In Abessinien, dem heutigen Äthiopien, beginnt der Zweite Weltkrieg bereits 1935. Bei ihrem Angriffskrieg setzt die italienische Invasionsarmee auch Giftgas ein. Foto einer Londoner Zeitung vom 31. August 1935. (© akg-images / De Agostini / Biblioteca Ambrosiana)
Die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, den die Alliierten – auch – um ihre Vorstellungen von Recht und Freiheit führten, hinterfragten und schwächten die Dominanz der europäischen Kolonialmächte. In Asien, wo während des Kriegs Japan zur regionalen Vormacht aufgestiegen war, konnten sie ihre alte Position nach 1945 nicht wieder einnehmen. Hier setzte nun die Dekolonisation mit aller Macht ein, noch bevor dann auch der Nahe und Mittlere Osten sowie Afrika unabhängig wurden.
Indes blieben die Folgen kolonialer Erfahrungen überall spürbar, in Krisen und Konflikten, die teils bis heute nachwirken. Dies gilt nicht allein für die ehemaligen Kolonien, sondern ebenso für die Europäer selbst. Sie mussten sich neu orientieren. Die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg war Teil dieser Neuorientierung. Doch auch in den nun entstehenden Europäischen Gemeinschaften blieben Spuren des kolonialen Erbes erkennbar. Die Vorstellung, die Europäer bzw. der Westen hätten eine besondere Zivilisierungsaufgabe in der Welt, blieb zählebig und verlor nur langsam an Bedeutung.
Der Zweite Weltkrieg und die Illusion kolonialer Einheit
Begann der Zweite Weltkrieg am 3. Oktober 1935? Vor allem afrikanische Historiker haben dafür plädiert, dieses Datum und nicht den 1. September 1939, den Tag des deutschen Überfalls auf Polen, als Kriegsbeginn zu setzen. Vieles spricht für ihre Deutung: Am 3. Oktober 1935 marschierten Truppen des faschistischen Italien ohne vorherige Kriegserklärung in Äthiopien ein. Ein regelrechter Vernichtungskrieg begann, die italienischen Truppen setzten unter Missachtung des bestehenden Völkerrechts Giftgas, Brand- und Splitterbomben ein und richteten ihre Angriffe auch gegen die afrikanische Zivilbevölkerung. Zwar vermochten sie ihre Übermacht gegen die äthiopischen Truppen rasch auszuspielen, doch gegen die Armeen und die Flotte Großbritanniens, dem Italien 1940 den Krieg erklärte, war Mussolinis Militär machtlos; nur ein Jahr später mussten die Italiener Äthiopien aufgeben.
Die ungewohnte Datierung des Kriegsbeginns – 1935 anstelle von 1939 – lenkt den Blick darauf, dass der Zweite Weltkrieg auch in den Kolonien hart und erbarmungslos geführt wurde. Und sie waren nicht nur Schauplatz bewaffneter Auseinandersetzungen, sondern zugleich Beuteobjekt, denn die faschistischen Mächte Italien, Deutschland und Japan verfolgten unverhohlen Eroberungspläne in Afrika und Asien. Im September 1939 teilten sie weite Teile der beiden Kontinente auf dem Papier untereinander auf.
Auch die nationalsozialistischen Machthaber, die koloniale Eroberungen lange Zeit hinter ihrem Hauptziel, Deutschland "Lebensraum im Osten" Europas zu sichern, zurückgestellt hatten, sahen nach ihrem Sieg über die europäischen Kolonialmächte Frankreich und Belgien 1940 eine günstige Gelegenheit gekommen, ihre Herrschaft nach Afrika auszudehnen. Dahinter standen die strategischen Erwägungen, auf diese Weise Großbritannien und sein Empire nachhaltig zu schwächen und in Afrika den eigenen Bedarf an Rohstoffen und Kolonialprodukten zu sichern.
