Der konkrete Handlungsspielraum einer Ratspräsidentschaft wird in der Regel durch eine Mischung aus eigenen Prioritäten, den ohnehin geplanten Vorhaben der EU sowie externen Einflüssen bestimmt. Der deutsche Ratsvorsitz 2020 wird vorrangig von der Coronavirus-Pandemie sowie ihren wirtschaftlichen und politischen Folgen geprägt sein. Dementsprechend will die deutsche Bundesregierung die Herausforderungen der Pandemie ins Zentrum der deutschen Ratspräsidentschaft stellen.
EU-Verhandlungen in Zeiten von Corona:
Logistisch muss sich die Arbeitsweise des Rates auf die jeweilige Entwicklung der Corona-Pandemie einstellen. Der Rat funktioniert über eine Vielzahl von Ministertreffen, Sitzungen der Ständigen Vertreter und Ratsarbeitsgruppen, in Brüssel, Luxemburg und im Land der Präsidentschaft. Wegen der hohen Ansteckungsgefahr wurde ab Februar 2020 der Großteil der EU-Sitzungen über Videokonferenzen durchgeführt. Auch entscheidende Beschlüsse wie das 500 Milliarden Euro-Paket der Eurogruppe zur Hilfeleistung gegen die Folgen der Pandemie verhandelten die Finanzministerinnen und -minister per Video. Die Kapazitäten für vertrauliche Verhandlungen per Video sind jedoch begrenzt, viele Ratstreffen und Triloge mussten vertagt werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft wird sich unter diesen erschwerten Bedingungen sehr viel stärker auf digitale Kommunikationsformen stützen und auswählen, welche Treffen physisch, per Videokonferenz oder gar nicht stattfinden sollen.
Einigung über den EU-Haushalt und Wiederaufbaufonds:
Zentraler Baustein der wirtschaftlichen Reaktion der EU auf die Corona-Pandemie soll ein Wiederaufbaufonds werden. Dieser wird als Teil des "Mehrjährigen Finanzrahmens" (MFR) der EU das voraussichtlich wichtigste Projekt der deutschen Ratspräsidentschaft. Im MFR legt die EU jeweils für sieben Jahre die Grundsätze ihres Haushalts fest, der nächste MFR umfasst die Jahre 2021 bis 2027. Die Verhandlungen über den MFR gehören auch unter normalen Umständen zu den schwierigsten in der EU, da nicht nur die politischen Prioritäten festgelegt werden, sondern auch, welche Staaten als Nettoempfänger besonders vom EU-Haushalt profitieren und welche als Nettozahler besonders viel beitragen. Notwendig sind eine Einigung zwischen den nationalen Regierungen im Europäischen Rat und ein anschließendes Übereinkommen zwischen Rat und Parlament. Hier kommt die Ratspräsidentschaft ins Spiel. Für den wirtschaftlichen Wiederaufbau soll der EU-Haushalt mit einem "Wiederaufbaufonds" deutlich aufgestockt werden, der nach Vorschlag der Kommission bis zu 750 Milliarden Euro umfassen soll. Nach Vorschlag von Deutschland und Frankreich soll die EU hierfür auch erstmals in größerem Rahmen eigene Schulden machen und diese Mittel für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen. Für Deutschland wird das ein schwieriger Balanceakt, da es die Rolle als neutraler Vermittler mit den Interessen als größter Nettozahler in Einklang zu bringen hat.
Moderation der EU-Gesetzgebungsinitiativen:
Politisch und inhaltlich fällt die Präsidentschaft in die beginnende Legislaturperiode der neuen EU-Kommission unter Ursula von der Leyen. Sie wurde nach den Europawahlen vom Mai 2019 im November 2019 vom Europäischen Parlament bestätigt und wollte im Frühjahr 2020 die ersten großen Gesetzesinitiativen vorlegen, darunter das Vorhaben zum "European Green Deal", die EU-Regulierung zu künstlicher Intelligenz, der weitere Ausbau des digitalen Binnenmarkts und ein Gesetzesentwurf zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung in Europa. Nach ursprünglicher Planung hätte der deutsche Ratsvorsitz diese ersten Initiativen im Rat zwischen den Mitgliedstaaten sowie in den Trilogen mit Parlament und Kommission verhandeln sollen.
