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Funktionsweisen des EP: ein Überblick | Die Wahlen zum europäischen Parlament 2024 | bpb.de

Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 Editorial 45 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament: ein Überblick Funktionsweisen des EP: ein Überblick Das EP in der Praxis: die Wahlperiode von 2019 bis 2024 Ausblick Literatur- und Onlineverzeichnis Impressum
Infoaktuell Nr. 41/2024

Funktionsweisen des EP: ein Überblick

Nicolai von Ondarza Dominik Rehbaum

/ 22 Minuten zu lesen

Ziel des Europäischen Parlaments ist die demokratische Legitimation der EU. In seinem Aufbau unterscheidet es sich von anderen Parlamenten: so gibt es zwar Fraktionen, aber keine festen Koalitionen.

Das EU-Plenum dient vor allem als Ort für Aussprachen und Abstimmungen. Am 13. September 2023 hält die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen die letzte Rede zur Lage der Union in der Legislaturperiode 2019–2024. (© picture-alliance/dpa, Philipp von Ditfurth)

Wahlbestimmungen & Wahlbeteiligung

Das Europäische Parlament ist das einzige direkt von den Wählerinnen und Wählern legitimierte Organ der Union. Es ist damit Vehikel für die sogenannte Input Legitimation der EU: Gemäß EU-Vertrag haben alle Bürgerinnen und Bürger ergänzend zu ihrer nationalen Staatsbürgerschaft die Unionsbürgerschaft. Hierzu gehört unter anderem das aktive Wahlrecht – bei den Europawahlen abzustimmen – und das passive Wahlrecht – bei den Europawahlen als Kandidat oder Kandidatin für das Europäische Parlament anzutreten. Dabei spielt die einzelne Nationalität keine Rolle, solange die EU-Bürgerschaft vorliegt. Ein in Deutschland lebender Italiener, Franzose oder Pole kann daher als EU-Bürger bei der Europawahl genauso für Deutschland kandidieren wie dessen deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger; gleichermaßen kann eine in Spanien, Tschechien oder Schweden lebende Deutsche dort für die Europawahlen kandidieren. In der Praxis ist dies aber eher die Ausnahme. Es gab jedoch schon Beispiele wie den Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, der zwischen 1994 und 2014 abwechselnd in Deutschland und Frankreich für die jeweilige Grüne Partei für das EP angetreten ist und gewählt wurde.

(© https://www.wahlrecht.de/ausland/europa.htm)

Dennoch wird das EP auch weiterhin nicht einheitlich gewählt: Zwar gilt in allen EU-Staaten für die Europawahlen das Verhältniswahlrecht, das die Sitze im EP im Verhältnis zum prozentualen Anteil der abgegebenen Stimmen verteilt. Jenseits dieser gemeinsamen Regeln variieren die Wahlbestimmungen zu den Europawahlen zwischen den Mitgliedstaaten jedoch deutlich. Die Unterschiede beginnen am Tag der Abstimmung: So finden die Europawahlen vom 6. bis zum 9. Juni 2024 von Donnerstag bis Sonntag statt. Es wird aber nicht in allen Staaten die ganzen vier Tage gewählt, sondern je nachdem, an welchem Wochentag in den jeweiligen EU-Staaten traditionell gewählt wird. So sind die Europawahlen in den Niederlanden bereits Donnerstagsabend abgeschlossen – lange bevor Sonntag in Deutschland die Wahllokale öffnen. Weitere Unterschiede gibt es in den Berechnungsmethoden für die Sitzverteilung, bei Prozenthürden oder den Möglichkeiten für digitale Abstimmungsmethoden sowie Briefwahlen.

Beispielsweise darf in Österreich, Malta und 2024 erstmals auch in Deutschland bereits ab 16 Jahren gewählt werden. In Griechenland darf 2024 bereits ab 17 Jahren gewählt werden. In allen anderen Mitgliedstaaten liegt das aktive Wahlrecht hingegen bei 18 Jahren. Das passive Wahlrecht, also das Recht, sich zur Wahl zu stellen, liegt in den meisten Staaten, darunter auch Deutschland, bei 18 Jahren. In zehn Staaten liegt es bei 21 Jahren, während Rumänien das Mindestalter auf 23 Jahre datiert und sowohl Griechenland als auch Italien schreiben ein Mindestalter von 25 Jahren vor. Gleichzeitig kann niemand bei einer Wahl in mehr als einem Mitgliedsstaat als Kandidat oder Kandidatin aufgestellt werden. Darüber hinaus hat das EP wiederholt versucht, die Wahlregeln zu vereinheitlichen, zum Beispiel indem das passive Wahlrecht einheitlich auf 18 Jahre festgeschrieben wird oder eine verbindliche Sperrklausel von 3,5 Prozent für Wahlkreise eingeführt wird, in denen mindestens 60 Sitze vergeben werden. Weitere Vereinheitlichungen des Wahlrechts für Europawahlen müssen allerdings von ­allen EU-Staaten akzeptiert und umgesetzt werden, von denen einige aber ihre nationalen Besonderheiten auch bei den EP-Wahlen beibehalten wollen.