Kolonien als Planungs- und Aktionsfeld derJudenverfolgung
Zwei Jahre lang intensivierte das NS-Regime nun seine kolonialen Initiativen, die sich zeitweise mit dem von ihm vorangetriebenen Völkermord an den europäischen Juden verschränkten. So wurde die Insel Madagaskar, vor der Küste Ostafrikas gelegen, zeitweilig als Zielort für die Deportation von rund vier Millionen europäischer Juden in Betracht gezogen, wo die überwiegende Mehrzahl von ihnen, bedingt durch die klimatischen und ökonomischen Verhältnisse der tropischen Insel, mit großer Sicherheit nicht überlebt hätte. Der Seekrieg gegen Großbritannien verhinderte die Umsetzung dieses Vorhabens. 1939/40 zog die Regierung in London dann ihrerseits die britische Kolonie Guyana in Betracht, um den durch die Nationalsozialisten verfolgten Juden und Jüdinnen ein sicheres Terrain zu erschließen. Keiner dieser Pläne wurde verwirklicht.
Durch die Kollaboration mit dem französischen Vichy-Regime, das nach der militärischen Niederlage Frankreichs am 16. Juni 1940 in starker Abhängigkeit vom Deutschen Reich verblieb, erreichte die deutsche Politik der Judenvernichtung auch Nordafrika. Dort wurden antijüdische Gesetze erlassen, Menschen jüdischer Herkunft deportiert oder zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Bei arabischen Akteuren fanden die Deutschen ebenfalls oft willige Unterstützung, da sie sich selbst gegen die zunehmende jüdische Besiedlung Palästinas zur Wehr setzten. Eine führende Rolle übernahm dabei der islamische Geistliche und Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini. Freilich kam es auch vor, dass Araber sich aktiv für Verfolgte einsetzten. So gewährte der muslimische Tunesier Khaled Abdul-Wahab mehreren jüdischen Familien Zuflucht auf dem elterlichen Bauernhof.
Kolonien als Reservoir für wichtige Kriegsgüter
Das Hauptinteresse der deutschen Politik galt den Erdölvorkommen im Nahen und Mittleren Osten sowie den kriegswichtigen Bodenschätzen Afrikas. Mit dem Start von Projekten zum Bau von Atombomben wurden die Uranvorkommen im Kongo nicht nur für die Deutschen, sondern auch für ihre alliierten Kriegsgegner interessant.
Für den Kriegseinsatz der Alliierten hatten die Kolonien zentrale Bedeutung. Neben Bodenschätzen wurden ihnen Nahrungsmittel, Textilien und andere wichtige Kriegsgüter abverlangt; und auch Frankreich und Großbritannien setzten Zwangsarbeiter in der kolonialen Kriegswirtschaft ein – neben Hunderttausenden von Soldaten, die in den Kolonien rekrutiert und auf allen Kriegsschauplätzen eingesetzt wurden.
Sie alle erfuhren Diskriminierungen, angefangen von geringerem Sold und schlechteren Aufstiegschancen über eine miserable Behandlung in Kriegsgefangenschaft bis hin zu entwürdigender Schlechterstellung in der Veteranenversorgung nach dem Krieg. Schon im Dezember 1944 kam es in einem Lager bei Dakar zu einem Aufstand senegalesischer Soldaten, die den vorgesehenen Sold für die Zeit ihrer Kriegsgefangenschaft einforderten, aus der sie just zurückgekehrt waren. Anstatt sie auszuzahlen, schlug die französische Militärverwaltung die Revolte brutal nieder, die Zahl der dabei getöteten senegalesischen Soldaten wird zwischen 35 und 300 geschätzt.
Die kolonialen Gesellschaften erfuhren den Krieg als Zeit enormer Entbehrungen. In Großbritannien etwa setzte das Kriegskabinett fest, welche Mengen an Lebensmitteln, Rohstoffen und anderen Gütern sie zu welchen Preisen abzuliefern hatten. Strenge Devisen- und Außenhandelskontrollen schränkten den Spielraum kolonialen Wirtschaftens weiter ein. Sogar viele Bauern konnten sich nicht mehr selbst ernähren, weil sie anstelle von Produkten für den Eigenverbrauch nun sogenannte cash-crops, ausschließlich für den Markt erzeugte Agrarprodukte, zur Lieferung an die Kolonialherren anbauen mussten.
Kolonien als Spiegelbild innenpolitischer Konfliktlinien?
