In der Parteiführung mehrten sich die Stimmen, die vor den angeblichen Auswüchsen der westlichen Pop- und Beat-Kultur warnten und ein Übergreifen auf die ostdeutschen Jugendlichen befürchteten.

Als am 15. September 1965 aufgebrachte Teenager nach einem Konzert der Rolling Stones in der West-Berliner Waldbühne randalierten, zog das Politbüro die Reißleine. Die bis dahin eher wohlwollende offizielle Beurteilung des Beat wich einer massiven Ablehnung. In Leipzig verboten die Behörden innerhalb weniger Wochen 44 der insgesamt 49 registrierten Amateurbands.

Daraufhin trafen sich am 31. Oktober mehrere hundert Menschen im Zentrum der Messestadt, um gegen das Verbot zu protestieren. Die Volkspolizei griff rigoros durch und verhaftete 267 Personen, die teilweise zu mehrwöchiger Zwangsarbeit verurteilt wurden.

Die sogenannten Beat-Krawalle sorgten in Ost-Berlin für helle Aufregung. Die Parteiführung besiegelte den Anti­beatkurs offi­ziell auf der 11. Tagung des ZK der SED im Dezember 1965 („Kahlschlagplenum“), deren Beschlüsse nicht nur für die Unterhal­tungsmusik in der DDR weitreichende Folgen hatte. In das Fadenkreuz der Kritik gerieten auch der Liedermacher Wolf Biermann, der Schriftsteller Stefan Heym und der Naturwissenschaftler Robert Havemann. Die SED-Spitze ließ Kinofilme (z. B. „Spur der Steine“, „Das Kaninchen bin ich“), Theaterstücke (Heiner Müllers „Der Bau“) und den populären Jugendsender DT 64 auf den Index setzen.

Eigensinniges Verhalten: Popbands im ostdeutschen Alltag

Obwohl die Staatsmacht mit massivem Druck vorging und Auftrittsverbote erteilte, konnte sie nicht verhindern, dass sich Musikgruppen und Fans in Nischen des Alltags zurückzogen. Auftritte wurden als Privatveranstaltungen getarnt und so der offiziellen Genehmigungspflicht entzogen. Das eigensinnige Verhalten zeigte sich ferner in der Umbenennung der englischen in deutsche Gruppennamen, um nicht ins Visier der Sicherheitsorgane zu geraten. Die Hippie-Kultur, die mit dem legendären Woodstock-Festival 1969 ihren Höhepunkt erreichte, fiel auch in der DDR auf fruchtbaren Boden und beeinflusste den Lebensstil vieler Jugendlicher.

QuellentextPunks in der DDR

[…] Anfang der 80er-Jahre tummelten sich zwischen Sassnitz und Suhl die ersten Punks und Bands in der DDR. Über Westradio und Westfernsehen waren die meisten Jugendlichen in der DDR über sämtliche Trends und Jugendkulturen bestens im Bilde. Verwandte schmuggelten Musikzeitschriften bei ihren Westbesuchen in den Osten, und auch Schallplatten fanden ihren Weg über die Mauer. Doch den einheits­sozia­listischen Machthabern in der DDR waren Punks, deren Ideologie und Musik ein Dorn im Auge. Punker wurden vom Ministerium für Staatssicherheit als „negativ-dekadente Jugendliche“ eingestuft und verfolgt.

Viele Punkkonzerte gab es nicht. Jede Band, die in der DDR in öffentlichen Clubs auftrat, musste vorher eine „Einstufung“ machen. Vor einer Kommission aus staatlichen Aufpassern musste aufgezeigt werden, dass die Musiker ihre Instrumente beherrschten und dem Bild aufgeschlossener sozialistischer Menschen entsprachen. Das kam für keine echte Punk-Band in Frage, ihre Musik war ein klares Statement – gegen den Staat.

