Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021, bei dem fünf Menschen starben, hat weltweit und auch in den USA selbst das Vertrauen in die Standhaftigkeit der US-amerikanischen Demokratie schwer erschüttert. Denn die Machtübergabe ging nicht, wie in Demokratien üblich, ohne Gewalt vonstatten. Radikale Anhängerinnen und Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump griffen den Sitz des Kongresses an, als dort der Wahlsieg des Demokraten Joe Biden bei der Präsidentschaftswahl vom 3. November 2020 zertifiziert werden sollte. Nicht ohne Grund befürchtete selbst die militärische Führung des Landes, dass Trump seine Wahlniederlage mit einem Staatsstreich verhindern wollte: Hatte er doch zuvor bei einem öffentlichen Auftritt seinen unbelegten Vorwurf des massiven Wahlbetrugs wiederholt und seine Anhänger aufgefordert, zum Kapitol zu marschieren und "auf Teufel komm raus zu kämpfen".
QuellentextSturm auf die amerikanische Demokratie
Von der Schreckensnacht des 6. Januars, in der zum ersten Mal in der Geschichte Amerikas das Kapitol in Washington von einem Mob gestürmt wurde, sah man […] immer wieder die gleichen Bilder: Ein Mann mit Bart und Baseballkappe fläzt im Büro von Nancy Pelosi herum; ein etwas bescheuert, aber eigentlich nicht unsympathisch in die Kamera lachender Mann mit Bart und Pudelmütze trägt winkend wie ein irrer Saaldiener das Rednerpult des Kongresses davon; ein Mann mit noch längerem Bart, freiem Oberkörper und einer Fantasy-Kombination aus Biberfellmütze und Hörnern […] schwenkt grölend die amerikanische Flagge. Was war passiert?
Eine tobende Masse von Trump-Anhängern hatte die Absperrungen des Kapitols überrannt, wenig später streifen die Eindringlinge etwas ratlos mit ihren Fahnen durch Hallen, Büros und Säle des Kongresses, machen Selfies und stellen Bilder nach, die sie aus Actionfilmen und Geschichtsbüchern kennen: Eroberungspose, Fahne aufstellen. Was sich in der großen Halle des Kapitols abspielte, sah aus wie eine Travestie dessen, was auf den dort hängenden Historienbildern zu sehen ist. Man darf den Vorfall nicht verharmlosen: Viele der radikalen Demonstranten waren bewaffnet, vier sind gestorben – drei an "medizinischen Vorfällen", eine Frau an den Folgen eines Schusses, der von überforderten, panischen Sicherheitskräften abgegeben wurde. Und mit den symbolisch verheerenden Bildern, die das vielleicht berühmteste demokratische Bauwerk der Welt in den Händen von Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und einer Menge gutgläubiger, von Trump aufgehetzter Menschen zeigen, haben er und seine radikalsten Anhänger einen dunklen ikonographischen Trümmerhaufen hinterlassen, der in autoritär geführten Staaten mit grimmiger Genugtuung als Beweis für eine wehrlose, im Chaos versinkende Gesellschaft des Westens gesehen wird.
Aber wenn das, wie es schrill und sensationalistisch hieß, ein "Anschlag" und ein "Aufstand" war, dann war er von einer beruhigenden Planlosigkeit: Die Nationalgarde tauchte schnell auf, nach ein paar Stunden war der böse Spuk wieder vorbei. [...]
Niklas Maak, "Die amerikanische Nacht", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10. Januar 2021; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
Kontroversen um die fortbestehende soziale Ungleichheit
Die Amtszeit Donald Trumps war eine Bewährungsprobe für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Vereinigten Staaten. Unter anderem eskalierten auch die von der Coronavirus-Pandemie nochmals in aller Schärfe freigelegten sozialen Ungleichheiten in den Auseinandersetzungen um den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd. Der nach wie vor allgegenwärtige Rassismus führte vorübergehend zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Anstatt dagegen anzugehen und zu deeskalieren, rief Präsident Trump zur Gewaltanwendung auf und bedrohte auch damit die US-amerikanische Demokratie.
Um die Präsidentschaftswahl erneut zu gewinnen, flirtete Trump mit jenem Rassismus, der die Geschichte der USA durchzieht und bis heute Todesopfer fordert. In seiner Rede vom 4. Juli 2020, dem Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, stigmatisierte der damalige Präsident Trump die in über 100 US-Städten gegen Ungerechtigkeit protestierenden Demonstranten als "böse" Vertreter eines "neuen linksextremen Faschismus", dessen ultimatives Ziel es sei, "das Ende Amerikas" herbeizuführen. Trumps Verteufelung der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung und der seit 2013 bestehenden Black Lives Matter-Bewegung geht einher mit seinem unnachgiebigen Festhalten an den Denkmälern und Symbolen der Konföderierten Südstaaten, die für den Erhalt der Sklaverei in den amerikanischen Bürgerkrieg gezogen und unterlegen waren. In den Augen der Betroffenen stehen diese Denkmäler bis heute für die Rassenungleichheit in Amerika. "Wütende Mobs versuchen, Statuen unserer Gründer niederzureißen, unsere heiligsten Gedenkstätten zu verunstalten und eine Welle von Gewaltverbrechen in unseren Städten auszulösen," warnte Trump seine um ihn versammelten Anhängerschaft bei einer Kundgebung vor den monumentalen, in Stein gehauenen Porträts der vier bedeutendsten US-Präsidenten in Mount Rushmore.
Für viele Amerikanerinnen und Amerikaner, vor allem jene afroamerikanischer Herkunft, gilt nicht 1776, das Jahr, in dem die Gründerväter offiziell die Unabhängigkeit von Großbritannien erklärten, als Geburtsstunde der Nation. Eine selbstkritischere amerikanische Geschichtserzählung beginnt mit der "Erbsünde" des Landes. Im August 2019, dem 400. Jahrestag des Beginns der amerikanischen Sklaverei, initiierte etwa das New York Times Magazine das "1619 Project". Es entsprach damit einer Initiative, die Geschichte der Vereinigten Staaten neu zu schreiben, indem sie die Folgen der Sklaverei und die Beiträge Schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner in den Mittelpunkt der nationalen Erzählung stellt. Nach dieser Geschichtsauffassung erwuchs aus der Saat der Sklaverei und dem ihr zugrunde liegenden Rassismus der eigentliche Exzeptionalismus des "Landes der nicht so Freien". Fast alles, was Amerika wirklich außergewöhnlich gemacht hat, ist nach Auffassung von Jake Silverstein, dem Chefredakteur des New York Times Magazine, auf Amerikas Ursünde zurückzuführen.