Hinsichtlich der Prozenthürde reichen die Unterschiede von 0 bis 5 Prozent. Insgesamt haben 16 Staaten landesweite Sperrklauseln. Bei kleinen Staaten wie Luxemburg ergibt sich zudem eine natürliche Sperrklausel, weil Parteien einen höheren Stimmenanteil brauchen, um einen der 6 Sitze zu gewinnen. In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht vor den Europawahlen 2014 die Prozenthürde gekippt – mit der Begründung, dass sie kleinere Parteien benachteilige und nicht mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar sei. Dieser besagt, dass jede Stimme gleiches Gewicht haben muss. Die Notwendigkeit für Regierungsfähigkeit, mit der oft eine Sperrklausel bei nationalen Wahlen gerechtfertigt wird, existiert im Kontext der EP-Wahlen nicht, da das Europaparlament ein legislatives Organ ist, das keine Regierung bildet. Stattdessen solle das EP ein Ort sein, an dem die vielfältigen politischen Strömungen und ­Meinungen der gesamten Europäischen Union vertreten werden.

Die aktuelle Bundesregierung plant jedoch eine Sperrklausel frühstens für die Wahlen 2029, um eine übermäßige Fragmentierung im Europaparlament zu verhindern. Da in Deutschland mit 96 die meisten Abgeordneten gewählt werden, reichten bei den Wahlen 2019, anders als bei Bundestagswahlen, bereits Stimmenanteile von circa 0,7 Prozent, um einen EP-Sitz zu gewinnen. Dies kam etwa den Parteien „Die Partei“, Volt, den Piraten und den Freien Wählern zugute. Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der Verankerung einer Wahlpflicht, die in vier Ländern (Belgien, Griechenland, Luxemburg und Zypern) besteht.

Die genannten Unterschiede sind ein wichtiger Indikator dafür, dass die Europawahlen noch immer als eine Aneinanderreihung von 27 nationalen Wahlen gelten. Gewählt werden von den Bürgerinnen und Bürgern weiterhin nationale Parteien. Diese schließen sich zwar im EP zu europaweiten Fraktionen zusammen, die in der Regel an europäische Parteien angebunden sind. Aber auch diese europäischen Parteien sind Zusammenschlüsse nationaler Parteien und haben keine direkte Verankerung in der Bevölkerung. Um diese Verbindung zu stärken, können Mitgliedstaaten zwar auch die Namen der zugehörigen europäischen Parteien mit auf den Wahlzettel schreiben. Dies ist aber nur freiwillig und wird von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich gehandhabt. Auf dem Wahlzettel in Deutschland werden die Menschen daher ihre Kreuze bei den in Deutschland vertretenen Parteien wie beispielsweise der CDU/CSU, den Grünen, der SPD oder der AfD machen können, nicht aber bei den europäischen Parteien.

(© Europäisches Parlament)

Angesichts der bestehenden Defizite der Europawahlen ist die Wahlbeteiligung lange gesunken. Erst 2019 konnte erstmals ein Zuwachs bei der Beteiligung erreicht werden. Nach knapp 62 Prozent bei den ersten Europawahlen 1979 gingen 2014 nur 42,6 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen, 2019 waren es immerhin 50,7 Prozent und damit erstmals seit 1994 wieder mehr als die Hälfte (siehe Tabelle Wahlbeteiligung). Auch bei der Wahlbeteiligung gab es in der Vergangenheit erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. 2019 etwa erreichten Belgien und Luxemburg (mit Wahlpflicht) eine Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent, während in der Slowakei (22,7 Prozent) und Tschechien (28,7 Prozent) weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten Gebrauch von ihrem Stimmrecht machte. In Deutschland lag die Wahlbeteiligung 2019 bei 61,5 Prozent, was der höchste Wert seit 1989 und auf dem Niveau vieler Landtagswahlen war. Zum Vergleich: Bundestagswahlen erreichten in den letzten Jahrzehnten eher eine Wahlbeteiligung zwischen 70 und 80 Prozent. Ein Grund für die höhere Wahlbeteiligung im Jahr 2019 war auch die Wahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger, dass sich die EU aufgrund des Brexits und der Politik des damaligen US-Präsidenten Trump in einer existenziellen Krise befand. Zudem haben 2019 viele zivilgesellschaftliche Kräfte zur Wahl aufgerufen, um die EU zu stärken und den Stimmenanteil für Rechtsaußen-Parteien möglichst gering zu halten.

Die Legitimationskraft des EP bleibt damit weiterhin begrenzt, insbesondere in den EU-Staaten, in denen die Wahlbeteiligung noch unter 50 Prozent lag. Gleichzeitig ist 2019 erstmals der langjährige Trend einer rückläufigen Wahlbeteiligung gebrochen. Auch im Wahljahr 2024 steht zu erwarten, dass der Wahlkampf zu den Europawahlen politischer, polarisierender und damit aber auch wichtiger für die Bürgerinnen und Bürger werden wird.

Kompetenzen

(© Verlag des ÖGB GmbH, Quelle: Arbeit&Wirtschaft Ausgabe 6/18. Online: https://www.arbeit-wirtschaft.at/)

In der Entwicklung der EU wurden die Zuständigkeiten und Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments kontinuierlich ausgeweitet. Damit soll die demokratische Legitima-tion der EU gestärkt werden. Doch noch immer ist das Parlament nicht bei allen Entscheidungen der EU gleichermaßen beteiligt. Vielmehr geben die EU-Verträge in ihrer Fassung von Lissabon für jeden Politikbereich vor, inwieweit das Parlament neben den anderen beiden Hauptinstitutionen der EU, dem Rat und der Kommission, mitentscheiden kann. Im Rat der EU (auch Ministerrat genannt) sind die Regierungen der ­Mitgliedstaaten ­direkt vertreten. Gemeinsam mit dem Europäischen Rat, in dem die nationalen Staats- und Regierungschefs zusammensitzen, ist der Rat die EU-Institution mit den meisten Entscheidungsbefugnissen. Die EU-Kommission ist das Exekutivorgan der Europäischen Union, verantwortlich für die Vorschläge neuer Gesetze, die Durchführung der EU-Politik, die Verwaltung des EU-Haushalts und die Kontrolle der Umsetzung von EU-Recht. Sie vertritt die Interessen der EU insgesamt und wird von Kommissionsmitgliedern aus jedem EU-Mitgliedsstaat geleitet.