Deshalb erschien die erste Punkplatte der DDR nicht in der DDR, sondern in Westberlin. Das Album war eine Split-LP der Bands Schleimkeim (SK) und Zwitschermaschine. Die Thüringer Punk-Band Schleimkeim nannte sich aus Gründen der Tarnung auf der LP Saukerle. […]

„Alles ist rot“, „Scheiß Norm“, „Untergrund ist Strategie“, „Spione im Café“, „Ende“, „Haushaltsgeräte“, „Frankreich“ heißen die Titel der B-Seite, die SK in einer knappen Stunde aufnahmen. Besonders der SK-Hit „Spione im Café“ begeisterte die Punker in der DDR. Es geht darin um böse Stasi-Spitzel, die dem Protagonisten des Songs nicht gefallen und ihm Schmerzen „von der Schnauze bis zum Zeh“ verursachen. Im Titel „Scheiß Norm“ wird auf brachiale Art die tägliche Fron am Fließband beanstandet, „Alles ist rot“ ist eine komplexe Allegorie auf von der Volkspolizei gejagte und verprügelte Punkrocker. „Untergrund ist Strategie“ scheint eine Art Aufruf zur Revolution, während sich die ruppigen Lieder „Ende“, „Haushaltsgeräte“, „Frankreich“ dem Punkersein in der DDR im Allgemeinen und Besonderen widmen. Nur wenige Exemplare der LP erreichten den Osten. […]

Frank Willmann, „Wie man in einer Diktatur rebelliert“, in: Fluter vom 23. November 2016. Online: Externer Link: https://www.fluter.de/anarchy-in-the-gdr

Kontinuitäten und Brüche: der Umgang mit dem NS-Erbe

Der politische Wandel, der in der Bonner Republik 1969 mit der Wahl Willy Brandts (SPD) zum Bundeskanzler endgültig vollzogen wurde, hatte mit dem Ende der Regierungszeit Adenauers 1963 begonnen und fand vor dem Hintergrund einer sich wandelnden und kritischeren Öffentlichkeit statt. Die „Spiegel-Affäre“ (siehe Abschnitt "Interner Link: Spiegel-Affäre 1962" in diesem Kapitel) hatte 1962 nicht nur zur Mobilisierung großer Bevölkerungsteile beigetragen, sondern auch die Rolle der Medien als vierte Gewalt im Staat langfristig gestärkt.

Der Generationenwechsel veränderte die politische Kultur der Bundesrepublik dauerhaft. Anknüpfend an die Kampf-den-Atomtod-Bewegung in den 1950er-Jahren entwickelte die Studentenbewegung neue Formen des Protests gegen die heftig umstrittene Notstandsgesetzgebung, der nicht immer friedlich blieb und den westdeutschen Staat herausforderte. Darin nur ein bundesdeutsches Phänomen zu sehen, wäre aber zu kurz gegriffen. Denn die Studentenunruhen, die sich primär am Krieg der USA in Vietnam entzündeten, erfassten nahezu alle Staaten Westeuropas und Nordamerikas.

NS-Vergangenheit im Systemwettstreit

In der Bundesrepublik kam als weiterer Faktor die Auseinandersetzung über die NS-Vergangenheit zahlreicher Politiker und Juristen hinzu, die das SED-Regime durch gezielte Veröffentlichungen politisch zu instrumentalisieren suchte. Das 1965 in Ost-Berlin erstmals erschienene „Braunbuch“ listete die SS-Dienstränge und NS-Parteiämter von rund 1800 Wirtschaftsführern, Politikern und führenden Beamten der Bundesrepublik auf. Im Zentrum der Anfeindungen standen der Vertriebenenminister Theodor Oberländer (CDU, 1905–1998) und sein späterer Nachfolger Hans Krüger (CDU, 1902–1971) sowie der Chef des Bundeskanzleramts Hans Globke (CDU, 1898–1973). Das politische Bonn versuchte, die meist zutreffenden Vorwürfe aus Ost-Berlin als plumpe kommunistische Propaganda abzutun, und konterte mit einer eigenen Aktion gegen „Nazis in der DDR“.