QuellentextRace und "Rasse" – zum Umgang mit einem problematischen Begriff
Ein Interview mit Jakob Tanner
[…] "Rasse" ist heute ein weitgehend tabuisierter Begriff. […] Sollte der Rassenbegriff strikt vermieden werden, oder brauchen wir ihn, um ihn dort auch zu benennen, wo er faktisch gemeint ist?
"Rassen" wurden im 18. Jahrhundert zu einer Obsession der Wissenschaft. Die physische Anthropologie trieb das Projekt einer "Vermessung" des Menschen voran, welches im 19. Jahrhundert perfektioniert wurde und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Rassentypologien empirisch plausibilisieren sollte. Das war ein transnationales Unternehmen, das viele Forschungsressourcen mobilisierte. Heute hat es seine Kredibilität eingebüßt. Denn das Konzept der "Rasse" ist längst kulturell gedreht worden: Es verbindet sich mit der Vorstellung einer homogenen Nation als Abstammungsgemeinschaft oder eines "Kulturkreises" mit festen Werten und Gebräuchen. "Sage mir deine Herkunft, und ich sage dir, wer Du bist", lautet die Maxime. Solche identitären Selbstversicherungsdiskurse schüren die Angst, dass die Welt durcheinandergeraten könnte, was Ordnung und "Reinheit" gleichermaßen bedroht. Die ideale Welt wäre dann die, in der alle ein festes Zuhause unter ihresgleichen haben. Da können sie bleiben und sein, was sie sind. […]
In den USA wurde die Problematik des Rassismus allerdings anders diskutiert.
Ja, in den USA verlief diese Geschichte anders als etwa in Deutschland. Die Sklaverei, die jahrhundertelange Ausbeutung schwarzer SklavInnen beziehungsweise von afroamerikanischen Arbeitskräften, denen Menschen- und Bürgerrechte vorenthalten wurden, hat dort die Rassenproblematik zu einem wichtigen Politikum gemacht. Das Ausblenden von race wurde als Geschichtsverdrängung interpretiert. Der Soziologe und Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois (1868–1963) […] schrieb 1903: "The problem of the twentieth century is the problem of color line." Diese color line markierte das Rassenproblem in den USA. Anstatt die Schmelztiegel-Ideologie zu reproduzieren, forderte Du Bois eine Sichtbarmachung diskriminierender race-relations. Um das Problem der Rassensegregation und der Unterdrückung der AfroamerikanerInnen zu benennen, war der Begriff race unabdingbar. Doch darüber, welche politische Strategie die Emanzipation der Schwarzen voranbringen könnte, gab es sehr unterschiedliche Vorstellungen. […]
Wie zeigen sich diese Unterschiede in der Geschichtswissenschaft und anderen Disziplinen?
Es ist interessant zu sehen, dass die US-amerikanische feministische Theorie der 1970er Jahre von der Trias Klasse, "Rasse" und Geschlecht ausging. […] [S]selbstverständlich blieb race weiterhin eine unverzichtbare Kategorie. Diese Selbstverständlichkeit, mit der "Rasse" auf eine Stufe mit Geschlecht und Klasse gestellt wird, ist im deutschen Sprachraum nicht gegeben. […] "Rasse" fand im deutschen Sprachraum fast ausschließlich als historischer Eigenname, als Quellenbegriff Eingang in die historische Forschung; das gehäufte Auftreten des Begriffs war ein Indikator dafür, dass eine grundrechtlich fundierte Demokratie infrage gestellt wurde. […]
Jakob Tanner ist Historiker und Professor emeritus für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. […]
Das Interview führte Christian Geulen im Herbst 2017 schriftlich.
Race und Rasse. Ein Interview mit Jakob Tanner, in: Naika Foroutan / Christian Geulen u. a. (Hg.), "Das Phantom ‚Rasse‘. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus", Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln 2018, S. 35–44
QuellentextDie Critical Race Theory
[…] Im Januar 1980 erschien in der "Harvard Law Review" ein Artikel, dessen sperriger Titel bald im eklatanten Widerspruch zu seiner Wirkung stehen sollte. Der Aufsatz trug die Überschrift "Brown v. Board of Education and the Interest-Convergence Dilemma". In ihm stellte der Bürgerrechtsanwalt Derrick Bell die These auf, dass die wohl wegweisendste Entscheidung des Supreme Courts zugunsten schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner nicht etwa von dem Wunsch getrieben gewesen sei, diesen Gleichberechtigung zu verschaffen.
Vielmehr, so argumentierte Bell, habe das Gericht im Jahr 1954 vor allem deshalb die Rassentrennung an öffentlichen Schulen aufgehoben, weil es in jener Zeit im Interesse der weißen Mehrheitsgesellschaft gelegen habe. […]
[…] [I]n dem 16-seitigen Aufsatz klingen alle Überlegungen an, die sein Werk ausmachen sollten: die Idee, dass Rassismus nicht nur in einzelnen Menschen steckt, sondern einen essenziellen Teil der amerikanischen Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen bilde. Die These, dass Rasse ein Konstrukt sei, um weiße Dominanz zu sichern. Schließlich der Gedanke, dass Schwarze jeden Fortschritt gegen den erbitterten Widerstand eines weißen Machtkartells durchsetzen müssten.