Die Ausbreitung des Coronavirus hat die Prioritäten der Gesetzgebungsinitiativen in den EU-Institutionen jedoch verändert und der deutsche Vorsitz ist vorranging als Krisenmanager gefragt. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie sowie die weitere Koordination von Beschränkungen und wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen überlagern einen Großteil der geplanten "Gestaltungsprojekte" und erfordern die laufende Aktualisierung der Prioritäten. Den Vorhaben im Bereich der Digitalisierung werden die deutsche Präsidentschaft und die Kommission einen höheren Rang beimessen. Denn die Notwendigkeit "sozialer Distanz" angesichts der hohen Ansteckungsgefahr erfordert eine erhöhte digitale Flexibilität und die Neugestaltung von Arbeit. Dadurch haben Politikfelder wie Datenpolitik, künstliche Intelligenz und der digitale Binnenmarkt eine zusätzliche Brisanz gewonnen.
Klimapolitik:
Ein weiterer geplanter Schwerpunkt, der unter den Vorzeichen der Coronavirus-Pandemie neu gedacht werden muss, ist die Klimapolitik. Im Zentrum der europapolitischen Debatte über den Green Deal steht nun die Frage, welche Rolle der Klimaschutz beim wirtschaftlichen Wiederaufbau spielen soll. Diejenigen, die dem Green Deal kritisch gegenüberstehen, fordern angesichts der hohen wirtschaftlichen Kosten der Pandemie, weitere Auflagen für die europäische Industrie zu verschieben. Diejenigen, die den Green Deal befürworten, argumentieren hingegen, dass auch die Klimakrise eine große Herausforderung für die Menschheit bleibt und der Wiederaufbau genutzt werden solle, um den notwendigen strukturellen Wandel der europäischen Wirtschaft voranzutreiben. Auch in diesem Themenbereich wird deutsches Verhandlungsgeschick auf die Probe gestellt, da die Subventionen für den klimagerechten Wandel strukturschwächerer Mitgliedstaaten aller Wahrscheinlichkeit nach geringer ausfallen werden als vor der Krise abzusehen war. Deutschland verfügt allerdings als große Industrienation über besondere Überzeugungskraft, wenn sich der deutsche Vorsitz für den Green Deal stark macht.
Zudem hat die Corona-Pandemie demonstriert, dass öffentliche Gesundheit ebenso wichtig für die Zukunft Europas ist, wie ein erträgliches Klima. Deswegen will die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum Green Deal einen "White Deal" hinzufügen. Deutschland wird sich daher auch der Entwicklung einer europäischen Pharmastrategie und der Verbesserung des europäischen Katastrophenschutzes widmen.
Eintreten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit:
Ein weiteres politisch heikles Thema für die deutsche Präsidentschaft wird der Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Heikel ist es in zweifacher Hinsicht: Zum einen will die EU-Kommission Vorschläge vorlegen, wie die Rechtsstaatlichkeit in der EU besser geschützt werden kann. Zum anderen steht in der zweiten Jahreshälfte 2020 ohnehin der erste Bericht zur Rechtsstaatlichkeit an. Ein besonderer Fokus liegt auf Polen und Ungarn, gegen die jeweils bereits Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU laufen. Auch hier hat die Coronavirus-Pandemie zur Verschärfung der Lage beigetragen, weil viele EU-Mitgliedstaaten zu deren Bekämpfung Einschränkungen in Grundrechten und öffentlichem Leben beschlossen haben. Extreme Maßnahmen, die in der akuten Phase gerechtfertigt sein mögen, dürfen nach Abklingen der Viruswelle nicht weiter bestehen bleiben. Deutschland muss deutlich Zeichen dafür setzen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschenrechte in Europa sowie an den europäischen Grenzen auch während und nach der Corona-Krise sichergestellt sind. Will sie ihren ethischen Grundlagen als Wertegemeinschaft entsprechen, darf sich die EU bei ihren zentralen Werten keine Ausnahmen erlauben und Deutschland muss sich diesen Werten bedingungslos verpflichtet zeigen.