Ulmer Einsatzgruppenprozess als Wendepunkt

Am Ende der Ära Adenauer rückten die Verbrechen NS-Deutschlands – insbesondere die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden – in den Mittelpunkt der Medienöffentlichkeit. Eine Vorreiterrolle spielte zunächst der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, der sich gegen Mitarbeiter der Gestapo, des Sicherheitsdienstes (SD) und der Ordnungspolizei richtete, die im Zweiten Weltkrieg am Massenmord an den Jüdinnen und Juden im Baltikum beteiligt waren. Die zehn Angeklagten wurden wegen „Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord“ in 315 bis 3907 Fällen zu Haftstrafen zwischen drei und 15 Jahren verurteilt.

Der Prozess, der nicht nur das Ausmaß der Verbrechen, sondern auch die Versäumnisse der bisherigen Strafverfolgung aufdeckte, gilt als Wendepunkt in der justiziellen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Eine unmittelbare Folge war im selben Jahr die Errichtung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen mit Sitz in Ludwigsburg (kurz: Ludwigsburger Zentrale Stelle), die mit ihren Vorermittlungen die Grundlage für die weitere strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen legte.

Weitere Prozesse und Bonner Verjährungsdebatten

Drei Jahre später erregte der Eichmann-Prozess in Jerusalem große internationale Aufmerksamkeit. Dabei wurde der frühere SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der zuvor von Zielfahndern des israelischen Geheimdienstes Mossad in einer spektakulären Aktion in Argentinien festgenommen und nach Israel entführt worden war, wegen seiner maßgeblichen Beteiligung am Holocaust zur Verantwortung gezogen. Eichmann hatte im Reichssicherheitshauptamt während des Zweiten Weltkrieges die Deportation und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden organisiert.

1963 folgte der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess, der wesentlich vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorbereitet worden war. Auf der Anklagebank saßen Mitglieder der Lagerleitung und des Wachpersonals des NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers.

Die genannten Prozesse müssen auch vor dem Hintergrund der bundesdeutschen Debatte um die 1965 anstehende Verjährung aller vor 1945 begangenen Kapitalverbrechen gesehen werden. Nach einer intensiv geführten Debatte fand sich im Bundestag ein mehrheitsfähiger Kompromiss, der eine Verlängerung der Frist für zunächst vier Jahre vorsah. Nach einer weiteren Fristverlängerung beschloss das Bonner Parlament 1979, die Verjährung für Mord endgültig aufzuheben.

QuellentextMord verjährt nicht

Es bedurfte zwischen 1960 und 1979 insgesamt vier Kontroversen im Bundestag, bis die Unverjährbarkeit von Mord beschlossen wurde. Dadurch blieb die Kontinuität juristischer Verfolgung und Sanktionierung der in der NS-Zeit verübten Morde gewährleistet. Was innenpolitisch im Ergebnis als Glanzleistung parlamentarischer Demokratie gefeiert wurde, galt im Ausland als längst überfällige Notwendigkeit.

Als am 8.5.1960 von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt die in der NS-Zeit verübten Totschlagsdelikte verjährten, hatte sich das Parlament noch nicht zu einer Verlängerung der entsprechenden Fristen entschließen können. Rechtzeitig im März 1960 hatte die SPD einen Gesetzesentwurf eingebracht, der den Ablauf der Verjährungsfrist um die vier Jahre der alliierten Besetzung Deutschlands verschieben sollte. Die Bundesregierung folgte in der Sitzung vom 24.5.1960 jedoch dem Ablehnungsantrag des Rechtsausschusses und begründete dies in einer kurzen Debatte damit, dass mit dem SPD-Entwurf einerseits gegen das in Artikel 103 Abs. 2 GG festgelegte Rückwirkungsverbot verstoßen würde und andererseits ohnehin die schwersten Vergehen als Mord zu qualifizieren seien. Genau 20 Jahre nach Kriegsende, am 8.5.1965, drohte schließlich auch die Verjährungsfrist für Mord auszulaufen. Im November des Vorjahres beschloss die damalige Bundesregierung unter Kanzler Ludwig Erhard (CDU), keinen Gesetzesentwurf zur Fristverlängerung im Parlament einzubringen. Für alle noch anhängigen Verfahren war der Ablauf der Verjährungsfrist gestoppt, mit weiteren Prozessen wurde nicht gerechnet. Als außenpolitische Vorsichtsmaßnahme wurde jedoch an „alle Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen im In- und Ausland“ der Aufruf entsandt, möglicherweise vorhandenes Material zur Aufklärung der NS-Verbrechen der Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfügung zu stellen.