Bell war der erste schwarze Professor an der Harvard Law School, und er machte die elitäre Fakultät zur Keimzelle einer Theorie, die westliche Gesellschaften tiefgreifend verändern sollte. Wenn heute Angestellte von Amazon oder Unilever von ihren Chefs dazu aufgefordert werden, über ihre "weißen Privilegien" zu reflektieren; wenn an Universitäten "safe spaces" für nicht weiße Studentinnen und Studenten eingerichtet werden; wenn in den USA darüber gestritten wird, dass nicht etwa die Verkündung der Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 die Geburtsstunde der Nation war, sondern die Ankunft der ersten afrikanischen Sklaven im August 1619 in Virginia – dann entspringt dies dem Gedankengebäude der "Critical Race Theory", zu deren maßgeblichen Architekten Bell gehörte und die inzwischen in viele akademische Disziplinen eingedrungen ist. […]
Die Critical Race Theory entstand aus dem berechtigten Zorn darüber, dass die Welle der Gesetzgebung, die in den USA der Sechzigerjahre schwarzen Amerikanern Gleichberechtigung verschaffen sollte, in der Praxis so wenig änderte. Auf den ersten Blick war die Präsidentschaft Lyndon B. Johnsons ein furioser Triumph der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: Der Civil Rights Act von 1964 verbot die Diskriminierung von Schwarzen in Restaurants, Kinos oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Voting Rights Act von 1965 untersagte Analphabetismus-Tests, mit denen Schwarze von der Wahlurne ferngehalten wurden. Und der Fair Housing Act von 1968 schließlich sollte die Praxis des sogenannten Redlining beenden, mit der Afroamerikanern der Zugang zu Immobilienkrediten verwehrt wurde.
Aber all die Gesetze änderten nichts an der Tatsache, dass schwarze Amerikaner ärmer als weiße blieben, dafür aber deutlich häufiger im Gefängnis landeten. Heute ist ein Drittel aller Häftlinge in den USA schwarz, während der Anteil der Afroamerikaner an der Gesamtbevölkerung 13 Prozent beträgt. Das mittlere Vermögen eines weißen Haushalts in den USA liegt bei 188.000 Dollar und ist damit fast achtmal höher als das eines schwarzen.
Die Critical Race Theory ist eine zutiefst pessimistische Idee und unterscheidet sich fundamental von der Gedankenwelt Martin Luther Kings, der immer noch der Säulenheilige der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ist und seine berühmteste Rede am 28. August 1963 in Washington hielt – gut 100 Jahre nachdem Abraham Lincoln mit der Unterschrift unter die Emanzipationserklärung das Ende der Sklaverei in den USA eingeläutet hatte.
King sparte darin nicht mit Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Aber die Rede war zugleich durchzogen von einer unerschütterlichen Zuversicht, dass die Institutionen der amerikanischen Demokratie in der Lage sein werden, die Unterdrückung der schwarzen US-Bürger zu beenden. Derrick Bell dagegen schrieb 1987 in seinem Buch "And We Are Not Saved", es sei ein Trugbild, an Fortschritte bei der Gleichberechtigung zu glauben, weil "Weiße, bewusst oder unbewusst, alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Vorherrschaft zu wahren und die Kontrolle zu behalten". […]
Zu den häufigsten Klagen über die Critical Race Theory gehört, dass sie kaum zu definieren und deshalb im Grunde wirkungslos sei. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. In ihrem Standardwerk "Critical Race Theory" beschreiben die beiden Juristen Richard Delgado und Jean Stefancic präzise ihre Kernthesen und die dahinter liegende Geisteshaltung. "Im Gegensatz zum traditionellen Diskurs über Bürgerrechte, der den schrittweisen Fortschritt betont, stellt die Critical Race Theory die liberale Ordnung ganz grundsätzlich infrage – inklusive des Gleichheitsgrundsatzes, des Abwägens rechtlicher Argumente, des Rationalismus der Aufklärung und des Prinzips, wonach jeder vor der Verfassung gleich ist." Mit anderen Worten: Sie versteht sich auch als Angriff auf zentrale Werte des Westens. […]
(D)ie Critical Race Theory […] wird an mehr als 200 amerikanischen Hochschulen gelehrt, und ihre Anhänger machen gar kein Geheimnis daraus, dass sie sich als Aktivisten und Wissenschaftler gleichermaßen verstehen. Die Critical Race Theory versuche, die Gesellschaft "nicht nur zu verstehen, sondern sie zu verändern", schreibt Richard Delgado, eine ihrer führenden akademischen Stimmen.
Niemand hat ihre Verbreitung so vorangetrieben wie der Historiker Ibram X. Kendi, der zu einem der einflussreichsten Intellektuellen der USA aufgestiegen ist […].
Das Neue und Revolutionäre an Kendis Buch "How to Be an Antiracist" besteht in seiner These, dass sämtliche Ungleichheiten zwischen schwarzen und weißen Amerikanern notwendig und ausschließlich Ergebnis von Rassismus sind. Auch nur den Gedanken zuzulassen, dass es selbst verschuldete Probleme in der schwarzen Community geben könnte, betrachtet Kendi als Ketzerei. Als Barack Obama im Präsidentschaftswahlkampf 2008 beklagte, dass jedes zweite schwarze Kind in den USA ohne Vater aufwächst, und auf die verheerenden sozialen Folgen dieser Verantwortungslosigkeit hinwies, bezichtigte Kendi ihn des Rassismus. […]
Der Aufstieg Kendis […] ist nur mit dem speziellen geistigen Klima der Trump-Jahre zu erklären. Wenn man so will, ist der Historiker die illiberale Antwort auf einen autoritären Präsidenten. […]
René Pfister, "Ein Hauch von Nordkorea", in: DER SPIEGEL Nr. 25 vom 19. Juni 2021
Die Verfassung – Ideal und Weichenstellung
Obwohl es also immer wieder Stimmen gab, die das kritisch betrachten, genießen die US-amerikanische Verfassung und ihre Architekten, die sogenannten Gründerväter, darunter Benjamin Franklin, Alexander Hamilton, Thomas Jefferson und George Washington, bis heute in den USA meist große Wertschätzung. Dass die älteste bis heute gültige republikanische Staatsverfassung auch im 21. Jahrhundert mehr oder weniger unverändert besteht, liegt an ihrer elastischen Konstruktion. Die miteinander verbundenen Prinzipien der Volkssouveränität, der individuellen Menschenrechte und der Repräsentation gewährleisten immer noch die Statik des Verfassungsgerüsts von 1787.
