Die zehnten Direktwahlen zum Europaparlament im Juni 2024 stehen vor allem im Kontext globaler und europapolitischer Veränderungen. Wenngleich die EU in den vergangenen Jahren als regulative Kraft und Krisenmanagerin zunehmend an Bedeutung gewann und die Europawahlen im Jahr 2019 zum ersten Mal einen Anstieg in der Wahlbeteiligung verzeichneten, konnte das Europäische Parlament in der vergangenen Legislaturperiode nicht immer seinen Einfluss geltend machen.
Auf globaler Ebene haben neue Krisen und Kriege, allen voran der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas, die EU als geopolitische Akteurin stärker in den Vordergrund gerückt. Darüber hinaus stand die Legislaturperiode vor allem unter dem Einfluss der Coronavirus-Pandemie. Ein Blick auf die Rolle des Parlaments in den unterschiedlichen Krisen zeigt, dass die europäische Reaktion oftmals durch den Rat und die Kommission dominiert war. Das EP hingegen wurde wiederholt an den Rand gedrängt und war vor allem in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik oftmals nur Zuschauer von der Seitenlinie.
Gleichzeitig fallen die kommenden Europawahlen in ein Superwahljahr, in dem auch im Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten wichtige Wahlen anstehen. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die Diskussion um externe Einflussnahme, zum Beispiel durch Desinformation, weiter an Fahrt gewinnt. Es besteht die Sorge, dass ausländische Akteure, insbesondere autoritäre Länder wie Russland, China und der Iran, versuchen könnten, die EU-Wahlen 2024 durch Fake-News-Kampagnen, verdeckte Finanzierungen und andere Mittel zu beeinflussen. Der Korruptionsskandal um die politische Einflussnahme aus Katar und Marokko hat nicht zuletzt die internen Schwächen der EU aufgezeigt und das Vertrauen in das EP als Vorreiter im Kampf gegen Korruption stark erschüttert.
QuellentextGefahr durch russische Fake News vor der Europawahl 2024
„Hoffentlich habe ich Ihnen allen Angst eingejagt.“ Mattia Caniglia lächelt, als er das sagt. Aus dem Publikum sind vereinzelte Lacher zu hören, aber wirklich lustig findet es wohl niemand, was der Forscher der Denkfabrik Atlantic Council gerade erklärt hat. Zu ernst ist das Thema, um das es geht.
Zwanzig Minuten hat Caniglia vergangene Woche [Dezember 2023] auf der Bühne des European Policy Centers in Brüssel darüber gesprochen, wie China und Russland mithilfe von Fake News und Cyberattacken versuchen, Wahlen zu beeinflussen. Caniglia geht es vor allem um eine der wichtigsten Entscheidungen des kommenden Jahres: die Europawahl. Im Juni wählen die Bürgerinnen und Bürger der 27 EU-Staaten 720 Abgeordnete, die ins Europaparlament einziehen, und fünf Jahre lang für zahlreiche Gesetze mitverantwortlich sein werden.