Die Resonanz war unerwartet groß. Mehrere Länder des Ostblocks, darunter auch die DDR, signalisierten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit und verwiesen auf umfangreiche Archivbestände. Die DDR hatte bereits 1962 angeboten, entsprechende Dokumente zur Verfügung zu stellen. Damals wurde das Angebot als propagandistische Aktion zurückgewiesen. Im Februar 1965 reisten Staatsanwälte zunächst nach Polen, um erste Dokumente auszuwerten. Angesichts der am 8.5. ablaufenden Verjährungsfrist wurde schnell die Unmöglichkeit des Unterfangens deutlich, noch rechtzeitig sämtliche Ermittlungen aufzunehmen, um alle Verfahren fristgerecht einleiten zu können. Nachdem sowohl die CDU als auch die SPD einen Gesetzesentwurf vorgelegt hatten, der jeweils die Nichtverjährbarkeit von Mord vorsah, kam es zu zwei leidenschaftlich geführten Plenardebatten, die als „Sternstunden des Parlaments“ in die Geschichte eingingen. […]

Die beiden Debatten vom 10. und 25.3.1965 führten zu einem dürftigen Ergebnis. Das neue „Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen“ bestimmte den 1.1.1950 als Fristbeginn für diejenigen NS-Verbrechen, welche mit lebenslangem Zuchthaus zu sanktionieren waren. Somit wurde der Ablauf der Frist lediglich auf den 31.12.1969 verschoben.

Auch 1969 lehnte noch immer die Mehrheit der Deutschen eine weitere Strafverfolgung der NS-Verbrechen ab. Der außenpolitische Druck, die Strafverfolgung fortzusetzen, hatte sich jedoch durch die UNO-Konvention über die Nichtanwendbarkeit der gesetzlichen Verjährungsbestimmungen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstärkt. […] Am 26.6.1969 beschloss der Bundestag mit mehr als zwei Dritteln aller abgegebenen Stimmen das 9. Strafrechtsänderungsgesetz. Alle Verbrechen, die mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet werden konnten, sollten fortan erst nach 30 Jahren verjähren.

Die Kritiker dieser Entscheidung, die darin nur eine Aufschiebung, jedoch keine Problemlösung erkannten, sollten Recht behalten. Angesichts der zum 31.12.1979 auslaufenden Verjährungsfrist kam es 1979 zur letzten großen Bundestagsdebatte über die rechtliche Behandlung nationalsozialistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Politiker zahlreicher Staaten hatten zuvor an die Bundesrepublik appelliert, die NS-Verbrechen nicht verjähren zu lassen. Abgeordnete der CDU, der SPD und auch der FDP brachten entsprechende Anträge ein, über die am 29.3.1979 ausführlich beraten wurde. Die deutsche Öffentlichkeit solidarisierte sich nun erstmals in starkem Maße mit den Verjährungsgegnern. Wesentlichen Anteil daran hatte die deutsche Erstausstrahlung der Holocaust-Serie im Januar 1979. Die daraufhin entbrannte öffentliche Debatte mündete in die Forderung nach politischem Handeln.

Am 3.7.1979 beschloss der Bundestag mit 255 gegen 222 Stimmen die endgültige Aufhebung der Verjährung von Mordverbrechen.

Antje Langer, Verjährungsdebatten, in: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2015, S. 215–217

„Antifaschismus“: von oben verordnet

Die SED legitimierte ihre Herrschaft zu einem wesentlichen Teil mit der Parole vom „Antifaschismus“. Damit grenzte sie sich vom Nationalsozialismus und von der Bundesrepublik gleichermaßen ab. In der DDR waren aus kommunistischer Sicht mit der Boden- und der Industriereform die Wurzeln des Faschismus beseitigt. Dieses Narrativ gestattete es den Machthabern in Ost-Berlin, das Problem des Nationalsozialismus nach außen zu verlagern – und zwar in die Bundesrepublik. Die Bonner Republik, die sich zudem in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches sah, konnte so als Hort von „Kriegs- und Naziverbrechern“ diffamiert werden. Dabei diente die Elitenkontinuität in Westdeutschland als Beleg.