(© Statistische Ämter des Bundes und der Länder/eigene Bearbeitung. Online: https://service.destatis.de/eLearning/modul6/lm_pg_940.html)

Das wichtigste Gesetzgebungsverfahren in der EU ist das sogenannte ordentliche Gesetzgebungsverfahren (siehe S. 8). Hier entscheiden das Parlament und der Rat nach einem Vorschlag der Kommission gemeinsam. Durch dieses Verfahren ist das Parlament seit dem Vertrag von Lissabon an immer mehr Entscheidungen beteiligt. Beispielsweise wird die EU-Gesetzgebung zum Binnenmarkt nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet. Die beiden wichtigsten Arten von Rechtsakten, die so beschlossen werden, sind Verordnungen und Richtlinien. Verordnungen gelten unmittelbar in allen EU-Staaten und sind somit direkt rechtsverbindlich. Richtlinien hingegen müssen erst von den Staaten innerhalb einer Frist umgesetzt werden, die oft ein bis zwei Jahre dauert.

Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist ein mehrstufiges Verfahren. Gemäß EU-Vertrag beginnt es immer mit einem Vorschlag der EU-Kommission. Dies ist anders als auf nationalstaatlicher Ebene, wo in der Regel neben der Regierung auch das Parlament ein eigenes Vorschlagsrecht hat. Auf EU-Ebene wurde dies anders geregelt. Oft wird das EP mit dem fehlenden Initiativrecht kritisiert. Hintergrund dieser Struktur ist, dass die EU-Kommission als „Motor der Integration“ das gemeinsame europäische Interesse vertreten und in diesem Sinne ­Vorschläge machen soll. Daher haben weder EP noch Mitgliedstaaten im Ministerrat ein eigenes Initiativrecht. In der Praxis ist der Unterschied ebenfalls gering: Auch auf nationaler Ebene kommen die meisten Gesetzesvorschläge von der Regierung und werden in den Ministerien vorbereitet. Zudem hat das EP ein informelles Initiativrecht, denn es kann die Kommission auffordern, Vorschläge zu machen und während des Gesetzgebungsverfahrens umfangreiche Änderungsvorschläge machen.

Nach einem Kommissionsvorschlag berät das Parlament darüber und verfasst eine Stellungnahme und gegebenenfalls Änderungsvorschläge (sogenannte 1. Lesung). Im Anschluss daran befassen sich im Rat die jeweils zuständigen nationalen Ministerinnen und Minister mit dem Vorschlag der Kommission und der Stellungnahme des EP. Wenn der Rat mit den Änderungen des EP nicht einverstanden ist, geht das Dokument zurück an das Parlament (sogenannte 2. Lesung). Jetzt kann das EP den Änderungen des Rates entweder folgen und damit das Gesetzgebungsverfahren abschließen oder es durch komplette Ablehnung beenden. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, weitere Änderungsvorschläge an den Rat zu richten. An diesem Punkt des Verfahrens nimmt die Kommission erneut Stellung zu den vorgeschlagenen Änderungen des Parlaments. Wenn der Rat diese nun akzeptiert, ist das Gesetz beschlossen. Andernfalls wird ein Vermittlungsausschuss einberufen, der sich ähnlich wie deutsche Vermittlungsausschüsse aus Vertreterinnen und Vertretern von EP, Rat und Kommission zusammensetzt. Einigt sich dieser auf eine Lösung, wird der Gesetzesentwurf in dritter Lesung im EP beschlossen.

Dieses Verfahren ist komplex und relativ zeitintensiv. In der politischen Praxis haben sich daher die sogenannten Triloge etabliert. Ein Trilog ist ein informelles Gremium bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der EU-Kommission, der jeweiligen rotierenden Präsidentschaft des Rates sowie aus dem Europäischen Parlament. Der Trilog funktioniert ähnlich wie ein Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat in Deutschland. Anstatt aber bis zur 3. Lesung und dem Vermittlungsausschuss zu warten, bilden die EU-Institutionen mittlerweile direkt nach dem Kommissionsvorschlag und vor der ersten Lesung einen solchen Trilog, um einen Kompromiss zu finden. Dies spart viel Zeit und verbessert die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen. Der gefundene Kompromiss kann dann direkt in erster Lesung von Parlament und Rat verabschiedet werden. Das Trilog-Verfahren steht jedoch auch in der Kritik, weil der formelle Prozess umgangen wird und die Trilog-Verhandlungen hinter geschlossenen Türen stattfinden. Dennoch hat es sich etabliert: In der Legislaturperiode 2019 bis 2024 wurden bis November 2023 über 80 Prozent aller Mitentscheidungsverfahren durch die Triloge in erster Lesung abgeschlossen, in die dritte Lesung kam kein einziges Verfahren. Wichtig für das EP ist: Ob in erster Lesung oder dritter – ohne Zustimmung des Parlaments kann beim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren keine EU-Gesetzgebung verabschiedet werden.

Innerhalb der europäischen Verträge gibt es noch einige weitere mögliche Arten von Entscheidungsprozessen. Diese sehen jeweils eine andere Rolle des Europäischen Parlaments vor. Beim Haushaltsverfahren ist das EP ebenfalls voll beteiligt. Dies gilt seit dem Lissabon-Vertrag ohne Ausnahme, einschließlich der mehrjährigen Finanzpläne der EU. Wie in Deutschland kann in der EU also kein regulärer Haushalt ohne Zustimmung des Parlaments verabschiedet werden. Über dieses Haushaltsrecht hat sich das EP in der Vergangenheit auch immer wieder zusätzliche Mitspracherechte erkämpft.