Die Wahl fällt in eine Zeit, in der Rechtspopulisten auf dem Vormarsch sind, in der die AfD in Ostdeutschland stärkste Kraft werden könnte und in der rechtsnationale Politiker wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán die EU vor Zerreißproben stellen. Russland und China, so warnen Experten wie Caniglia, könnten diese Lage ausnutzen, um die Europäische Union zu destabilisieren. Das Parlament selbst sprach bereits im Sommer eine Warnung aus. Im Vorfeld der Wahl seien eine vermehrte Einflussnahme aus dem Ausland, mehr Desinformation und zunehmende Angriffe auf die Demokratie zu erwarten, hieß es in einem Bericht. Die federführende lettische Konservative Sandra Kalniete warnte vor einer „wachsenden Bedrohung“ für die Sicherheit der EU und ihrer Mitgliedsländer. Das Parlament verlangte eine koordinierte Strategie gegen Desinformation. […]
Federica Marconi von der italienischen Denkfabrik Istituto Affari Internazionali hat Desinformationstrends in Deutschland, Bulgarien und Italien untersucht. Demnach wurden bei Desinformationskampagnen Fake News zu Themen wie Russlands Krieg gegen die Ukraine, Flüchtlingen oder der Energiekrise gestreut. Die Auswirkungen auf die kommenden EU-Wahlen könnten „erheblich“ sein, da sie polarisierende Themen ansprächen, die die Stimmung der Wähler beeinflussen könnten, betont Marconi. „Desinformation hat auch das Potenzial, die öffentliche Unterstützung für die EU und die nationale Politik zu untergraben.“
Ein Beispiel: Mitte Mai 2022 teilten deutschsprachige User auf Facebook, Twitter und Telegram die Behauptung, ukrainische Geflüchtete würden in Deutschland Rente erhalten, ohne jemals in das Rentensystem eingezahlt zu haben. Zehntausende Menschen sahen die Posts. Als Quelle wurde laut Nachrichtenagentur AFP eine angebliche E-Mail an Mitarbeitende der Jobcenter angeführt. Diese E-Mail hat es allerdings laut Bundesagentur für Arbeit nie gegeben. Andere Fake News verbreiteten den Experten zufolge russische Kriegspropaganda, etwa dass die Ukraine „denazifiziert“ werden müsse oder dass Europa einen Winter ohne russisches Gas nicht überstehen werde.
In anderen Fällen imitierten gefälschte Websites die Angebote von etablierten Medien wie „FAZ“, „Tagesspiegel“, „Bild“-Zeitung, „T-Online“ und auch des SPIEGEL, um russische Propaganda zu verbreiten. Die Fälschungen wirkten noch vergangenes Jahr plump, werden aber immer besser – womöglich auch dank künstlicher Intelligenz. Zur Europawahl könnten solche Fake News und Fälschungen häufiger auftauchen, befürchten die Experten.
Forscher Caniglia sieht das Vorgehen als einen „Krieg um Aufmerksamkeit“, indem Tastaturen und Bildschirme ähnlich gefährlich sein könnten wie Waffen. Russland etwa warte auf öffentliche Debatten zu polarisierenden Themen, um dann Fake News zu streuen. Die Bilder oder Links werden dann von Menschen weiterverbreitet, die diesen Fake News Glauben schenken. Bei politischen Debatten gerade im Wahlkampf müsse man also mit einer gewissen Vorsicht vorgehen, so Caniglia, um Russland möglichst wenig Chancen für erfolgreiche Fake-News-Kampagnen zu geben.
[…] Daniel Caspary, Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, hält wenig davon, heikle Themen im Wahlkampf aus Angst vor russischen Fake News auszusparen. „Selbstverständlich müssen wir die Themen ansprechen, die den Menschen unter den Nägeln brennen“, sagt Caspary. Fake News, Lügen und Falschbehauptungen müsse man klar benennen. Medien, Journalisten sowie die Betreiber der großen Internetplattformen hätten eine besondere Verantwortung.
Ein weiteres Problem: Laut Caniglia werden Desinformationskampagnen teilweise auch von Cyberattacken begleitet, so wie es sie etwa 2015 im Deutschen Bundestag gab. Der deutsche Verfassungsschutz warnte schon zur Bundestagswahl 2021 in einem internen Papier vor sogenannten Hack and Leak-Kampagnen. Dabei attackieren Angreifer Computernetzwerke, erbeuten womöglich diskreditierende Daten und veröffentlichen diese dann zu einem für das Opfer ungünstigen Zeitpunkt. […]
Claudia Plattner, Chefin des Cybersicherheitsamts BSI, sagt im SPIEGEL-Interview, die Bundesrepublik stehe im Netz dauerhaft unter Beschuss. „Aus Russland werden sehr viele Ransomware-Attacken gestartet, mit denen Unternehmen und Behörden zu Lösegeldzahlungen erpresst werden“, so Plattner. Unternehmen und Behörden müssten ihre IT-Infrastruktur in Ordnung bringen.