Harmonisierung der EU-Außenpolitik:
Außenpolitisch steht ebenfalls viel auf der Agenda. Vor dem Ausbruch der Pandemie hatte sich die Bundesregierung als Großthema der Präsidentschaft die EU-Beziehungen zu China vorgenommen und wollte dazu im September 2020 ein Gipfeltreffen in Leipzig veranstalten. Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus hat die globalen Verflechtungen und dabei auch europäische Abhängigkeiten von Produktionsstrukturen in China deutlich gemacht. Dem Umgang mit China nach der Krise wird daher eine hohe Priorität beigemessen; der Gipfel an sich ist jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Noch geplant ist für den Oktober 2020 ein Treffen zwischen EU und Afrikanischer Union; auch dieser Gipfel wird, falls er stattfindet, unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen auf die EU-Afrika-Beziehungen stehen. In das zweite Halbjahr 2020 fallen zudem die wegweisenden Präsidentschaftswahlen in den USA, nach denen die EU-Mitgliedstaaten ihren Umgang mit dem Wahlsieger abstimmen müssen. Ein weiteres außenpolitisches Thema ist die Unterstützung der Nachbarstaaten bei der Bewältigung des Coronavirus im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik.
Verhandlungen nach dem Brexit:
Nicht zuletzt wird sich die deutsche Ratspräsidentschaft auch mit dem Brexit auseinandersetzen müssen. Das Vereinigte Königreich hat die Europäische Union am 31. Januar 2020 verlassen, befindet sich bis zum Ende des Jahres allerdings noch in einer "Übergangsphase". In dieser Zeit ist das Vereinigte Königreich weiter an EU-Gesetze gebunden, Teil von Binnenmarkt und Zollunion und zahlt in den EU-Haushalt ein, hat aber keine Stimmrechte mehr. Um zu verhindern, dass zwischen der EU und Großbritannien ab 2021 wieder Zölle und starke Handelsbeschränkungen eingeführt werden, soll während der deutschen Ratspräsidentschaft ein Abkommen über die zukünftige Zusammenarbeit ausgehandelt werden. Die Verhandlungen dazu führt die EU-Kommission, aber der Ratsvorsitz muss mit dazu beitragen, dass die 27 EU-Staaten in diesen Verhandlungen eine gemeinsame Linie verfolgen und geschlossen bleiben. Auch hier ist jedoch nicht auszuschließen, dass die Coronavirus-Pandemie zu einer Verlängerung der Übergangsphase führt, was die britische Regierung aber mit Stand Juni 2020 ablehnt.
Fazit
Der deutsche Ratsvorsitz 2020 wird keine normale Präsidentschaft. Neben die bereits bestehenden gravierenden Herausforderungen durch den Klimawandel, die Digitalisierung, die Spannungen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, den Brexit und demokratiefeindliche Tendenzen treten die vielen menschlichen Schicksale, wirtschaftlichen Verwerfungen und politischen Spannungen ausgelöst durch das Coronavirus. Sie stellen die EU und damit auch die deutsche Ratspräsidentschaft vor eine große Bewährungsprobe. Erwartungen an Deutschland und Bundeskanzlerin Angela Merkel sind daher ähnlich hoch wie 2007, als Deutschland das letzte Mal den Vorsitz innehatte, denn wieder stehen wegweisende Entscheidungen für die EU an.