Die antike Vorstellung vom Volk als Quelle von Regierungsmacht wurde mit dem neuzeitlichen Konzept individueller Menschenrechte verschränkt: In einer liberalen Demokratie stößt der Mehrheitswille des Volkes dort an Grenzen, wo er die Rechte von Minderheiten beschneidet – eine "Tyrannei der Mehrheit" soll verhindert werden. Das Misstrauen gegenüber der breiten Masse wird in einem weiteren Konstruktionselement deutlich, der repräsentativen Demokratie: Insbesondere auf der Ebene des Bundesstaates sollte nicht das Volk selbst durch direktdemokratische Elemente entscheiden, sondern diejenigen, die es repräsentieren. Dahinter steht die Erwartung, dass vom Volk gewählte Vertreterinnen und Vertreter in ihrem Handeln weniger durch Leidenschaften, Affekte und persönliche Interessen geleitet sind, sondern eher rationale und weitsichtige Entscheidungen treffen können als eine direkte Volksregierung.
Die "Erfindung der Nation", so der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson in seinem 1988 auf Deutsch erschienenen gleichnamigen Buch, gründet denn auch – bezogen auf die USA – wesentlich auf der Emanzipation vom "Alten Kontinent" Europa mit seinen Staatskirchen und Herrschern von Gottes Gnaden. Viele Europäerinnen und Europäer machten sich vor allem auch deshalb auf den weiten Weg nach Übersee, weil sie in ihrer Heimat wegen ihres Glaubens oder ihrer politischen Einstellung verfolgt worden waren. Gleichzeitig waren die Siedlerinnen und Siedler in der "Neuen Welt" von Beginn an von dem Bewusstsein erfüllt, eine von Gott auserwählte Nation zu sein: Sie gestalteten "God’s own country". Diese Abkehr vom Staatskirchentum, verbunden mit dem Glauben an das eigene "Auserwähltsein", kommt auch im ersten Verfassungszusatz zum Ausdruck: Die Einrichtung einer staatstragenden Amtskirche wird untersagt sowie Religions- und Meinungsfreiheit gewährleistet.
Diese verfassungsrechtlich gewährte Freiheit schafft bis heute Raum für Pluralismus und ein ständiges Ringen um die legitime Position von Religion im Spannungsfeld zwischen privater und öffentlich-politischer Sphäre. So steht etwa das Schulgebet bis heute im Zentrum politischer Auseinandersetzungen, insbesondere seit das Oberste Gericht, der Supreme Court, 1985 im Fall Wallace v. (v. = versus, lat. für gegen) Jaffree entschied, dass in staatlichen Schulen sogar eine Minute der Stille zum freiwilligen Beten oder Meditieren gegen die establishment clause verstoße, die vor der Etablierung einer Staatsreligion schützen soll.
Geprägt von den Erfahrungen absolutistischer Herrschaft, insbesondere von den Praktiken der damaligen Kolonialmacht Großbritannien, und inspiriert durch aufklärerische Ideen der Philosophen John Locke und Montesquieu, wollten die Exilanten fernab ihrer Heimat eine "Neue Welt" schaffen. In ihr sollte Herrschaft nicht wie auf dem "Alten Kontinent" von oben, von Gottes Gnaden, legitimiert sein, sondern jegliche Macht von unten, vom Volke, und auf Zeit verliehen werden. Der Einzelne – wobei damals nur an den wohlhabenden Weißen Mann gedacht war – galt als Quelle der Volkssouveränität. Darüber hinaus sollte im Sinne einer liberalen Verfassung durch Prinzipien der Gewaltenkontrolle Missbrauch verhindert werden, um individuelle Grundrechte vor staatlicher Willkür zu schützen.
Die wichtigsten, im Weiteren als individuelle oder persönliche Freiheitsrechte bezeichneten civil liberties werden durch die ersten zehn Verfassungszusätze (engl. amendments to the United States Constitution) garantiert. Diese auch unter dem Begriff der Bill of Rights zusammengefassten Grundsätze wurden am 15. Dezember 1791 als Ganzes in die US-Verfassung aufgenommen. Nach dem Bürgerkrieg (1861–1865) kamen weitere Verfassungszusätze hinzu. Besonders bedeutsam unter ihnen ist der 14. Zusatz, der die individuellen Freiheitsrechte jeder Person – ungeachtet der Staatsbürgerschaft – schützt. Allerdings hat die verfassungsrechtliche Auslegung des Supreme Court gezeigt, dass einige der individuellen Freiheitsrechte ausschließlich US-Amerikanerinnen und -Amerikanern vorbehalten sind.
Der Gewaltenkontrolle haben die Verfassungsväter besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn das Grundprinzip der konkurrierenden, sich gegenseitig kontrollierenden Staatsgewalten (checks and balances) hat eine grundlegende Bedeutung für die Sicherung individueller Freiheitsrechte. Neben der horizontalen Gewaltenteilung in die gesetzgebende (Legislative), die ausführende (Exekutive) und die richterliche Gewalt (Judikative) wurde in der amerikanischen Verfassung auch eine vertikale Gewaltenkontrolle angelegt: Die Befugnisse zwischen den – bei der Gründung 13 – derzeit 50 Einzelstaaten und dem Bundesstaat wurden aufgeteilt. Mit horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung sollte verhindert werden, dass die Rechte und Freiheiten des einzelnen Bürgers und jene der Einzelstaaten über Gebühr eingeschränkt werden.
Rassismus als bleibende Erblast
Gleichwohl wurden die Rechte der Einzelstaaten, die states’ rights, mit Billigung des Obersten Gerichtes auch dazu missbraucht, um bis ins 20. Jahrhundert in den Südstaaten der USA die Rassendiskriminierung aufrechtzuerhalten. Der Supreme Court begründete und rechtfertigte die Rassentrennung und -diskriminierung in den USA durch sein Urteil im Fall Plessy v. Ferguson am 18. Mai 1896. Mit dieser Grundsatzentscheidung wurde die im 13. und 14. Verfassungszusatz garantierte Freiheit und Gleichstellung aller Bürger de facto ausgesetzt. Die Bundesstaaten, zumal im Süden der USA, erhielten damit die höchstrichterliche Erlaubnis, die "Rassen" nach Gutdünken zu trennen. Der öffentliche Raum, etwa Schulen, Restaurants und Hotels, war nunmehr richterlich verordnet Schwarz-Weiß. "Getrennt, aber gleich" – mit dieser Formel betrog ein höchstrichterliches Urteil Schwarze in den USA um ihre Gleichstellung – für weitere sechs Jahrzehnte.