In der Tat: In der Bundesrepublik waren während der ersten Hälfte der 1950er-Jahre immer mehr Beamte in Ministerien und Ämtern eingestellt worden, die schon während der NS-Zeit in staatlichen Stellen gearbeitet bzw. NS-Organisationen angehört hatten. Der Anteil politisch Belasteter stieg teilweise bis Anfang der 1960er-Jahre noch weiter an. So lag die Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder in manchen Abteilungen des Bundesjustizministeriums zeitweilig bei über 70 Prozent.

Dagegen überwogen in der DDR zweifelsohne die personellen Brüche, was aber auch darauf zurückzuführen war, dass ein Großteil des NS-belasteten Personals bereits frühzeitig in den Westen geflüchtet war. Während die SED nach außen hin am „Antifaschismus“ als Staatsräson festhielt, entwickelte sie intern einen pragmatischen Umgang mit der NS-Vergangenheit. So stieg unter den ZK-Mitgliedern die Zahl früherer NSDAP-Mitglieder bis Mitte der 1950er-Jahre auf nahezu zehn Prozent an. Im Ministerium für Kohle und Energie hatten 1957 immerhin 15,3 Prozent der Mitarbeiter in der mittleren Leitungsebene das Parteibuch der NSDAP besessen. Allem Anschein nach war Ost-Berlin in diesem für die Sicherung der Energieversorgung sensiblen Bereich auf Experten angewiesen, die als NS-belastet galten. Im ostdeutschen Innenministerium betrug der Anteil ehemaliger Parteigenossen sogar 14 Prozent.

In Einzelfällen waren schon in der SBZ außergewöhnliche Karrieren möglich: So erhielt Rolf Wagenführ, der als Leiter der Statistikabteilung in Albert Speers Rüstungsministerium wichtige Vorarbeiten für die NS-Kriegsführung geliefert hatte, nach 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht den Auftrag, das Statistische Zentralamt in Ost-Berlin aufzubauen. Wagenführ ging später in den Westen und wurde 1958 erster Generaldirektor des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaft (später Eurostat). Der promovierte Ernährungswissenschaftler Wilhelm Ziegelmayer, der im Zweiten Weltkrieg für das Oberkommando der Wehrmacht Gutachten für die systematische Aushungerung Leningrads (heute Sankt Petersburg) erstellt hatte, war nach 1945 eineinhalb Jahre Vizepräsident der Deutschen Verwaltung für Handel und Versorgung in Ost-Berlin und anschließend Professor an der Humboldt-Universität.

Karrieren waren auch später in der DDR durchaus möglich: Erich Apel, der von 1963 bis zu seinem Selbstmord Ende 1965 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission war, hatte zwar nie das Parteibuch der NSDAP besessen, war allerdings ab 1943 als technischer Leiter an der Produktion der V-2-Raketen beteiligt gewesen. Für die Raketenproduktion wurde der Einsatz von KZ-Häftlingen bewusst in Kauf genommen. Wie erklärt sich nun sein rasanter Aufstieg in der ostdeutschen Wirtschaftsverwaltung? Zwei Gründe waren ausschlaggebend: Erstens griff Ulbricht Anfang der 1960er-Jahre auf angeblich unpolitische und nur wissenschaftlichen Prinzipien folgende Technokraten zurück, um Verkrustungen in der Planungsbürokratie aufzubrechen. Zweitens hatte die sowjetische Besatzungsmacht Apel unmittelbar nach Kriegsende als Spezialisten für das sowjetische Raketenprogramm rekrutiert. Dabei spielte der dunkle Fleck in Apels Biografie, der für Moskau und Ost-Berlin ein offenes Geheimnis war, keine Rolle.