Dagegen inszenierte die Kriegspropaganda der Europäer eine unverbrüchliche Einheit und Interessenidentität zwischen ihnen und den Kolonisierten. Europäische Länder, die von den deutschen Truppen besetzt waren, wie Belgien und die Niederlande, suchten ihre Kolonien als Machtbasis zu stabilisieren. Vor allem aber für die gespaltene französische Gesellschaft spielten die Kolonien eine zentrale Rolle, sei es, dass sie das mit dem Deutschen Reich zusammenarbeitende Vichy-Regime unterstützten, sei es, dass sie dem "Freien Frankreich" unter Charles de Gaulle im Widerstand gegen Vichy und die Deutschen halfen wie beispielsweise Kamerun und Tschad. Innenpolitische Konfliktlinien zogen sich im französischen Fall quer durch den gesamten imperialen Raum.
Anders gelagert war die Verbindung von Großbritannien und seinem Empire: Das Land, koloniale Supermacht seit Jahrhunderten, hatte mit dem Fall Singapurs im Februar 1942 und generell durch die japanische Herausforderung in Südostasien eine schwere Niederlage erlitten, die lange nachhallte und das britische Selbstbewusstsein unterhöhlte. Zugeständnisse an die Kolonien waren unumgänglich, um die Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten. Indiens Unabhängigkeit war so bereits 1942 von Großbritannien ins Gespräch gebracht worden, auch als Gegenleistung für den Militäreinsatz von hunderttausenden Indern auf britischer Seite.
Auftakt der Dekolonisation in Asien nach 1945
Nach 1945 waren, so schien es, in vielen Regionen der Welt die Weichen für die Unabhängigkeit der Kolonien gestellt: Es gab Unterschiede, gewiss, aber die meisten Zeitgenossen hielten es für unwahrscheinlich, dass die europäischen Kolonialmächte wie nach 1918 ihre Imperien vollständig wiedergewinnen oder konsolidieren könnten. Mit den USA und der Sowjetunion etablierten sich zwei Supermächte, die sich beide – wenn auch unterschiedlich begründet – das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Die USA zogen daraus praktische Konsequenzen und gaben ihre kolonialen Ansprüche auf die Philippinen auf, die 1946 unabhängig wurden.
Die erste Welle der Dekolonisation nach 1945 erfolgte in Asien. Dort hatte der Zweite Weltkrieg am 7. Juli 1937 mit dem japanischen Überfall auf die chinesische Mandschurei, den nordöstlichen Teil Chinas, begonnen. In den folgenden Jahren stürzte der aggressive Expansionismus Japans die europäische Kolonialherrschaft in eine tiefe Krise. Bis 1942 eroberte Japan unter anderem Burma, die Philippinen, Malaya (das spätere Malaysia) und Niederländisch-Ostindien (Indonesien). Indochina stand faktisch unter japanischer Kontrolle, wurde allerdings erst im März 1945 militärisch besetzt. Auch die Kriegserfahrung der Kolonisierten in Asien war von militärischer Massenrekrutierung, Diskriminierung und wirtschaftlicher Ausbeutung geprägt.
Japans Kapitulation und politisches Vakuum
Nach der Kapitulation Japans am 2./15. September 1945 entstand an vielen Orten Asiens ein politisches Vakuum, das die Führer der während des Krieges erstarkten nationalistischen Bewegungen zu nutzen verstanden. So rief Sukarno am 17. August 1945 die Unabhängigkeit der Republik Indonesien von den Niederlanden aus, am 2. September 1945 verkündete Ho Chi Minh die Unabhängigkeit Vietnams von Frankreich. Die beiden Kolonialmächte wiesen dies zurück und beanspruchten, ihre Herrschaft wiederherzustellen und fortzuführen.
Für die Niederlande wie für Frankreich (und Großbritannien) ging es darum, durch wirtschaftliche Ausnutzung der Kolonien ihren eigenen Wiederaufbau voranzutreiben und die während des Krieges entstandene Abhängigkeit von den USA zu mildern. Vor allem aber waren sie überzeugt, dass ihre Rolle in Europa und der Welt entscheidend davon abhing, dass sie Kolonialmächte blieben. Es folgten Jahre brutal geführter militärischer Auseinandersetzungen, deren Härte gegenüber den eigenen Öffentlichkeiten heruntergespielt wurde. Erst auf Druck der USA zogen sich die Niederlande 1949 aus Indonesien zurück.