Erst in den 1950er- und 1960er-Jahren gelang es der Bürgerrechtsbewegung, dem civil rights movement, die Rassentrennung und -diskriminierung zum Teil zu überwinden. So erklärte der Supreme Court 1954 im Fall Brown v. Board of Education die Rassentrennung an staatlich finanzierten Schulen für unzulässig. Der Voting Rights Act von 1965 ermöglichte schließlich auch der afroamerikanischen Bevölkerung verbesserte Rechte zur politischen Teilhabe. Mit dem von Präsident Lyndon B. Johnson (1963–1969) am 6. August 1965 unterzeichneten Gesetz sollte sichergestellt werden, dass der afroamerikanischen Minderheit gleiche Voraussetzungen gegeben werden, um sich an den Wahlen zu beteiligen. Dazu wurden diskriminierende Praktiken wie Analphabetismus-Tests als Voraussetzung zur Wählerregistrierung verboten und die verantwortlichen Einzelstaaten unter Aufsicht des Bundesjustizministeriums gestellt.
Rassendiskriminierung ist jedoch bis heute ein politisch brisantes Thema geblieben. Paradoxerweise könnte sie in der Amtszeit des ersten afroamerikanischen Präsidenten Barack Obama (2009–2017) sogar wieder verschärft worden sein. So urteilte am 25. Juni 2013 das Oberste Gericht im Fall Shelby County v. Holder mit einer denkbar knappen Mehrheit von fünf gegen vier Stimmen, dass im "Lichte gegenwärtiger Bedingungen", insbesondere aufgrund der verbesserten politischen Beteiligung von Minderheiten, eine elementare Bestimmung (Sektion 4) des Voting Rights Act überholt und damit verfassungswidrig sei.
Quellentext"All men are created equal" – ein Verfassungsgebot und seine Auslegung
Am 17. Mai 1954 entschied das Oberste Gericht im Fall Brown v. Board of Education, dass nach Hautfarbe getrennte Schulen "von Natur aus ungleich" sind und dem Gleichheitsgrundsatz des 14. Zusatzartikels der Verfassung widersprechen. Mit diesem wegweisenden Urteil revidierten die Obersten Richter auch die bislang vorherrschende Rechtsauslegung gemäß der "separate but equal"-Doktrin. Sie war 1896 im Fall Plessy v. Ferguson etabliert worden, um Rassentrennung zu rechtfertigen, solange es "getrennte, aber gleichwertige" Einrichtungen für afroamerikanische und weiße Schüler gab. Landesweit, vor allem in den Südstaaten, waren jedoch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die nach Hautfarbe getrennten Schulen alles andere als gleichwertig eingerichtet. Die ursprüngliche Klägerin, Esther Brown, kritisierte die schlimmen Zustände, mit denen afroamerikanische Kinder in ihrer Heimatstadt South Park im Bundesstaat Kansas alltäglich zu kämpfen hatten. Ihre auf die Städte Wichita und Topeka ausgeweitete Klage wurde unterstützt von der bereits 1909 gegründeten National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Mit der erfolgreichen Sammelklage, der sich weitere Familien anschlossen (unter anderem Oliver Brown, nach dem der Fall benannt wurde), konnte schließlich die Rassentrennung an US-amerikanischen Schulen aufgehoben werden.
Am 2. Juli 1964 unterzeichnete Präsident Lyndon B. Johnson in Anwesenheit des Bürgerrechtlers Martin Luther King den Civil Rights Act, mit dem die Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung bei Wahlen und in öffentlichen Einrichtungen wie Restaurants, Hotels oder Bussen abgeschafft werden sollte. Bereits sein Vorgänger John F. Kennedy hatte auf die immer heftiger werdenden öffentlichen Proteste der Afroamerikaner reagiert. In seiner Ansprache vom 11. Juni 1963 hatte er seine Landsleute und die Gesetzgeber aufgefordert, der Diskriminierung ein Ende zu bereiten. Es war dann aber die Regierungsmannschaft seines Nachfolgers Johnson, der es gelang, das heftig umstrittene Gesetz durch den Kongress zu manövrieren. Gleich in seiner ersten Ansprache an die versammelten Abgeordneten und Senatoren am 27. November 1963 äußerte Präsident Johnson, dass kein noch so eloquenter Nachruf den wenige Tage zuvor, am 22. November 1963, ermordeten Präsidenten gleichermaßen ehren könne wie die schnellstmögliche Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes, für das Kennedy so lange gekämpft habe. Mit dem Civil Rights Act konnte zwar die Zweiklassengesellschaft in öffentlichen Räumen mehr oder weniger beseitigt werden, aber nicht die Diskriminierung der Afroamerikaner bei den Wahlen.
Mit dem von Präsident Johnson am 6. August 1965 unterzeichneten Voting Rights Act sollte einmal mehr sichergestellt werden, dass der afroamerikanischen Minderheit gleiche Voraussetzungen gegeben werden, um sich an den Wahlen zu beteiligen. Dazu wurden diskriminierende Praktiken wie Analphabetismus-Tests als Voraussetzung zur Wählerregistrierung verboten und die verantwortlichen Einzelstaaten unter Aufsicht des Bundesjustizministeriums gestellt.
Am 25. Juni 2013 urteilte das Oberste Gericht im Fall Shelby County v. Holder mit einer denkbar knappen Mehrheit von fünf gegen vier Stimmen, dass im "Lichte gegenwärtiger Bedingungen", insbesondere aufgrund der verbesserten politischen Beteiligung von Minderheiten, eine elementare Bestimmung (Sektion 4) des Voting Rights Act überholt und damit verfassungswidrig sei. Bisher unterstanden die bei Wahlen mit Diskriminierungspraktiken historisch vorbelasteten Südstaaten der Bundesaufsicht. Die Gesetzgeber sind nun aufgefordert, neue, an die heutige Zeit angepasste Kriterien zu finden, die weiterhin eine bundesstaatliche Aufsicht der von den Einzelstaaten organisierten Wahlen rechtfertigen würden.
