Wie die Parteien bei der Wahl 2021 abschneiden, hängt von mehreren miteinander verbundenen Faktoren ab: der – eben beschriebenen – Ausgangslage des Parteiensystems zu Beginn des Wahlkampfes, den Spitzen- bzw. Kanzlerkandidierenden, den Themen, die die Wahlauseinandersetzung prägen, der Kampagne selbst und den Auswirkungen möglicher oder erwartbarer Regierungsbündnisse.
Als erstes sind die Spitzenkandidierenden der Parteien zu nennen, vor allem diejenigen, die sich um die Kanzlerschaft bewerben. Sie stehen seit Ende April fest. Dass mit den Grünen zum ersten Mal eine dritte Partei jenseits von Union und SPD mit einer eigenen Kanzlerkandidatin und tatsächlichen Erfolgschancen ins Rennen geht, markiert die Zäsur, die in der Entwicklung des Parteiensystems seit 2018 eingetreten ist. In der Direktwahlfrage lagen alle drei Kandidierenden – Armin Laschet für die Union, Olaf Scholz für die SPD und Annalena Baerbock für die Grünen – im Mai 2021 relativ nahe beieinander.
Kandidierende
Die schwierigste Aufgabe und der größte Druck lastet unter den drei Kandidierenden auf Armin Laschet. Er muss das Kanzleramt für die Union verteidigen, kann dies aber nicht in der Rolle und mit dem Bonus eines Amtsinhabers tun. Dass die Machtteilung mit der Kanzlerin auch für ihn – ähnlich wie zuvor für Kramp-Karrenbauer – Schwierigkeiten mit sich bringt, zeigte sich bereits im Vorfeld seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten, weil Merkel es in seinem Duell mit Söder vermied, eine Position zu beziehen. Als Problem könnte sich für den Unionskandidaten auch erweisen, dass der programmatische Erneuerungsprozess in der CDU seit 2019 so gut wie zum Erliegen gekommen ist. Zum Zeitpunkt von Laschets Kandidatur hatten CDU und CSU als einzige der sechs Bundestagsparteien noch kein Wahlprogramm beschlossen oder einen Entwurf für ein solches vorgelegt. All das musste bis zum Sommer in Windeseile und unter Einbeziehung der Basis nachgeholt werden.
Für die SPD hat die früh beschlossene Kandidatur von Olaf Scholz bis zum Wahlkampfauftakt wenig bewirkt, so wurde die Wählerschaft durch seine Kandidatur (bisher) nicht wirklich mobilisiert. Scholz wurde zwar ohne ernsthaften Herausforderer von der Parteiführung einvernehmlich bestellt und kann auf die Unterstützung seiner Partei vertrauen. Dass er bei der Wahl zum SPD-Vorsitzenden 2019 unterlag, bleibt aber eine schwere Bürde. Hoffnung setzt die Partei vor allem in die heiße Wahlkampfphase, in der sie auf den Noch-Regierungspartner Union keine Rücksichten mehr nehmen muss. Scholz’ Regierungserfahrung als langjähriger Bundesminister und Erster Bürgermeister in Hamburg sowie sein betont sachlich-nüchterner Regierungsstil, der dem von Angela Merkel ähnelt, könnten als Argumente für den Kandidaten in die Waagschale geworfen werden.
Bei der Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock stellt sich die Herausforderung umgekehrt dar: Sie wird im Wahlkampf dem expliziten oder nur angedeuteten Vorwurf entgegentreten müssen, dass es ihr an Regierungserfahrung fehle. Wieweit dies Wirkung erzielt, hängt sicherlich auch davon ab, ob ihre Gegenkandidaten Laschet und Scholz die von ihnen bzw. ihren Parteien verantwortete Regierungsbilanz als Beleg für den Nutzen einer größeren Regierungserfahrung glaubhaft ins Feld führen können. Innerparteilich kann Baerbock auf den vollen Rückhalt der Grünen zählen. Das gilt auch für Robert Habeck, der mit ihr um die Kanzlerkandidatur rivalisierte und als das zweite Gesicht der Partei im Wahlkampf eine herausgehobene Rolle spielen dürfte. Dass Habeck und Baerbock die Kandidatenfrage ohne die Mitsprache anderer Teile der Parteiführung und der Basis an der Öffentlichkeit vorbei unter sich ausmachten, vermittelte zu Beginn des Wahlkampfs das Bild einer nach außen hin geschlossen auftretenden Partei.