Der 1946 begonnene Indochinakrieg Frankreichs wurde hingegen von den USA unterstützt. Denn vor dem Hintergrund des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion galt es, den Kommunismus zu bekämpfen, der seit der kommunistischen Machtübernahme in China 1949 vom Westen als große Bedrohung wahrgenommen wurde. Nach jahrelangen Kämpfen kapitulierten die französischen Truppen erst angesichts ihrer verheerenden Niederlage bei Dien Bien Phu am 7. Mai 1954. Die Unterhändler auf der Genfer Konferenz 1954 einigten sich zwar auf die Unabhängigkeit Vietnams, Kambodschas und Laos’, schufen jedoch mit der zeitgleich vereinbarten Teilung zwischen dem kommunistischen Norden Vietnams und dem autoritär regierten, aber pro-westlichen Süden des Landes ein Problem, das sich ab 1955 zum Vietnamkrieg, einem Stellvertreterkrieg im Rahmen des Ost-West-Konflikts unter direkter militärischer Beteiligung der USA entwickelte. Erst 1975, nach dem Truppenabzug der USA, herrschte formal kurz Frieden in der Region, faktisch folgten bald blutige Kriege und Bürgerkriege.
"Ein Fiasko sondergleichen"
Auf den ersten Blick ganz anders verlief der britische Rückzug aus Südasien. In Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, gelang 1948 ein problemloser Übergang in die Unabhängigkeit. Überraschend schnell zog sich Großbritannien auch aus Indien zurück. Dort hatten erstarkende nationalistische, hinduistische und muslimische Bewegungen, der gewaltige indische Kriegseinsatz, aber auch die in Folge der Kriegswirtschaft ausgebrochene Hungerkatastrophe in Bengalen die britische Herrschaft entscheidend geschwächt. Antibritische Proteste, aber auch Konflikte zwischen Muslimen und Hindus spitzten die Lage so zu, dass die Briten ihrer schließlich nicht mehr Herr werden konnten. Sie entschlossen sich zur Flucht nach vorn, und als Lord Mountbatten, der letzte Vizekönig, der im Auftrag der britischen Regierung die Regierungsgewalt über die Kronkolonie ausübte, nach Indien kam, verlegte er das Datum der Unabhängigkeit sogar noch um ein Jahr, auf den 15. August 1947, vor.
Die Dekolonisation Indiens verlief gewaltvoll und chaotisch. Da es nicht gelang, Muslime und Hindus zu einen, erfolgte mit der Unabhängigkeit die Teilung des Landes in den hinduistisch dominierten Staat Indien und den muslimischen Staat Pakistan. Eine nicht geplante, enorme, mit verheerenden sozialen Problemen und massiver Gewalt einhergehende Umsiedlungsaktion von rund zehn Millionen Menschen zwischen den beiden Staaten war die Folge und löste eine humanitäre Katastrophe aus. Ungelöst blieb, was aus der Kaschmirregion werden sollte, auf die beide Staaten – bis heute – Anspruch erheben. So beurteilen die Historiker Jan C. Jansen und Jürgen Osterhammel die Dekolonisation Südasiens mit guten Gründen als "ein Fiasko sondergleichen".
Als Nachzügler der Dekolonisation in Asien wurden 1957 Malaya (seit 1963: Malaysia), 1965 Singapur und schließlich 1999 das britische Hongkong und das portugiesische Macau unabhängig. Von "der asiatischen Dekolonisation" zu sprechen, würde einen einheitlichen Prozess suggerieren, der de facto aber in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich verlief. Gewalt war häufig im Spiel, und selbst dort, wo wie in Malaya Kolonialmacht und lokale Akteure konsensorientiert handelten, kam es während der Niederschlagung von kommunistischen Aufständen zu enormem Gewalteinsatz seitens Londons.