Die Experten bei der Diskussion im European Policy Center sind sich einig: Eine europäische Strategie gegen Fake News und Desinformation müsste her. Viele Länder sollten etwa von den baltischen Staaten, Schweden oder Spanien lernen. Dort gäbe es ein größeres Problembewusstsein, zivile Arbeitsgruppen würden gemeinsam mit der Wirtschaft gegen Fake News vorgehen. Medienkompetenz in Schulen zu vermitteln, sei sehr wichtig. […]
Florian Pütz, „Warnung vor russischen Fake News zur Europawahl“, in: SPIEGEL.de vom 22. Dezember 2023. Alle Rechte vorbehalten: © SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG
Auf europapolitischer Ebene steht die politische Landschaft selbst vor einem potentiellen Umbruch. Etablierte Parteien in vielen EU-Staaten verlieren an Unterstützung, während rechtspopulistische und EU-skeptische Parteien Aufwind erfahren. Dies zeigt sich zuvorderst in einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung, die sich in Debatten über Migrationspolitik, Klimaschutz und Themen wie Geschlechtergerechtigkeit entlädt. Die zunehmende Polarisierung zwischen pro- und anti-europäischen Parteien bringt nicht nur das Selbstverständnis des EP als sogenannten Motor der Integration ins Wanken, sondern könnte sich auch auf die Handlungsfähigkeit des Parlaments sowie auf die Politik auswirken.
Denn in der Praxis ist das Europäische Parlament beides: Ein mächtiges Parlament, mit dessen Wahl die Bürgerinnen und Bürger der EU etwa über die zukünftige Klima-, Wirtschafts- oder Migrationspolitik entscheiden. So war das EP in der vergangenen Legislaturperiode an zentralen Gesetzgebungsprozessen wie dem Europäischen Green Deal und der digitalen Agenda entscheidend beteiligt. In vielen Krisenentscheidungen aber ist das EP weiterhin nur Zuschauer, neben der zweiten Säule der europäischen Demokratie, den nationalen Regierungen im Rat und dem Europäischen Rat. Diese haben etwa bei der Reaktion auf den russischen Angriffskrieg oder die Pandemie die zentralen Entscheidungen getroffen. Mit Blick auf die kommenden Europawahlen muss sich die EU daher auch mit Fragen demokratischer Legimitation und parlamentarischer Kontrolle befassen. Dazu gehört auch die Fragen, wie die EU-Führungspositionen besetzt werden und das Vertrauen in die europäische Demokratie gestärkt werden kann.
Gleichzeitig hat die Konferenz zur Zukunft Europas zusammen mit den genannten Kriegen und geopolitischen Konflikten neue institutionelle Reformdebatten in der EU angestoßen. Vor allem die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine, Moldau und perspektivisch an Georgien sowie die Wiederbelebung der Beitrittsprozesse mit den Staaten des westlichen Balkans haben der Debatte neue Dynamik verliehen. So haben Deutschland und Frankreich unlängst eine Gruppe von Expertinnen und Experten eingesetzt, um Vorschläge zur Reform der EU zu erarbeiten, wie die EU auch mit mehr als 35 Mitgliedstaaten stärker, handlungsfähiger und demokratischer gemacht werden kann.
In einer Zeit internationaler Konflikte und zunehmender europäischer Fragmentierung und Polarisierung geht es für die Bürgerinnen und Bürger bei den kommenden Europawahlen um die Frage, welches Europa sie wollen. Es liegt schließlich an den europäischen Parteien, gemeinsame Positionen zu entwickeln und den Wählerinnen und Wählern klare politische Alternativen zu bieten. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, warum es sich lohnt, an das europäische Projekt zu glauben.