Es gibt jedoch auch Ausnahmen, bei denen die Mitentscheidungsrechte des Parlaments eingeschränkt sind. Dies ist etwa das Zustimmungsverfahren, bei dem, wie der Name sagt, die Zustimmung des Parlaments erforderlich ist, das Parlament selbst aber keine Änderungen einbringen kann, etwa für internationale Verträge der EU im Handelsbereich. Zuletzt hat das EP beispielsweise im November 2023 dem EU-Handelsvertrag mit Neuseeland mit großer Mehrheit zugestimmt. In Einzelausnahmen wie zum Beispiel in Teilen der Innen- und Justizpolitik gilt weiterhin das Anhörungsverfahren, bei dem das Parlament zwar zwingend vom Rat angehört werden muss, aber nicht mitentscheiden kann. Der Rat kann die Empfehlungen des Parlaments auch vollständig ignorieren. In der Praxis nutzt das Parlament dann aber regelmäßig andere Hebel, um seine Interessen durchzusetzen. Beispielsweise hat die EU 2011 in insgesamt sechs EU-Rechtsakten die Haushaltskontrolle in der Eurozone verschärft. Das EP hatte jedoch nur in zweien davon Mitentscheidungsrechte, bei den anderen sollte es nur angehört werden. Über Verknüpfung der sechs Rechtsakte haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier aber erreicht, bei allen sechs voll beteiligt zu sein. Zuletzt gibt es immer noch EU-Entscheidungen, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der das Parlament weder beteiligt noch angehört werden muss und die nationalen Regierungen im Rat allein entscheiden können.

Auch beim Haushalt gibt es Ausnahmen: Einige Sonderhaushalte werden nur vom Rat beschlossen und direkt aus den Haushalten der Mitgliedstaaten finanziert. Hierzu gehört zum Beispiel die „Europäische Friedensfazilität“, mit der die EU militärische Hilfen für die Ukraine finanziert. Dies braucht die Zustimmung der nationalen Parlamente, einschließlich des Bundestags. Das Europäische Parlament ist dann aber nicht beteiligt.

Zusammensetzung

Die Zusammensetzung des EP ist seit jeher Gegenstand intensiver Debatten. Umstritten ist vor allem die Anzahl der Sitze, die jeder Mitgliedstaat zugeteilt bekommt sowie das Prinzip, nach dem diese Sitze verteilt werden. Im Parlament sind zwar die Bürgerinnen und Bürger der EU direkt vertreten (Art. 14 EUV). Auf Grund des besonderen Charakters der Europäischen Union als Bund von Bürgerinnen und Bürgern sowie souveränen Mitgliedstaaten wird jedoch darauf geachtet, dass die Bevölkerungen aller Mitgliedstaaten ausreichend vertreten sind.

(© Eigene Zusammenstellung)

Daher beruht die Sitzverteilung auf dem sogenannten Prinzip der „degressiven Proportionalität“, das in Art. 14 des EU-Vertrags festgelegt wurde. Das Ziel dieses Prinzips ist auf der einen Seite eine möglichst gleichmäßige Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger der EU. Auf der anderen Seite soll auch eine Mindestrepräsentation der kleineren EU-Staaten sichergestellt werden. Um beide Ziele bestmöglich zu erreichen, sind jeweils eine Ober- und Untergrenze an Sitzen vertraglich festgelegt. So bekommt jeder Mitgliedstaat mindestes sechs Sitze (z. B. Malta, Luxemburg), höchstens aber 96 Sitze (Deutschland) zugesprochen. Gleichzeitig wird die Aufteilung ausgehend von diesen Grenzen gemäß der jeweiligen Bevölkerungsgrößen festgelegt. In der Folge werden in einem Mitgliedstaat wie ­Malta (ca. 530.000 Einwohnende) sechs EU-Abgeordnete gewählt, in Deutschland mit einer Bevölkerung von etwa 84 Millionen „nur“ 96 Abgeordnete. Dementsprechend repräsentiert ein deutscher Abgeordneter etwa 880.000 Bürgerinnen und Bürger im Parlament, eine maltesische Abgeordnete hingegen nur rund 88.000. Im Parlament werden sie dennoch gleichbehandelt. Bislang konnten sich die EU-Institutionen trotz intensiver Bemühungen nicht auf eine mathematische Formel zur Berechnung der Sitzverteilung einigen. Stattdessen werden diese bei jeder Umverteilung der Sitze neu politisch ausgehandelt.

In der aktuellen Legislaturperiode hatte sich die Anzahl der Sitze zunächst durch den im Januar 2020 vollzogenen Brexit von 751 auf 705 reduziert. Dafür wurden von den ehemals 73 britischen Sitzen aber nur 46 gestrichen, die anderen 27 wurden für eine bessere Repräsentation zwischen den übrigen Mitgliedstaaten verteilt. So hat zum Beispiel Frankreich zusätzliche Sitze erhalten, weil dort die Bevölkerung stärker gewachsen und es so pro Kopf schlechter repräsentiert war als die Bundesrepublik. Deutschland, das bereits die vertragliche Grenze von maximal 96 Sitzen hat, kann ohne Vertragsänderung keine zusätzlichen Sitze bekommen. Im Anschluss an die Wahlen 2024 haben die EU-Institutionen erneut eine leichte Anpassung auf nunmehr 720 EP-Sitze vorgenommen, um den Bevölkerungsentwicklungen in den Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen.