Staatenbünde im Zeichen nationaler Selbstbestimmung
Bemerkenswert ist, wie wenig sich die zeitgenössischen europäischen Gesellschaften mit der Tatsache befassten, dass sie ihre Imperien in Asien aufgeben mussten. Möglicherweise hat deren Überleitung in das Commonwealth of Nations bzw. die Union Française zur Befriedung der öffentlichen Meinung in den jeweiligen Ländern beigetragen. Das Commonwealth wurde 1931 durch das Westminster-Statut offiziell gegründet, seit der Londoner Deklaration von 1949 sind alle Mitgliedstaaten formell gleichgestellt. Die (heute 53) Mitglieder sind verbunden durch ihre besondere Beziehung zur britischen Krone, die als Oberhaupt des Commonwealth fungiert: In 16 Staaten ist die Queen offiziell noch Staatsoberhaupt.
Die Union Française hingegen war kurzlebiger: Sie wurde 1946 gegründet und 1958 in die Communauté Française übergeleitet. War die Union zunächst als enger Zusammenschluss der bestehenden Übersee-Territorien und -Départements mit selbstständig gewordenen vormaligen Kolonien und Frankreich konzipiert, verlor sie rasch an Verbindlichkeit und Bedeutung. 1995 wurde die Communauté aufgelöst. Die Hoffnungen der Nachkriegszeit, solche "Auffangorganisationen" könnten als Ersatz für verlorene imperiale Einheit dienen und wenigstens den symbolischen Fortbestand einer auf die beiden europäischen Mächte fokussierten Weltordnung garantieren, wurden demnach auf lange Sicht enttäuscht.
Der Optimismus, der das Commonwealth, die Union Française und auch die noch kurzlebigere Niederländisch-Indonesische Union (1949–1954) begleitete, ist jedoch nicht der einzige Erklärungsansatz für die relative Leidenschaftslosigkeit, mit der die Europäer in den späten 1940er- und in den 1950er-Jahren ihre Kolonien in Asien aufgaben. Weitere Gründe sind wohl vor allem in Europa selbst zu suchen. Hier waren die Gesellschaften nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich damit beschäftigt, im eigenen Land Alltagsnöte zu beseitigen und den Wiederaufbau zu bewerkstelligen. Die von der Labour Party geführte Regierung in Großbritannien, die für die Unabhängigkeit Indiens, des "Kronjuwels" im Empire, verantwortlich zeichnete, hatte andere, namentlich innen- und gesellschaftspolitische Prioritäten.
Der beginnende Kalte Krieg tat schließlich ein Übriges, dass sich koloniale Nostalgie und überkommene Herrschaftsansprüche dem kalten Licht des weltpolitischen Realismus ausgesetzt sahen. In der Auseinandersetzung um die weltpolitische Ordnung zwischen Ost und West war westliche Kolonialherrschaft nur noch schwer zu legitimieren, auch wenn sie im Kampf gegen den Kommunismus noch eine Zeit lang fortgeführt wurde.
Doch mit dem Selbstbestimmungsrecht, das US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill in der Atlantik-Charta im August 1941 abermals bekräftigt hatten, war den antikolonialen Bewegungen ein starkes Argument an die Hand gegeben. Auch gewann durch die UN-Charta vom Juni 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte seitens der Vereinten Nationen im Dezember 1948 der Diskurs über die universelle Geltung von Rechten wirkmächtige neue Impulse.
Die Dekolonisation Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens
Spätestens seit sie die Mandate des Völkerbunds übernommen hatten, wussten die Briten und Franzosen, dass der Nahe und Mittlere Osten eine besonders konfliktträchtige Region war. Sie selbst hatten dazu ganz wesentlich beigetragen, als sie sich 1916, während des Ersten Weltkriegs, in dem geheim gehaltenen Sykes-Picot-Abkommen auf die Aufteilung der Region verständigt hatten. Zudem hatten die Briten in der Balfour-Erklärung von 1917 der zionistischen Bewegung versprochen, sie bei der "Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk" zu unterstützen.