Josef Braml
Hatten die bei Wahlen mit Diskriminierungspraktiken historisch vorbelasteten Südstaaten bis zu diesem Zeitpunkt der Bundesaufsicht unterstanden, so sind die Gesetzgeber seitdem aufgefordert, neue, an die heutige Zeit angepasste Kriterien zu finden, die weiterhin eine bundesstaatliche Aufsicht der von den Einzelstaaten organisierten Wahlen rechtfertigen würden. Da im extrem polarisierten Politikbetrieb Washingtons, zumal in dieser heiklen Frage, auf absehbare Zeit keine Einigung erzielt werden kann, haben die Einzelstaaten bis auf Weiteres freie Hand, wenn sie Minderheiten bei Wahlen wieder benachteiligen wollen. Ohne Aufsichtsrecht Washingtons müssen Schwarze Wählerinnen und Wähler nun wieder damit rechnen, durch Auflagen der Einzelstaaten, insbesondere im Süden des Landes, bei Wahlen diskriminiert zu werden, wenn sie etwa nicht die nötigen Papiere zur Wählerregistrierung vorweisen können oder die Zeit für die Stimmabgabe oder die Möglichkeit der Briefwahl eingeschränkt wird.
Dass es zu keinen größeren Ausschreitungen kam, als der Meilenstein der Emanzipation durch ein Urteil des Obersten Gerichts ausgehebelt wurde, lag wohl unter anderem daran, dass der erste afroamerikanische Präsident Barack Obama und sein enger Vertrauter, der Schwarze Justizminister Eric Holder, mehrfach mäßigend auf die Schwarze Gemeinschaft einwirkten. Doch selbst in Obamas Amtszeit wurden Proteste von der Polizei, teilweise unter Einsatz von Waffengewalt, niedergeschlagen – etwa als im Sommer 2014 der Schwarze Jugendliche Michael Brown in Ferguson von einem Weißen Polizisten erschossen wurde und Tausende im Bundesstaat Missouri dagegen auf die Straße gingen.
Die Demonstrationen sorgten immerhin dafür, dass die Bewegung "Black Lives Matter" (engl. für: Schwarze Leben zählen) – ins Leben gerufen bereits 2013 mit dem Freispruch von George Zimmerman nach dem Todesfall des afroamerikanischen Teenagers Trayvon Martin – auch international Bekanntheit erlangte. So forderte unter anderem der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, die Verantwortlichen in den USA auf, "sicherzustellen, dass die Freiheit friedlicher Versammlungen und die Meinungsfreiheit geschützt werden" und US-Sicherheitsbeamte "amerikanische und internationale Standards im Umgang mit Demonstranten einhalten".
Zwischen Abschottung und Weltverbesserung
Stellt man das bis heute nicht aufgearbeitete Unrecht der Sklaverei und den weiterhin institutionell verankerten Rassismus in den USA gedanklich zur Seite und fokussiert sich auf die Anfänge der europäischen Besiedlung in der Neuen Welt, so trifft man bereits auf das Ansinnen der frühen Siedlerinnen und Siedler, mit dem "amerikanischen Experiment" die Welt zu verbessern.
Allerdings bewegte sich das Leitbild US-amerikanischer Außenpolitik im Laufe ihrer Geschichte kontinuierlich zwischen Absonderung von der Welt und missionarischem Drang zur Weltverbesserung. Der selbstverstandene Ausnahmecharakter der USA, der sogenannte Exzeptionalismus, manifestierte sich dementsprechend in unterschiedlicher Weise: Zum einen wollte die "fast auserwählte" Nation ("almost chosen", so Abraham Lincoln), die "city upon a hill" (so der puritanische Pionier John Winthrop 1630 in Anspielung auf das eng mit Gott verbundene biblische Jerusalem) selbstgenügsam der Welt als leuchtendes Vorbild dienen. Zum anderen wollte sie die Welt aber auch aktiv verändern, sei es mit diplomatischen oder militärischen Mitteln, sei es durch Vorgehen im Alleingang oder mit Unterstützung anderer Staaten.
Sicherheit statt Freiheit? Demokratische Ideale unter Druck
Traumatisch und folgenreich für die USA waren die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das US-Verteidigungsministerium (Pentagon) bei Washington. Die anschließenden Bemühungen von US-Präsident George W. Bush (2001–2009), mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit zu erlangen und die Welt mit militärischen Mitteln zu demokratisieren, führten allerdings zu einem merklichen Qualitätsverlust der US-amerikanischen Demokratie.
Im "Globalen Krieg gegen den Terrorismus" setzten US-Präsident Bush und seine Exekutive militärische und juristische Mittel ein, um zunächst mit der von den westlichen Alliierten unterstützten Operation Enduring Freedom die in Afghanistan vermuteten Al-Kaida-Drahtzieher der Anschläge und ihre Taliban-Unterstützer zu bekämpfen. Dem späteren, im Frühjahr 2003 erklärten völkerrechtswidrigen Präventivkrieg gegen den Irak entsprach eine analoge Umdeutung des Rechts im Inneren. Juristische Mittel galten fortan nicht mehr nur der Strafverfolgung, sondern als Waffen, als weitere "Pfeile im Köcher" der Exekutive, um möglichen künftigen Attentaten vorzubeugen.
Die vermeintlichen Sicherheitsvorkehrungen der USA umfassten ein breitets Spektrum. Sie reichten von rechtsstaatlich und strafrechtlich begründeten Maßnahmen bis hin zur völkerrechtswidrigen Entführung von Terrorverdächtigen, die von den USA ohne Gerichtsverfahren in Geheimgefängnissen befreundeter autokratischer Länder inhaftiert wurden. Dort kamen noch viel härtere Foltermethoden, sogenannte enhanced interrogations, in Anwendung als das von US-Sicherheitsbehörden selbst praktizierte waterboarding, die Foltermethode des simulierten Ertränkens.
Auf dem von den USA kontrollierten Stützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba wurde sogar eine rechtsfreie Zone geschaffen; die dort inhaftierten sogenannten ungesetzlichen Kombattanten (unlawful combatants, dt. unrechtmäßige Kämpfer) galten als vogelfrei. Internationale Kritik und vor allem das Oberste Gericht der USA sorgten zwar dafür, dass 2005 mit dem Detainee Treatment Act zumindest die Folterpraxis unter amerikanischer Hoheit eingestellt wurde.