Reform des EP: Erweiterung und transnationale Listen

Für die noch „übrigen“ 31 Sitze unter der Vertragsobergrenze von 751 werden zwei Möglichkeiten diskutiert. Auf der einen Seite können sie verteilt werden, falls noch weitere Mitgliedstaaten der EU beitreten. Nach dem russischen Angriffskrieg hat die EU die Ukraine und die Republik Moldau sowie perspektivisch Georgien zu Beitrittskandidaten erklärt und verhandelt zudem noch mit den Staaten des westlichen Balkans; die Beitrittsgespräche mit der Türkei sind eingefroren. Zwar ist ein vollständiger Beitritt eines oder mehrerer dieser Länder in der Legislaturperiode 2024 bis 2029 unwahrscheinlich, aber die Beitrittsgespräche sollen verstärkt vorangetrieben werden. Die 31 Sitze unter der vertraglichen Obergrenze von 751 würden aber nur für einige kleinere Staaten reichen. Sollte die Ukraine und/oder alle Staaten des westlichen Balkans EU-Mitglieder werden, müsste die EU entweder Teile der Sitze der heutigen Mitgliedstaaten neu verteilen oder das Europäische Parlament deutlich erweitern. Es würde dann nach dem chinesischen Nationalkongress (rund 3000 Abgeordnete) zum zweitgrößten Parlament der Welt werden.

Ein zweiter Vorschlag zur Reform der Sitzverteilung im EP ist die Einführung sogenannter transnationaler Listen. Bei diesem Vorschlag, den das EP unterstützt, geht es darum, einen Teil der EP-Abgeordneten nicht ausschließlich entlang ihrer Mitgliedstaaten zu wählen, wie es die bisherige Zusammensetzung und nationale Wahlgesetze zu den Europawahlen vorsehen. Stattdessen würde neben den nationalen Wahlkreisen ein gemeinsamer „EU-Wahlkreis“ eingeführt, für den alle Bürgerinnen und Bürger EU-Abgeordnete wählen. Nach Vorschlag des EP sollen hierfür 27 der noch verfügbaren Sitze genutzt werden. Die genaue Verankerung und Ausgestaltung dieses Vorschlags sind allerdings umstritten. Befürwortende Stimmen argumentieren, dass die europäischen Parteien damit sichtbarer werden würden, weil alle EU-Bürgerinnen und -Bürger zumindest einen kleinen Teil der Abgeordneten gemeinsamen wählen. Hieraus könnten dann auch die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten kommen. Die meisten nationalen Regierungen im Rat, aber auch Teile des Europäischen Parlaments selbst, lehnen den Vorschlag ab. Sie befürchten zwei Klassen von Abgeordneten und dass sich die Abgeordneten aus dem großen EU-Wahlkreis noch weiter von der Bevölkerung entfernen. Am Ende müssten alle EU-Regierungen im Rat der Änderung zustimmen und ihre nationalen Wahlrechte ändern. Für die Wahlen 2024 wurde der Vorschlag angesichts der Skepsis vieler EU-Staaten nicht umgesetzt.

Arbeitsweise des Parlaments

Wie der Deutsche Bundestag wird auch das EP als sogenanntes Arbeitsparlament bezeichnet. In Parlamenten dieser Art wird die meiste Arbeit in den Fachausschüssen geleistet. Das Plenum aller Abgeordneten debattiert und beschließt einzelne Gesetzgebungsvorhaben erst, nachdem die Ausschüsse ihre Arbeit und Abstimmungen abgeschlossen haben. In der Wahlperiode von 2019 bis 2024 teilten sich die Abgeordneten auf 20 Ausschüsse sowie vier Unterausschüsse auf. Die Ausschüsse behandeln alle wichtigen Themen der EU, wie etwa Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Handel, Wirtschaft und Währung, Auswärtige Angelegenheiten, Umweltfragen, Haushalt, Recht oder Kultur und Bildung. In diesen Ausschüssen werden Gesetzgebungsvorschläge ebenso wie Resolutionen des ­Europäischen Parlaments vorbereitet, Anhörungen durchgeführt und Stellungnahmen verabschiedet. Die Ausschussvorsitzenden werden nach Anzahl der Sitze an die im Parlament vertretenden Fraktionen verteilt und sind eine wichtige Machtressource für die großen Fraktionen, weil sie damit die Debatten im Parlament steuern können. Ausschüsse und Unterausschüsse können jederzeit vom EP einberufen werden. So hat das EP beispielsweise 2022 den Sonderausschuss „Erkenntnisse aus der Covid-19 Pandemie und Empfehlungen für die Zukunft“ für ein Jahr eingerichtet.

Eine wichtige Rolle in der Arbeit des Europäischen Parlaments nehmen auch die sogenannten Berichterstatter und Berichterstatterinnen (Rapporteur) ein. Jedem Entscheidungsprozess im Parlament ist ein Berichterstatter zugewiesen, der oder die beispielsweise die ersten Entwürfe einer Beschlussvorlage entwickelt, die Verhandlungen mit den anderen EU-Institutionen im Trilog oder Vermittlungsausschuss führt und sich mit den anderen Fraktionen koordiniert. Auch die Anzahl der Berichterstatterpositionen wird je nach Größe der verschiedenen Fraktionen bestimmt. Die anderen Fraktionen ernennen dann jeweils „Schattenberichterstatter“, die den Gesetzgebungsprozess von ihrer Seite begleiten.