Anders als von den beiden europäischen Mächten erwartet, schuf die Umsetzung des Sykes-Picot-Plans zahlreiche neue Probleme, und zu keinem Zeitpunkt gelang es ihnen, ihre Herrschaft im Nahen und Mittleren Osten zu stabilisieren. Zwar vermochte London, 1932 den Irak und 1946 Transjordanien (ab 1950 offiziell Jordanien) Königshäusern zu überantworten, die den Briten freundlich gesonnen waren, und damit die eigenen (Öl-)Interessen vorerst zu sichern, doch war dies in der Region eher die Ausnahme als die Regel. Frankreich erfuhr dies in Syrien und dem Libanon, Großbritannien in Palästina. Seit 1944 wurden die Briten dort zum Angriffsziel sowohl seitens radikaler Zionisten, die die Gründung eines unabhängigen jüdischen Staates forderten, als auch seitens der palästinensischen Araber, die ebenfalls nach einem eigenen Staat strebten und dafür zu Mitteln politischer Gewalt griffen.
Nach der Auflösung des Völkerbunds wandelten die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation dessen Mandatssystem in ein System der Treuhandschaft, scheiterten jedoch mit der Absicht, die Treuhandschaft für Israel selbst zu übernehmen. Einen Tag bevor das britische Mandat auslief, am 14. Mai 1948, proklamierte David Ben Gurion den neuen Staat Israel. Dieser ging aus harten Kämpfen hervor, ein erster Angriff der benachbarten arabischen Staaten erfolgte umgehend, die Vereinten Nationen blieben machtlos. Mit dem Erstarken panarabischer Bestrebungen unter dem ägyptischen General Gamal Abdel Nasser nach 1952 war absehbar, dass der Nahostkonflikt zu einem Dauerkonflikt würde. Nasser gelang es 1956, die Suezkanalgesellschaft, die bis dahin im Besitz Großbritanniens und Frankreichs gewesen war, zu enteignen und zu verstaatlichen. Mit seinem Erfolg in der Suezkrise zeigte er den europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien die Grenzen ihrer Handlungsmacht auf.
Die Dekolonisation Afrikas
In Afrika setzte die Dekolonisation rund ein Jahrzehnt später ein, verlief dann aber umso dynamischer. Als erste Staaten wurden 1956 der Sudan und 1957 Ghana, die vormalige Goldküste, unabhängig. Mit dem ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah setzte sich eine Führungsfigur der panafrikanischen Bewegung aus der Zwischenkriegszeit an die Spitze ihres Landes und beeinflusste von dort eine ganze Reihe weiterer Unabhängigkeitsbewegungen. Sein politisches Engagement hatte Nkrumah während seiner Studienzeit in den USA und in London intensiviert, und er stand wie kaum ein anderer für die engen Verbindungen der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA ebenfalls an Dynamik und Zulauf gewann.
Fast scheint es, als sei nach diesem Auftakt die Dekolonisation in Afrika nicht mehr aufzuhalten gewesen. Allein 1960, im "Jahr Afrikas", wurden 17 Staaten südlich der Sahara unabhängig, bereits 1965 überstieg die Zahl der unabhängigen UN-Mitgliedstaaten aus Afrika mit 37 diejenige jedes anderen Kontinents. Doch darf diese beeindruckende Entwicklung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dekolonisation in Afrika sich in die Länge zog. Portugal löste sich von seinen Kolonien erst Mitte der 1970er-Jahre, Namibia und Eritrea wurden durch ihre Sezessionen von Südafrika bzw. Äthiopien erst 1990 bzw. 1993 unabhängig. Rhodesien, dessen einseitige Unabhängigkeitserklärung 1965 von Großbritannien nicht anerkannt worden war, wurde erst 1980 als unabhängiger Staat Simbabwe selbstständig. Und auch das Ende der Apartheid, der strikten staatlich verfügten Rassentrennung im formal seit 1931 unabhängigen Südafrika, das erst in den 1990er-Jahren erfolgte, muss in den langen Prozess der Dekolonisierung eingeordnet werden.
Die Wege in die Unabhängigkeit waren nicht nur unterschiedlich lang, sondern verliefen auch höchst unterschiedlich. Vielfach kam es zu gewaltvollen Kämpfen, besonders dann, wenn es um Siedlerkolonien ging. Dies lässt sich für Kenia beobachten, wo die britische Kolonialmacht gemeinsam mit den Weißen Siedlern zwischen 1952 und 1959 brutal gegen aufständische Kikuyu ("Mau Mau-Aufstand") vorging. In Algerien, einer französischen Siedlerkolonie, fochten über acht Jahre algerische Bewegungen, allen voran die "Nationale Befreiungsfront" (Front de Libération Nationale, FLN), Weiße Siedler und französische Truppen einen erbitterten Kampf aus (1954–1962). Ebenso brutal verliefen die Konflikte in den portugiesischen Siedlerkolonien Angola und Mosambik (1961–1975).
