Die rotierende Ratspräsidentschaft hat sich im Laufe der europäischen Integrationsgeschichte wesentlich gewandelt. Entscheidende Faktoren für die Ausgestaltung der Präsidentschaft waren insbesondere die Zahl der Mitgliedstaaten und die Kompetenzverteilung unter den Unionsorganen. Aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit ursprünglich sechs Staaten ist heute eine Union von 27 Mitgliedern geworden. Die einzelnen Staaten übernehmen dadurch nicht nur seltener den Vorsitz, sie müssen auch viel mehr EU-Staaten einbinden, um Kompromisse auszuhandeln.
Eigene Zusammenstellung (© Eigene Zusammenstellung)
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Zudem hat sich auch der Charakter des Ratsvorsitzes gewandelt. In schrittweisen Vertragsänderungen ist aus der EWG die EU geworden, die in vielen Politikbereichen Kompetenzen hat. Einen Höhepunkt der Zuständigkeiten erreichte die Präsidentschaft in den 1990er-Jahren, als mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam der Euro, die Innen- und Justizpolitik sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf den Weg gebracht wurden. Gleichzeitig wurden die Entscheidungsprozesse der EU komplexer. In immer mehr Politikbereichen entscheidet das Europäische Parlament gleichberechtigt mit. Auch für die Ratspräsidentschaft wurde daher die Aufgabe, mit dem Parlament und der Kommission zu verhandeln, zunehmend wichtiger.
Deutsche Ratspräsidentschaften im Rückblick
In der Vergangenheit haben deutsche Ratsvorsitze maßgeblich zur Fortentwicklung der EU beigetragen. Gleichzeitig wirkten sich auch die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Deutschland auf die Ratspräsidentschaften aus. Beispiele bieten die beiden Präsidentschaften in den 1990er-Jahren: Der Vorsitz 1994 war gekennzeichnet von der Umsetzung des Maastrichter Vertrages von 1992, der aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union machte. In Finnland, Norwegen und Schweden fanden Beitrittsreferenden statt, mit einem positiven Ausgang in Finnland und Schweden. Zudem war der welthistorische Umbruch nach dem Ende des Kalten Krieges noch im Gange und die postkommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas befanden sich in einer schwierigen Transformationsphase. Auch der 1992 in Bosnien ausgebrochene Krieg setzte sich fort und beschäftigte die EU. Die Ratspräsidentschaft war außerdem die erste des wiedervereinigten Deutschlands und hatte somit eine besondere innenpolitische Bedeutung.
Der deutsche Ratsvorsitz 1999 war ebenfalls geprägt von wichtigen Integrationsschritten: der Vertrag von Amsterdam trat in Kraft, mit den mittel- und osteuropäischen Staaten wurden Beitrittsverhandlungen geführt und die Einführung des Euro wurde vorbereitet. Großes Gewicht legte die deutsche Ratspräsidentschaft auch auf die Verabschiedung der sogenannten Agenda 2000, eines umfassenden Aktions- und Reformprogramms, das die EU-Gemeinschaftspolitik mit Blick auf die EU-Erweiterung stärken sollte. Auch 1999 war die Präsidentschaft innenpolitisch eine Premiere, nämlich die der ersten rot-grünen Regierung nach der "Ära Kohl", der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl von 1982 bis 1998. Unter dem Eindruck der Kriege auf dem Westbalkan begründete die EU 1999 die "Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik" und schaffte die Grundlage für eigene militärische Operationen.
Aufgrund der EU-Osterweiterung 2004 kam Deutschland erst wieder im ersten Halbjahr 2007 zum Ratsvorsitz. Es traf dabei auf eine besondere Herausforderung, da sich das europäische Integrationsprojekt zu diesem Zeitpunkt in einer tiefen Krise befand. Auslöser waren die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 über den europäischen Verfassungsvertrag von 2004. Nach dieser Ablehnung durch zwei EU-Gründungsstaaten befand sich die EU in einer "Denkpause". Im Vordergrund der deutschen Ratspräsidentschaft stand daher das Vorhaben, den Integrationsprozess wieder zu beleben, wichtige Reformen aus dem Verfassungsvertrag zu retten und das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.
Die Bundesregierung, mit Kanzlerin Angela Merkel erstmals in einer europapolitisch prominenten Rolle, konnte während der deutschen Ratspräsidentschaft durch geschickte Verhandlungsführung einen neuen Vertrag aushandeln. Als "Vertrag von Lissabon" wurde er im Dezember 2007 während des portugiesischen Ratsvorsitzes unterzeichnet. Die am 25. März 2007 unterzeichnete "Berliner Erklärung" zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, die die Europäische Gemeinschaft gründeten, gilt dabei als ein besonderer Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft. Obwohl gesetzlich unverbindlich, hatte die Erklärung eine stark richtungsweisende Wirkung: Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages bekräftigte sie die Besinnung der Mitgliedstaaten auf die europäische Idee und sorgte dafür, dass der Reformweg erfolgreich abgeschlossen werden konnte.
Der Vertrag von Lissabon stellte gleichzeitig einen Höhepunkt in der historischen Entwicklung der Ratspräsidentschaft dar. Ab da übernahm der ständige Präsident im Europäischen Rat die Leitung des politisch hochrangigsten EU-Gremiums, der Hohe Vertreter erhielt den Vorsitz im Außenministerrat. Seitdem tritt der Ratsvorsitz weniger prominent nach außen auf, im Vordergrund stehen nun das Management des Rates, das Verhandeln mit anderen EU-Institutionen und die Rolle als ehrlicher Makler.