Auf Grund des Fokus auf die Ausschüsse ist das EP bei den meisten Sitzungen im Plenum nur schwach besetzt. Dadurch sieht es manchmal danach aus, als würden die Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht arbeiten. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der große Teil der sehr komplexen Gesetzgebung findet in den Ausschusssitzungen, im Trilog und in den Fraktionen statt. Zunehmend setzt das Parlament aber auch auf regelmäßig stattfindende Großdebatten, um auch mit Blick auf die europäische Öffentlichkeit zentrale politische Themen Europas zu diskutieren. Hierzu gehören beispielsweise die jährlich im September stattfindende Rede der EU-Kommissionspräsidentin zur „Lage der Union“ oder Debatten mit Staats- und Regierungschefs über die Zukunft der EU. Zuletzt hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am Europatag 2023, den 9. Mai, eine Rede zur Weiterentwicklung der EU und der europäischen Dimension der „Zeitenwende“ gehalten. Alle Debatten im Plenum und in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments werden simultan in alle Amtssprachen der EU übersetzt, sodass alle Abgeordneten in ihrer Muttersprache reden können. Für eine breitere europäische Öffentlichkeit nutzen trotz des Brexits bei wichtigen politischen Debatten aber viele im EP die englische Sprache.

Fraktionen und Europäische Parteien

Im EP sitzen die Abgeordneten nicht aufgeteilt nach Nationalität, sondern bilden Fraktionen entlang europäischer Parteien und ihren politischen Positionen. Diese Parteien sind von ihrem Charakter, ihrer Bindewirkung und ihrer Durchsetzungskraft weiterhin nicht mit nationalen Parteien gleichzusetzen. Zwar erkennt der EU-Vertrag Parteien auf europäischer Ebene an, welche „zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der EU“ (Art. 10 EUV) beitragen.

Ein zentraler Unterschied zwischen nationalen und europäischen Parteien besteht jedoch darin, dass europäische Parteien keine Zusammenschlüsse individueller Bürgerinnen und Bürger, sondern europäische Dachverbände nationaler Parteien sind. Bislang sind die Parteien hinsichtlich ihrer Wahlkämpfe und ihrer Programme im Vergleich zu nationalen Mitgliedsparteien eher schwach aufgestellt. Sichtbar sind sie hauptsächlich durch die Arbeit ihrer EP-Fraktionen. Auch die Parteienfinanzierung auf EU-Ebene fällt im Vergleich zu nationalen Parteien beispielsweise in Deutschland deutlich geringer aus. Trotz dieser beträchtlichen Unterschiede kommt den europäischen Parteien mit den folgenden vier Funktionen eine im politischen System der EU nicht zu vernachlässigende Rolle zu.

Zunächst tragen die Parteien maßgeblich dazu bei, dass die Interessen unterschiedlicher Akteure im Mehrebenensystem der EU ausgeglichen werden (Interessensausgleich). Beispielsweise koordinieren sich Staats- und Regierungschefinnen und -chefs in ihren Parteien vor den Sitzungen des Europäischen Rates. Zweitens kommt ihnen und ihren Parlamentsfraktionen eine zentrale Rolle in der Mehrheitsbeschaffung im EP zu. Vor allem den etablierten Fraktionen gelingt es in der Regel, Entscheidungen intern abzustimmen, einheitlich im EP aufzutreten und gemeinsam Politik im Parlament zu gestalten. Drittens werden die Parteien bei der Besetzung von EU-Spitzenämtern immer wichtiger, etwa für die Kommissionspräsidentin, den Posten des Präsidenten des Europäischen Rates und den Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Viertens bieten die Fraktionen und Parteien auf europäischer Ebene auch Ressourcen für die nationale Parteien und Politikerinnen und Politiker. Paradoxerweise sind es ausgerechnet die EU-skeptischen Parteien, die von den finanziellen Mitteln des EP und der dort gebotenen Bühne profitieren.

(© Eigene Zusammenstellung auf Grundlage des Verzeichnisses des Europäischen Parlaments (Stand: 8. März 2024). Online: https://www.europarl.europa.eu/meps/de/search/table)

In der aktuellen Wahlperiode verteilten sich die nach dem Brexit verbliebenen 705 Abgeordneten auf sieben Fraktionen und die Gruppe der Fraktionslosen. In allen dieser Gruppen waren deutsche Abgeordnete vertreten (siehe Tabelle). Da die Fraktionen sich aber aus Abgeordneten nationaler Parteien zusammensetzen und sich das Parteiensystem in vielen Mitgliedstaaten im Wandel befindet, sind Wechsel von Fraktionszugehörigkeiten vor und gerade auch nach den Europawahlen nicht selten. Dies gilt insbesondere für neue und/oder EU-skeptische Parteien, die in vielen europäischen Staaten das etablierte Parteiensystem herausfordern. Auch im Laufe einer Legislaturperiode sind Wechsel möglich. So haben beispielsweise die Abgeordneten der Fidesz-Partei von Viktor Orbán (Ungarn) im März 2021 die EVP-Fraktion verlassen und sitzen seitdem fraktionslos im EP.

Die aktuell größte Fraktion ist die der „Europäischen Volkspartei“ (EVP). Die EVP ist eine christdemokratische Partei, der entsprechend aus Deutschland die CDU und CSU sowie im EP die Familien-Partei angehören. In den letzten Jahren ist die EVP die dominierende Partei auf europäischer Ebene gewesen, die die aktuelle Kommissionspräsidentin (Ursula von der Leyen) und auch die Präsidentin des Europäischen Parlaments (Roberta Metsola) stellt. Auch die Mehrheit der nationalen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat kommen aus der EVP, allerdings vor allem aus kleineren EU-Staaten. Von den fünf größten EU-Staaten wird nach dem Wahlerfolg von ­Donald Tusk 2023 nur Polen von einer EVP-Partei regiert. Im EP ist die EVP die einzige Fraktion mit Abgeordneten aus allen 27 EU-Mitgliedstaaten.