Während vielfach Übergänge in die Unabhängigkeit geplant und friedlich verliefen, kam es auch zu überstürzten Abzügen europäischer Kolonialmächte, die in völligen Desastern endeten. Der belgische Kongo ist hierfür das bedrückendste Beispiel. Galt der Kongo noch bis weit in die 1950er-Jahre als Muster stabiler Kolonialherrschaft, so sahen sich die Belgier ab Anfang 1959 einer wachsenden Protestbewegung gegenüber, auf die sie mit politischer Hilflosigkeit reagierten. Panisch gaben sie ihre Ansprüche auf, schon am 30. Juni 1960 wurde die Demokratische Republik Kongo unabhängig. Der neu gewählte Ministerpräsident Patrice Lumumba vermochte die aufbrechenden Krisen des Landes, vor allem die Sezessionsbewegung in der Provinz Katanga, nicht unter Kontrolle zu bekommen; er wurde durch die Sezessionisten (unter Beteiligung des CIA und des belgischen Geheimdienstes) 1961 ermordet. Vier Jahre später putschte sich Joseph Mobuto mit Hilfe des Militärs an die Macht, die er bis 1997 ausübte.
Kriege, Krisen und Konflikte: das Erbe der Dekolonisation
Die Beispiele verweisen darauf, dass Afrika und Asien nach der Dekolonisation in weiten Teilen nicht zur Ruhe kamen. Vielerorts gingen die Kämpfe um die Unabhängigkeit nahtlos in brutale Bürgerkriege über. So geschah es im Kongo oder in Nigeria, wo sich Machtkämpfe mit ethnischen und wirtschaftlichen Konflikten zwischen den drei größten Volksgruppen des Landes verwoben und in den Biafrakrieg von 1967 bis 1970 mündeten. Dieser war nicht nur eine militärische Auseinandersetzung, sondern auch eine humanitäre Katastrophe riesigen Ausmaßes: Mehr als eine Million Menschen, darunter viele Kinder, verloren ihr Leben, die meisten davon starben den Hungertod.
Der Biafrakrieg mobilisierte in den westlichen Gesellschaften Hilfsbereitschaft – und Proteste. Mit ihm wurden in den kritischen Öffentlichkeiten der 1960er-Jahre die politischen Kosten und humanitären Folgen westlicher Herrschaft thematisiert. Nicht zuletzt daraus erwuchs eine breite Solidaritätsbewegung mit dem globalen Süden, der zeitgenössisch als "Dritte Welt" bezeichnet wurde. Deutlich anders verhielt es sich mit der Kritik am Algerienkrieg: Sie wurde im Frankreich der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre nur von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen und Schriftstellern geäußert und konnte trotz medialer Verbreitung keinen umfassenden Protest mobilisieren. Gleichwohl zeitigten die Krisen und Konflikte der Dekolonisation auch in den westeuropäischen Gesellschaften Wirkungen. Eine ganze Generation im Westen prägte um 1968 ein neuartiges globales Bewusstsein aus.
Koloniale Ordnungsvorstellungen und gescheiterte Staatlichkeit
In Afrika und Asien hatte die Erfahrung kolonialer Herrschaft Folgen für die postkolonialen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Wie tief die kolonialen Spuren heute noch sind, schätzt die Wissenschaft unterschiedlich ein. Der Historiker Harald Fischer-Tiné verwies in diesem Zusammenhang auf Kontinuitäten in den Schlüsselinstitutionen Armee, Polizei, Justiz und Bildungswesen, doch auch soziale Kategorien, welche die Kolonialherren zur Organisation ihrer Herrschaft genutzt hatten, erwiesen sich als langlebig und konfliktträchtig. Zu diesen Kategorien zählt Fischer-Tiné beispielsweise "Stamm", "Kaste" oder "Religionsgemeinschaft", die auch für die neuen Machthaber handlungsleitend geblieben seien. So hatten deutsche und vor allem belgische Kolonialherren in Ruanda maßgeblichen Anteil an der Ethnisierung und rassistisch begründeten sozialen Einordnung von Tutsi und Hutu, die seit den 1950er-Jahren immer wieder gewaltsame Konflikte gegeneinander austrugen. Diese gipfelten 1994 in einem Genozid an den Tutsi, dem mehr als 75 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe zum Opfer fielen.