Bei den übrigen Parteien gestaltete sich die Suche nach Spitzenkandidierenden unterschiedlich. Während in der FDP die erneute Spitzenkandidatur des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Christian Lindner gesetzt war und die Landesliste der CSU erwartungsgemäß vom Vorsitzenden ihrer Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, angeführt wird, gab es in der Linken und in der AfD, die mit jeweils zwei Personen an der Spitze antreten, ein breites Feld potenzieller Bewerberinnen und Bewerber. Die Linke verständigte sich wie bei der Bundestagswahl 2017 darauf, mit Dietmar Bartsch, dem Ko-Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, ins Rennen zu gehen. An seine Seite tritt die neue Parteivorsitzende Janine Wissler, die dem linken Parteiflügel angehört. In der AfD traten mit Alice Weidel / Tino Chrupalla und Joana Cotar / Joachim Wundrak zwei Teams gegeneinander an, wobei sich die erstgenannten im Mitgliedervotum Ende Mai klar durchsetzten. Dies lässt sich als Richtungsentscheidung zugunsten des radikalen und rechtsaußen angesiedelten Teils der Partei deuten, nachdem das Team Cotar/Wundrak von Jörg Meuthen – dem Ko-Vorsitzenden und Vertreter des gemäßigteren Flügels – offen unterstützt worden war.
Themen
Wieweit das Pandemiemanagement den Wahlkampf bestimmen wird, ist schwer abschätzbar. Je schneller es durch den Fortschritt der Impfprozesse gelingt, zu einem wieder halbwegs normalen Leben zurückzukehren, um so günstiger dürfte sich das auf die Wahlchancen von Union und SPD auswirken. Eine größere Rolle werden dann die Fragen spielen, die die Folgen der Coronakrise betreffen: Wie kommt die Wirtschaft wieder in Schwung? Wer trägt die Schuldenlasten? Sollte man die "Schwarze Null" längerfristig aussetzen? Brauchen wir Steuererhöhungen und falls ja, welche Gruppen der Gesellschaft werden dadurch besonders belastet? Wie können die durch die Krise gewachsenen Bildungsungleichheiten aufgefangen werden? Müssen wir mehr in den Gesundheitsbereich und die Pflege investieren? Braucht es mehr Regulierungen in der Arbeitswelt (zum Beispiel ein Recht auf Homeoffice)? Wer aus dieser Agenda den meisten Nutzen zieht, hängt davon ab, ob die Prioritäten der Wählerinnen und Wähler eher auf der Ankurbelung der Wirtschaft und Rückgewinnung des gewohnten Lebensstils liegen oder aber auf einer an Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitskriterien ausgerichteten Neuorientierung.
Eine Schlüsselrolle wird in jedem Falle der Klimaschutz spielen. In der Auseinandersetzung geht es hier vor allem um dessen Vereinbarkeit mit wirtschaftlichen und sozialen Zielen. Dies birgt viel Zündstoff, weil die Maßnahmen, die für die Erreichung der Reduktionsziele notwendig sind, in fast alle Lebensbereiche der Bevölkerung eingreifen – bei der Energieversorgung, im Verkehr, bei der Ernährung, beim Reisen und beim Konsum. Klassische Unterschiede zwischen linken und rechten Positionen überlappen sich in der Klimaschutzfrage mit einem grundsätzlicheren Modernisierungskonflikt, in dem "Beharrung" und "Veränderung" die jeweiligen Pole bilden. In dieser Gemengelage müssen die Parteien ihren Standort bestimmen und die Punkte benennen, in denen sie sich von der Konkurrenz unterscheiden.
Antworten werden von den Wettbewerbern aber auch zu vielen anderen Fragen erwartet, sodass der Wählerschaft die Übersicht bei sechs Parteien (zu denen sich noch zahlreiche weitere zur Wahl zugelassene Kleinstparteien gesellen) leicht verloren gehen kann. Formate wie der von der Bundeszentrale für politische Bildung angebotene Wahl-O-Mat, der einen Abgleich der eigenen Positionen mit den verschiedenen Wahlprogrammen der Parteien spielerisch ermöglicht, werden daher vielfach genutzt.
Wahlkampf
Zugkräftige Kandidierende und eine günstige Themenagenda sind für politische Parteien keine Selbstgänger, sondern müssen durch eine auf sie zugeschnittene Wahlkampagne erst umgesetzt und der Wählerschaft vermittelt werden. Der jetzt bevorstehende Wahlkampf wird sich von seinen Vorgängern darin unterscheiden, dass er aufgrund der Coronavirus-Pandemie zu einem noch größeren Teil im Netz stattfinden wird. Das Internet verändert die Kampagnenführung in doppelter Hinsicht. Es erleichtert und beschleunigt die interne Kommunikation; die Wahlkampfteams werden vernetzt und von der Zentrale in dichter Folge mit aktuellen Informationen und "Botschaften" versorgt. Außerdem ergänzt der koordinierte Einsatz von Mails, SMS, Blogs, Videoportalen sowie Facebook, Twitter und Instagram die herkömmlichen Formen der Wähleransprache.