Doch hinderte der Kongress George W. Bushs Nachfolger Barack Obama daran, das Gefangenenlager auf Guantánamo aufzulösen und die Inhaftierten in den geordneten zivilen oder militärischen Strafvollzug in den USA zu überführen. Auch unter Obamas Oberbefehl fielen zahlreiche Terrorverdächtige gezielten Tötungen durch Drohnenangriffe zum Opfer. Bis heute, also auch unter Präsident Joe Bidens Oberbefehl, werden dabei viele unschuldige Zivilisten als sogenannte Kollateralschäden in Kauf genommen. Diese Verfehlungen beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit der westlichen Führungsmacht USA.
QuellentextVom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat? Die Langzeitfolgen von 9/11
[…] Das Verhalten Washingtons im Krieg gegen den Terror hat das Bild Amerikas schon lange massiv beschädigt, nicht zuletzt in der muslimischen Welt, im Nahen Osten, in Afghanistan, in Pakistan, wo viele das Gefühl hatten, das Recht der Amerikaner sei kein Ausdruck universeller Menschenrechte, sondern bloß das Recht einer Weltmacht auf Rachefeldzug. Immerhin haben die USA seitdem einige der schlimmsten Exzesse abgestellt oder halbwegs aufgearbeitet.
Aber viele weitreichende Folgen des 11. September 2001 haben sich nicht durch Zeitablauf oder den Amtsantritt des nächsten oder übernächsten Präsidenten erledigt. Die Exekutive, die nach den Terroranschlägen massiv an Befugnissen zur Gefahrenabwehr hinzugewonnen hat, wirkt noch immer besessen davon, immer mehr zu wissen, immer mehr zu durchleuchten. Sie missachtet im Schutze umfassender Geheimhaltung oft genug ihre eigenen Regeln und schafft sich damit immer neue Spielräume, notfalls jenseits von Recht und Verfassung. Konkret zeigt sich dies zum Beispiel am schier grenzenlosen Sammeln von Daten, an der umstrittenen Praxis gezielter Tötungen, aber auch an einer wachsenden Abschottung gegenüber der Öffentlichkeit. Die oft gestellte Diagnose, der Rechtsstaat habe sich zum Sicherheitsstaat gewandelt, gilt noch immer – das ist das wahre Erbe des Terrors in New York und Washington vor 20 Jahren.
Die Macht der auf Prävention geeichten Exekutive zeigt sich besonders an den staatlichen Befugnissen zur Überwachung. Nach dem 11. September 2001 gewährte der US-Kongress in einer Mischung aus Schock, Panik und Zorn der Regierung umfassende Kontrollmöglichkeiten durch den "USA Patriot Act". Wie weit die Regierung Bush diesen ohnehin sehr weitreichenden Auftrag auslegte, schockierte später selbst jene, die das Sicherheitsgesetz mit verfasst hatten. Dass die National Security Agency die Metadaten aller Telefonate sämtlicher US-Bürger sammelte, weiß die Öffentlichkeit überhaupt nur, weil der Whistleblower Edward Snowden das Programm im Jahr 2013 publik machte.
[…] Ein Gesetz namens "Freedom Act" aus dem Jahr 2015 verfügte daraufhin, dass die National Security Agency die Telefon-Metadaten nicht mehr selbst sammeln durfte, sondern bei den Telefonfirmen abfragen musste. Es war ein Symbol: Zum ersten Mal seit 2001 stimmten überparteiliche Mehrheiten im Parlament dafür, den Sicherheitsapparat einzudämmen, statt ihn immer noch mehr auszuweiten.
Allerdings war dies mehr Korrektur, als Reform. Denn auch danach blieb noch immer sehr viel von dem, was unter Präsident Bush gewuchert war. So darf die NSA weiterhin ohne Anfangsverdacht und ohne richterliche Erlaubnis E-Mails, Kurznachrichten und Telefongespräche bei Internet- und Telekommunikationskonzernen abgreifen, wenn an der Kommunikation Ausländer beteiligt sind. Der Kongress hat diese Vorschrift erst im Jahr 2018 um weitere sechs Jahre verlängert. […]
[…] Wie sich herausgestellt hat, verstößt die Bundespolizei FBI zudem regelmäßig und weitreichend gegen die Vorschriften und durchsucht unerlaubt die E-Mails von US-Bürgern, die zuvor von der NSA eingesammelt wurden. Trotz solcher Verstöße hat ein Sondergericht diese Befugnisse für das FBI erst kürzlich wieder verlängert. […]
Im Drohnenkrieg zeigt sich ein ähnliches Bild. Die gezielten Tötungen von Terrorverdächtigen abseits von Kriegsgebieten, die unter Bush rasch an Bedeutung gewannen, wurden seither immer mehr ausgeweitet. Das unabhängige Bureau of Investigative Journalism geht für die Zeit von 2004 bis 2020 in Afghanistan, Somalia, Pakistan und Jemen von insgesamt Tausenden Toten aus, darunter Hunderte von unbeteiligten Zivilisten und Kindern. Die US-Regierung gibt deutlich niedrigere Zahlen an, wenn sie denn überhaupt Zahlen angibt. Obama erließ zwar einige bürokratischen Regeln, aber im Kern blieb es dabei, dass der Staat das Kriegsrecht praktisch auf die ganze Welt ausweitete und damit mutmaßliche Terroristen auch in den entferntesten Winkeln der Erde gleichsam mit der Fernbedienung töten konnte.
Nur wenige Jahre später schaffte Nachfolger Donald Trump das bisschen Transparenz, das Obama der Öffentlichkeit zugestanden hatte, auch noch ab […] Amerikas Drohnenkrieg, der zu einem zentralen Werkzeug im Kampf gegen den Terror geworden ist, bleibt damit eine schwer durchschaubare, für Willkür anfällige Operation. Viele Menschen in Krisengebieten, die allermeisten davon Muslime, empfinden die Drohneneinsätze als blanke Tyrannei, vor der sie weder das eigene Haus – und noch weniger das Recht – schützen kann.
Außer Kontrolle geraten ist auch die Geheimniskrämerei der Regierung. Nach 9/11 geriet diese Unsitte in Washington zu einer Besessenheit: Abgeschottet von der Öffentlichkeit machte die Exekutive, was sie wollte und umging damit das Parlament. Dabei nutzte sie weitreichende Befugnisse des Präsidenten oder berief sich auf vertrauliche Rechtsgutachten, die diverse Exzesse rechtfertigen sollten. Wiedereinführung der Folter, elektronische Datensammelwut oder Drohnenschläge wucherten lange im Verborgenen. Vieles wurde nur durch Indiskretionen von Chelsea (damals Bradley) Manning, Edward Snowden und zahlreicher Quellen von Journalisten bekannt. Schon unter Präsident Obama wurden jene aus dem Apparat, die Geheimnisse verrieten, mit großer Härte verfolgt, wobei Obama am Ende immerhin Manning begnadigte. Dem Wikileaks-Gründer Julian Assange dagegen widerfuhr keine Milde. […] Diese unverhältnismäßige Härte sollte zweifellos so zu verstehen sein, dass Aufklärer Staatsfeinde sind.