Die bislang zweitgrößte und nach der EVP bedeutendste europäische Partei ist die „Sozialdemokratische Partei Europas“ (SPE), deren Fraktion im EP unter dem Namen „Progressive Allianz der Sozialdemokraten“ (S&D) firmiert. In ihr versammeln sich Abgeordnete sozialdemokratischer Parteien aus allen EU-Staaten außer aktuell Irland. In Deutschland gehört die SPD zur Fraktion der S&D. In den letzten Jahren haben ihre ­Mitgliedsparteien aber europaweit zum Teil deutlich an Zustimmung verloren, insbesondere in Frankreich, Italien und Nordeuropa. Dennoch ist sie durch die sozialdemokratisch geführten Regierungen in Spanien und Deutschland auf EU-Ratsebene stärker vertreten. Vom EU-Spitzenpersonal gehört der aktuelle Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, der S&D an.

Neu sortiert und an Bedeutung gewonnen hat die liberale „Renew-Fraktion“ in der Legislaturperiode von 2019 bis 2024. Sie ist ein Zusammenschluss der früheren „Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa“ (ALDE) sowie der neuen Partei „Renaissance“ von Emmanuel Macron und ihren europäischen Verbündeten. Durch diesen Zusammenschluss und den Zugewinn dieser Parteien ist die „Renew Fraktion“ nach den Europawahlen 2019 drittstärkste Kraft im EP geworden. Ihr gehören Abgeordnete aus 24 EU-Staaten an, dabei fehlen Malta, Portugal und Zypern. Zu Renew gehört auch der aktuelle Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, und neben Macron fünf weitere Staats- und Regierungschefs. Im Europäischen Rat ist Renew damit sogar stärker vertreten als die Sozialdemokraten.

Bei den Europawahlen 2019 verzeichneten die europäischen Grünen ebenfalls in vielen EU-Staaten deutliche Zugewinne, darunter auch Deutschland. Die Grünen bilden im EP eine gemeinsame Fraktion mit der „Europäischen Freien Allianz“, einem Zusammenschluss regionalistischer Parteien wie den katalonischen Parteien. Durch die Wahlerfolge 2019 ist die Grüne/EFA-Fraktion viertstärkste Kraft geworden und vereint Abgeordnete aus 17 EU-Staaten. Aus Mittel- und Osteuropa sind aber nur wenige Abgeordnete Teil der Fraktion. Auf nationaler Ebene sind ihre Parteien, wenn überhaupt, nur als kleinere Koalitionspartner vertreten, sodass weder EU-Kommissare noch ein anderes EU-Spitzenamt von Mitgliedern grüner Parteien geführt wird. Die Europäische Linke (GUE/NGL) kommt an siebter Stelle, mit Mitgliedsparteien aus 13 EU-Staaten, darunter DIE LINKE aus Deutschland. Keiner ihrer Mitgliedsparteien führt aktuell eine EU-Regierung, sodass sie ebenfalls nicht direkt im Europäischen Rat vertreten oder an der Verteilung der EU-Spitzenämter beteiligt ist.

In drei Gruppen getrennt ist zuletzt das EU-skeptische Spektrum rechts der EVP, welches im aktuellen EP nach Wahlerfolgen 2019 etwa 24 Prozent der Abgeordneten umfasst. Erstens die moderat EU-skeptische, national-konservative Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Deren Mitglieder befürworten die EU an sich, streben aber eine Rückbesinnung auf den Binnenmarkt und zwischenstaatliche Zusammenarbeit an. Ihr gehören Abgeordnete aus 16 EU-Staaten an, aus Deutschland ist dies Lars Patrick Berg von „Bündnis Deutschland“, der 2019 noch als Mitglied der AfD ins EP gewählt wurde, die Partei aber mittlerweile verlassen hat. Durch die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und den tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala ist der EKR anders als die Grünen im Europäischen Rat vertreten, hat aber bisher keines der EU-Spitzenämter inne.

Zweitens gibt es die in der aktuellen Legislaturperiode neugegründete Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID), die aus aktuell 59 Abgeordneten aus lediglich acht Ländern besteht, wobei mehr als zwei Drittel davon aus Italien und Frankreich kommen. Die ID setzt sich aus fundamental EU-skeptischen und rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien zusammen. Zu ihr gehören auch die Abgeordneten der AfD. Ihre Mitglieder lehnen die EU in weiten Teilen grundsätzlich ab. Im Europäischen Rat ist die dazu gehörige ID-Partei noch nicht direkt vertreten. Dies hätte sich 2024 erstmals ändern können, wenn Geert Wilders nach seinem Wahlsieg in den Niederlanden im November 2023 niederländischer Ministerpräsident geworden wäre.

Zuletzt (Stand März 2024) gibt es im EP eine vergleichsweise große Gruppe von 50 fraktionslosen Abgeordneten. Hierzu gehören Parteien, die sich entweder keiner der bestehenden Fraktionen anschließen wollen oder können, und/oder bisher nicht genügend Unterstützung für die Gründung einer eigenen Fraktion haben. Hierzu sind laut EP-Geschäftsordnung mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel der EU-Staaten notwendig. Unter den Fraktionslosen finden sich daher sowohl kommunistische Parteien (etwa aus Griechenland), Rechtsaußen-Parteien (wie etwa die Fidesz aus Ungarn, die 2021 aus der EVP ausgetreten und damit einem kurz bevor stehenden Rauswurf zuvorgekommen ist) oder einzelne Abgeordnete wie aus Deutschland der ehemalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen, der „Die Partei“-Vorsitzende Martin Sonneborn oder der ehemals der Fraktion GUE/NGL angehörige Martin Buschmann, der für die Tierschutzpartei ins EP gewählt wurde, dort aber auch ausgetreten ist.