Letztere büßen ihre Bedeutung dadurch nicht ein. Ein erheblicher Teil gerade der älteren Wählerschaft informiert sich nach wie vor ausschließlich über die klassischen Formate, andere nutzen die alten und neuen Formate parallel. Zwischen den Parteien gibt es dabei große Unterschiede. Am bedeutsamsten sind die Sozialen Medien bei der AfD, während die Wählerinnen und Wähler der Union weiterhin am besten mithilfe der traditionellen Medien erreichbar sind. Auch nichtmediale Formen der Ansprache wie die von der SPD seit 2009 verstärkt eingesetzten Haustürbesuche erfahren in den Wahlkampagnen eine Renaissance und treten neben die Mittel des traditionellen Straßenwahlkampfs mit Ständen, Plakaten und Flyern. Wieweit sie in diesem Wahlkampf zum Einsatz kommen können, hängt vom Verlauf der Coronavirus-Pandemie ab.
QuellentextDie ständige Vertrauensfrage
[…] Das Grundgesetz kennt, im Artikel 68, die Institution der Vertrauensfrage. Der Bundeskanzler kann sie im Bundestag stellen, um eine Regierungskrise zu lösen […]. Aber im Grunde ist jede Wahl […] wörtlich gesehen nichts anderes als eine Vertrauensfrage. Wem darf man als Wähler und Wählerin vertrauen? Oder zumindest, bei wem ist am wenigsten Misstrauen nötig?
[…] Wie entsteht überhaupt Vertrauen, ganz grundsätzlich? Und wie lässt sich verlorenes Vertrauen wiedergewinnen?
Vertrauen ist unabdingbar, im Leben wie in der Politik. […] Die allerwenigsten Menschen haben Lust und Zeit, ihren Kopf mit der Wirkung von Steuererhöhungen oder Vektor-Impfstoffen zu belasten. Vertrauen ist eine "wirksamere Form der Reduktion von Komplexität", so hat Niklas Luhmann, der Soziologe, es formuliert. Was Politiker und Politikerinnen betrifft, mag man sich zwar einbilden, sie irgendwie bei der Arbeit beobachten zu können […]: indem man ihren Auftritten zuschaut, indem man ihre Interviews liest. […]
Doch Begabung auf der Bühne ist das eine, Begabung in der politischen Werkstatt das andere. […]
Zur Bundestagswahl rufen Parteien Spitzenkandidaten und -kandidatinnen aus; […] Menschen stimmen nun mal oft nach ihrem Bauchgefühl ab, und ihr Bauch orientiert sich weniger an Programmen, […] sondern an Menschen. Die Nominierung von Spitzenleuten ist also eine vertrauensbildende Maßnahme. […]
Grundlegend ist, dass die Menschen einen für redlich halten. Die meisten gestehen jedem Fehler und Irrtümer zu. Was sie aber niemandem verzeihen: eine versteckte, unausgesprochene Agenda, womöglich noch zum eigenen materiellen Vorteil; ganz gleich, ob es sich um das Haupt- oder das Nebenziel handelt. […]
[…] Redlichkeit ist das Grundlegende, Kompetenz ist das nächste, auf das es ankommt. […]
[…] Vertrauen entsteht auch durch Kontinuität im Reden und Handeln, dadurch, dass jemand seit Jahr und Tag einen Kurs vertritt und hält. […]
Schließlich: Offenheit. Zu den Eigenarten vieler nur vorübergehend erfolgreicher Menschen gehört, dass sie meinen, nur das jeweils Nötigste mitteilen zu müssen. Dies schätzen aber weder Vorgesetzte noch Untergebene, und in der Politik, wo die Wählerinnen und Wähler letztlich beides sind, hat die Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Transparenz schon oft über Karrieren entschieden. Weil es auf beides ankommt: den Auftritt auf der Bühne und den in der Werkstatt, und weil auch in der Werkstatt so vieles zu besprechen und zu klären ist, besteht Politik mindestens zur Hälfte aus gelingender oder misslingender Kommunikation. […]
Und, was heißt dies alles nun, zum Beispiel vor der Bundestagswahl? Grundsätzlich ist die Chance für Politiker und Politikerinnen da, Vertrauen zurückzugewinnen. Die allermeisten Wähler und Wählerinnen beschäftigen sich mit Politik nur höchst nebenbei. […] Die allermeisten sind nachsichtig, grundsätzlich. […]
Detlef Esslinger, "Eine Frage des Vertrauens", in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Juni 2021
Mögliche Regierungsbündnisse
Überwölbt werden die inhaltlichen Themen von der für die Regierungsbildung am Ende entscheidenden Koalitionsfrage. Auch hier kommen die Parteien nicht umhin, sich zu positionieren. Die Wahlumfragen werden bis zum Wahltag Woche für Woche anzeigen, welche Konstellationen jeweils mehrheitsfähig wären. Die politischen Akteure müssen dann vor der Wählerschaft deutlich machen, ob sie die entsprechenden Bündnisse anstreben oder sie sich zumindest vorstellen können.