Bundesrepublik und DDR als postnazistische Gesellschaften

Auch wenn sich die Frage nach der Elitenkontinuität in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich stellte, so gab es doch eine Gemeinsamkeit: die mentalen Kontinuitäten in der Bevölkerung nach 1945. Der Nationalsozialismus war in der deutschen Gesellschaft tief verwurzelt. Das betraf nicht nur die etwa 8,5 Millionen Parteimitglieder, über die die NSDAP gegen Kriegsende noch verfügte, sondern auch die Masse derjenigen, die mit dem NS-Regime sympathisiert und von diesem profitiert hatte. Die sich daraus ergebenden Einstellungen bzw. Prägungen verschwanden nicht schlagartig mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern wirkten noch länger nach. Insofern war auch die DDR eine „postnazistische Gesellschaft“ (so die britische Historikerin Mary Fulbrook).

Auf diese Herausforderung musste auch Ost-Berlin reagieren. Beide deutsche Staaten waren letztlich gezwungen, Integrationsangebote zu unterbreiten, um das jeweilige politische System zu stabilisieren. Während sich jedoch in den 1960er-Jahren in der Bonner Republik eine offene und kontroverse Debatte über den Umgang mit dem NS-Erbe entwickelte, führte der von oben verordnete „Antifaschismus“ dazu, dass in der DDR eine gesellschaftliche Auseinandersetzung weitgehend ausblieb.

Antisemitismus in Ost und West

Mit dem Untergang des NS-Regimes 1945 verschwand der immer schon vorhandene, tiefverwurzelte Antisemitismus in Deutschland nicht von der Bildfläche. Er blieb unterschwellig vorhanden, und zwar in beiden deutschen Staaten. Als der frühere Generalsekretär der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, Rudolf Slánský, und zehn weitere Angeklagte im Zuge einer antizionistischen Kampagne im November 1952 in Prag als angeblicher Leiter bzw. Mitglieder eines „staatsfeindlichen Verschwörungszentrums“ verurteilt und wenig später hingerichtet wurden, drohte in der DDR ein Schauprozess gegen Paul Merker und Franz Dahlem. Merker wurde angeklagt und als „zionistischer Agent“ diffamiert, weil er sich als einziges Mitglied des SED-Politbüros für das Existenzrecht Israels und für die Rückerstattung „arisierten“ Vermögens eingesetzt hatte. Der geplante Schauprozess kam aufgrund des Todes Stalins nicht mehr zustande. Anfang der 1950er-Jahre flohen mehrere Hundert jüdische DDR-Bürgerinnen und -Bürger in den Westen, weil sie sich in der DDR nicht mehr sicher fühlten.

In der Bonner Republik zeigten Meinungsumfragen regelmäßig, dass antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung immer noch weit verbreitet waren. Am Heiligabend 1959 beschmierten zwei Mitglieder der rechtsextremen Deutschen Reichspartei (DRP) die kurz zuvor wiedereröffnete Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen. Es folgte eine Welle mit antisemitischen Schmierereien in der ganzen Bundesrepublik. Bei der Bundestagswahl 1969 verpasste die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) den Einzug ins Bonner Parlament nur knapp.

Am 9. November 1969 deponierte eine linksradikale Gruppe während einer Gedenkveranstaltung zum 31. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus in Berlin-Charlottenburg, die wegen eines defekten Zeitzünders nicht detonierte. Am 19. Dezember 1980 wurden der Verleger und Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke von einem Neonazi in Erlangen ermordet. Während die Anschläge auf Jüdinnen und Juden und jüdische Einrichtungen eine öffentliche Debatte in der Bonner Republik über Antisemitismus und die nationalsozialistische Vergangenheit auslösten, kehrten die Machthaber in Ost-Berlin das Thema unter den Teppich. Der Schein des „Antifaschismus“ sollte unter allen Umständen gewahrt bleiben.

Prof. Dr. Dierk Hoffmann (geb. 1963) ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Seit 2017 leitet er das Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte der SBZ/DDR, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die Transformationsgeschichte sowie die Biografieforschung.