Das europäische Parteiensystem bleibt also auch zu den Europawahlen 2024 weiter im Fluss. Offen ist insbesondere, ob die EU-skeptischen Parteien weiterhin zersplittert bleiben oder eine gemeinsame Fraktion bilden. Diese könnte dann gemeinsam mit prognostizierten Stimmenzugewinnen zur zweitgrößten oder sogar größten Fraktion im Parlament werden. Aktuelle Prognosen für die Europawahlen 2024 finden sich online beispielsweise bei Politico Poll of Polls oder Europe Elects.

Koalitionen & Abstimmungsverhalten

Anders als in nationalen Parlamenten gibt es im Europäischen Parlament keine feste Koalition und daher auch keine Aufteilung in Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Dennoch hat sich im Laufe der aktuellen Legislaturperiode eine große Änderung ergeben. Seit dem ersten direkt gewählten Europäischen Parlament 1979 existierte eine „europäische große Koalition“ aus EVP und S&D. Zusammen hatten sie stets gemeinsam eine Mehrheit im EP und führten die meisten nationalen Regierungen, sodass sie gemeinsam in wichtigen Fragen den Kurs der EU bestimmen konnten. Auch nachdem das EP den oder die Kommissionspräsidenten oder -präsidentin wählen konnte, beruht deren Mehrheit stets auf der Zusammenarbeit von EVP und S&D.

Nach den Europawahlen 2019 blieben EVP und S&D zwar stärkste und zweitstärkste Fraktion, hatten erstmals aber keine Mehrheit im Parlament mehr. Für alle Mehrheiten im laufenden Parlament waren daher mindestens drei Fraktionen notwendig. Im Grunde hat sich die „europäische große Koalition“ in der aktuellen Legislaturperiode um die liberale Renew erweitert. So wurde etwa Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Basis einer Mehrheit von EVP, S&D und Renew gewählt, wobei auch einzelne Abgeordnete aus der EKR-Fraktion für von der Leyen gestimmt haben, wie etwa diejenigen der polnischen PiS-Partei. Dabei hat diese „von der Leyen-Koalition“ nicht nur die Kommissionspräsidentin gewählt, sondern auch die anderen Spitzenämter in der EU aufgeteilt, etwa den Präsidenten des Europäischen Rates (Charles Michel, Renew), den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik (Josep Borrell, S&D) und das geteilte Präsidium des Europäischen Parlament (Erste Hälfte der Legislatur S&D, zweite Hälfte EVP).

Zusätzlich zeichnen noch zwei Besonderheiten das EP aus. Zum einen gibt es anders als etwa in Deutschland keinen festen Koalitionsvertrag oder eine klare Regierungs-Oppositionsdynamik. Vielmehr werden bei jedem einzelnen Gesetzgebungsakt oder anderen Entscheidungen eigene, wechselnde Mehrheiten im EP ausgehandelt. Bei den meisten Entscheidungen der vergangenen Legislaturperiode bestand die Mehrheit zwar aus EVP, S&D und Renew, oft mit Unterstützung der Grünen/EFA-Fraktion. Bei einzelnen Entscheidungen fanden sich jedoch auch Mehrheiten links der Mitte, aus S&D, Renew, Grüne/EFA und der europäischen Linken. Im Gegensatz dazu hat die EVP-Fraktion teilweise getestet, mit der EKR zusammenzuarbeiten, damit aber bisher nur bei der Ablehnung von Initiativen Erfolg gehabt.

Große Unterschiede gibt es auch darin, wie einheitlich die Fraktionen auftreten, da sie sich eben nur aus national gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentariern zusammensetzen. Es sind auch die nationalen Parteien, die entscheiden, ob und mit welchem Listenplatz Abgeordnete des Europäischen Parlaments für die Wiederwahl antreten. So gibt es wesentlich häufiger als auf nationaler Ebene „Abweichler“ in den Fraktionen, die anders abstimmen. Dennoch erreichen die etablierten Fraktionen hier in der Regel eine hohe Fraktionsdisziplin und treten als einheitlicher Akteur im EU-Parlament auf. Die höchste Rate an gemeinsamen Abstimmungen erreicht in der bisherigen Legislaturperiode die Grüne/EFA-Fraktion, auch EVP, S&D und Renew stimmen fast immer gemeinsam ab. Anders sieht es im EU-skeptischen Lager aus. Die EKR-Fraktion stimmt immerhin noch zu zwei Drittel einheitlich ab, während die ID-Fraktion nicht mehr als ein Zweckbündnis ist. Letztere stimmt in kaum einer Abstimmung gemeinsam ab, sondern häufig zur Hälfte dafür und zur Hälfte dagegen.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die EU-Institutionen, Demokratie in der EU und die britische Europapolitik. 2023 war er Mitglied der deutsch-französischen Expertengruppe zu EU-Reform und Erweiterung.
Kontakt: E-Mail Link: Nicolai.vonOndarza@swp-berlin.org

Dominik Rehbaum ist Forscher und promoviert am Department für Politik- und Sozialwissenschaften am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Bis August 2023 war er Forschungsassistent in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Kontakt: E-Mail Link: Dominik.Rehbaum@eui.eu