Nach der nur knapp gewonnenen Bundestagswahl 2005 ging die Union aus allen drei nachfolgenden Wahlen als mit Abstand stimmenstärkste Partei hervor und konnte deshalb sichergehen, dass eine Mehrheitsbildung gegen sie nicht möglich war. Das hat sich mit dem Erstarken der Grünen inzwischen geändert – und das nicht erst seit der Coronakrise. Zwei Alternativen zu einer unionsgeführten Regierung stehen im Raum: ein grün-rot-rotes Bündnis aus SPD, Linke und Grünen oder eine Ampelkoalition aus Grünen, SPD und FDP.
An der Parteibasis gäbe es bei den Grünen wie auch bei der SPD vermutlich eine Präferenz für das Linksbündnis, die von den Wählerinnen und Wählern beider Parteien allerdings nicht im selben Maße geteilt wird. Ob es für eine solche Koalition rechnerisch reichen würde, wenn diese vor der Wahl als wahrscheinlichste Variante tatsächlich ins Spiel käme, bleibt zweifelhaft. Anders verhält es sich mit der Ampelkoalition. Deren Akzeptanz in der Wählerschaft war zwar zu Beginn des Wahlkampfs (im Juni 2021) noch eher gering. Das dürfte aber vor allem daran liegen, dass die Bürgerinnen und Bürger sich dieser Möglichkeit bisher kaum bewusst sind und von den Ländern lediglich Rheinland-Pfalz ein Beispiel für ein solches Bündnis liefert.
Wenn der Eindruck nicht trügt, besteht bei den Parteispitzen sowohl der Grünen als auch der SPD inzwischen eine klare Präferenz für die "Ampel". Senden sie im Wahlkampf entsprechende Signale aus, ließen sich in der Tat mehrere Probleme gleichzeitig lösen. Erstens würden zusätzliche Wählerinnen und Wähler in der Mitte angesprochen, zumal aus dem Unionslager, für die dann mit der FDP eine bürgerliche Alternative bereitstünde. Dass die seit Januar 2021 rückläufigen Umfragewerte der Union mit Zuwächsen für die Liberalen einhergehen, deutet diesen Effekt an. Zweitens müssten die unüberbrückbaren Differenzen mit der Linken in der Außenpolitik im Wahlkampf nicht schöngeredet werden, die nach wie vor die größte Hürde für eine Zusammenarbeit sind. Und drittens könnte die Aussicht auf eine Ampel das "Schreckgespenst" bannen, das Teile der Gesellschaft in einem rot-rot-grünen Bündnis sehen, und Warnungen der Union und der FDP vor einer Linkskoalition ins Leere laufen lassen.
Eine arithmetische Mehrheit für eine Ampel bedeutet aber noch nicht automatisch, dass es auch zu einer solchen Koalition kommt. Das hängt zum einen davon ab, ob es andere, ebenfalls mehrheitsfähige Bündnisse gibt, die für die beteiligten Parteien womöglich attraktiver sind. Das gilt vor allem für Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz, aber auch für eine Jamaika-Koalition, bestehend aus Union, FDP und Grünen. Zum anderen spielt das Ämterstreben eine Rolle. Der Blick auf dasselbe Bündnis kann sich deutlich ändern, je nachdem, ob man in diesem als stärkste Partei den Regierungschef stellen kann oder nicht. Relativ klar läge der Fall, wenn die Grünen in einem Bündnis mit der Union der Juniorpartner wären, in einer Ampelkoalition hingegen als stärkste Partei die Regierung anführen könnten: Hier wäre ihre Präferenz für das womöglich kompliziertere Dreierbündnis gewiss. Müssten sie in einer Ampelkoalition der SPD und Olaf Scholz den Vortritt lassen, würde die Entscheidung davon abhängen, ob politikinhaltlichen Erwägungen (was eher für die Ampel spräche) oder Ämterstreben (was eher für das Bündnis mit der Union spräche) der Vorzug gegeben wird.
Welches Szenario eintritt, hängt vor allem davon ab, wie sich die Wählerinnen und Wähler angesichts dieser Konstellationen entscheiden werden.