Ein bleibender Angriff auf das Recht ist es auch, für Gefangene im Krieg gegen den Terror die ordentlichen Gerichte auszuschalten. Ramsi bin al-Schibb und seine mutmaßlichen Komplizen warten in Guantánamo noch immer auf ihren Prozess, weil das Vorverfahren nicht vorankommt. Es liegt an den Problemen mit dieser eigens geschaffenen Form der Militärgerichtsbarkeit, deren Abläufe nicht erprobt und völlig strittig sind. Es liegt an Problemen rund um die Geheimhaltung von Beweisen. Erschwert wird das Verfahren auch durch die Traumatisierung der Gefangenen, denen von der CIA Aussagen unter Folter abgepresst wurden.
Manche Juristen in Guantánamo sagen voraus, dass es nie zum eigentlichen Prozess kommen wird. Es wäre dann eine Art Patt: Die Verdächtigen würden dann zwar nie zum Tode verurteilt, blieben aber dauerhaft inhaftiert. Ewige Haft ohne Urteil – dass dies auch 20 Jahre nach den Anschlägen eine reale Möglichkeit ist, zeigt, wie nachhaltig der 11. September 2001 den Rechtsstaat verändert hat.
Nicolas Richter, "Ewiger Ausnahmezustand", in: Süddeutsche Zeitung vom 18. August 2021
Dabei hatte der Amtsantritt Barack Obamas und seines Vizepräsidenten Joe Biden zunächst bei vielen Hoffnung auf einen Kurswechsel geweckt. "Change we can believe in" und "Yes, we can" hatten ihre Wahlkampfparolen gelautet. Am 20. Januar 2009, in seiner Amtsantrittsrede, bekundete Obama: "Wir verweigern uns gegen die irreführende Wahlmöglichkeit zwischen unserer Sicherheit und unseren Idealen." Der Hoffnungsträger versprach, der von den Gründervätern verfassten Charta zur Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten wieder neuen Glanz zu verleihen. "Diese Ideale erleuchten immer noch die Welt, und wir geben sie nicht preis, nur weil es zweckdienlich erscheint", so Obama in seiner Ansprache.
Doch dem Verfassungsjuristen Obama ist es in seiner achtjährigen Amtszeit nicht gelungen, die inneren Kollateralschäden des "Globalen Krieges gegen den Terrorismus" und den internationalen Ansehensverlust der einstigen liberalen Vorbilddemokratie zu beheben und den nationalen Sicherheitsstaat wieder zurückzubauen.
Es sollte sich herausstellen, dass nicht einmal die parlamentarischen Aufsichtsorgane, die den Machtmissbrauch der Geheimdienste verhindern sollten, vor den Spähangriffen und den Manipulationen, etwa der Central Intelligence Agency (CIA), dem Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten, sicher waren. Selbst die Senatorin Dianne Feinstein, die die Arbeit der US-Geheimdienste stets wohlwollend unterstützt hatte, wurde ein Opfer der Attacken der CIA, als der von ihr geleitete Ausschuss die Wirksamkeit von Folterpraktiken der Sicherheitsdienste prüfte. Feinstein stellte die für eine liberale Demokratie grundlegende Frage, ob die Aktivitäten der CIA künftig vom Kongress überprüft werden könnten oder "ob unsere Arbeit vereitelt werden kann durch jene, die wir beaufsichtigen".
Nachdem der damalige CIA-Direktor John Brennan zunächst damit gedroht hatte, auch noch die zentrale Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten, das Federal Bureau of Investigation (FBI), auf die Senatsmitarbeiter anzusetzen, um deren angeblich kriminelle Handlungen zu untersuchen, musste er im Sommer 2014 zugeben, dass die Computer der Senatsmitarbeiter von seiner Behörde gehackt wurden und Dokumente, unter anderem ein CIA-interner Untersuchungsbericht über Folter, verschwunden waren.
Eigentlich ist der Präsident verantwortlich dafür, was in "seiner" Exekutive geschieht. Offen blieb, ob Barack Obama davon gewusst hatte oder nicht. In beiden Fällen ergibt sich ein beunruhigendes Bild für den Zustand der amerikanischen Demokratie – und ihrer grundlegenden Sicherung durch Gewaltenkontrolle.
Konkurrenz und Kontrolle der Machthabenden: checks and balances
Um Machtmissbrauch zu verhindern, haben die Architekten der US-amerikanischen Verfassung mehrere Kontrolldimensionen verankert:
Erstens verleiht der Souverän, das heißt heute die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger, die Macht an ihre Repräsentanten nur auf Zeit (temporale Machtkontrolle), damit diese ihnen Rechenschaft schuldig bleiben (siehe Kapitel "
Interner Link: Konkurrenz und Kontrolle: temporale Macht durch Wahlen ").Zweitens verlangt die föderale Struktur, die Machtbefugnisse der den Bürgerinnen und Bürgern näherstehenden Einzelstaaten mit jenen des Gesamtstaates in Einklang zu bringen (vertikale Machtkontrolle). Dies musste nicht zuletzt auf den Schlachtfeldern des Bürgerkrieges (1861–1865) und in bis heute andauernden höchstrichterlichen Auseinandersetzungen ausgefochten werden (siehe Kapitel "
Interner Link: Konkurrenz und Kontrolle: vertikale Gewaltenteilun g").Drittens gibt es sowohl auf einzelstaatlicher Ebene als auch auf der Ebene des Gesamtstaates eine horizontale Machtkontrolle durch die Teilung der Gewalten in die gesetzgebende (Legislative), die ausführende (Exekutive) und die richterliche Gewalt (Judikative) (siehe Kapitel "
Interner Link: Konkurrenz und Kontrolle: horizontale Gewaltenteilung ") .