Vor dem Hintergrund, dass die europäischen Kolonisierer zwar die Entstehung einer westlich ausgebildeten urbanen Elite gefördert, die ländlichen Regionen aber politisch vernachlässigt hatten, verweist Mahmood Mamdani, ein indischstämmiger, in den USA lehrender Anthropologe und Politikwissenschaftler, auf eine etwas anders gelagerte Kontinuität: Die auf die Kolonialherrschaft zurückgehende Spaltung in "citizens", also mit allen Rechten ausgestattete Vollbürger in den Städten, und "subjects", auf dem Land lebende Staatsangehörige ohne volle Rechte, habe sich in den postkolonialen afrikanischen Staaten in der Zweiteilung von städtischen und ländlichen Gebieten fortgesetzt.
Der Politikwissenschaftler Klaus Schlichte hingegen problematisiert die westlichen Erwartungen an die Länder des globalen Südens und hält das Urteil, es handele sich bei einer Reihe von ihnen um "gescheiterte Staaten", für verfehlt. Von den 35 Staaten, bei denen der "Global Peace Fund" 2017 mit hoher oder höchster Dringlichkeit vor einem bevorstehenden vollständigen Staatsversagen warnte, befinden sich 27 in Afrika; und mit Ausnahme von drei Staaten handelt es sich bei allen um ehemalige europäische Kolonien.
Auch der größte Teil von Blauhelmeinsätzen der Vereinten Nationen galt Dekolonisations- oder postkolonialen Konflikten. Dass sich die Redeweise von "gescheiterten" oder "fragilen Staaten" so fest etablieren konnte, mag einerseits damit zusammenhängen, dass es in der Tat in vielen Weltregionen nicht gelang, stabile Staaten zu etablieren. Andererseits deutet sie auch darauf hin, dass sich mit der Dekolonisation bis zum heutigen Tag auf Seiten der Europäer die feste Erwartung verbindet, die unabhängigen Regionen würden Staatlichkeit nach westlichem Vorbild ausprägen.
Nur wer den westlichen demokratischen Rechts- und Sozialstaat vor Augen hat, kann "scheiternde Staatlichkeit" diagnostizieren, so Schlichte. Würden andere Formen der Organisation von Macht und der Ausübung von Herrschaft in Betracht gezogen und anerkannt, so verlöre ein "failed states index" seinen Sinn. Dagegen wäre allerdings einzuwenden, dass auch in postkolonialen Staaten selbst viele Akteurinnen und Akteure Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anstreben, das Modell also nicht nur deshalb verworfen werden sollte, weil es westlichen Ursprungs ist.
Innenpolitische Krisen in den Metropolen
Politische Krisen und Instabilität waren nicht nur in den postkolonialen Staaten Afrikas und Asiens zu beobachten. Auch in den europäischen Metropolen selbst verstärkten die Erfahrungen der Dekolonisation bestehende Probleme. Besonders drastisch machte sich dies in Frankreich und Portugal bemerkbar, wo es nicht zuletzt in Folge der Dekolonisation sogar zu Wechseln der politischen Systeme kam.
Drohende Militärputsche in Frankreich
In Frankreich versetzte die Krise in Algerien der von vielen Zeitgenossen ohnehin als schwach und instabil wahrgenommenen IV. Republik 1958 den Todesstoß. Ihren Ausgang nahm die Krise am 13. Mai in Algier, wo französische Generäle die Regierungsgewalt an sich zogen und damit den Druck auf die Regierung in Paris erhöhten, für den weiteren Verbleib Algeriens bei Frankreich zu kämpfen.
Um zu verhindern, dass der Militärputsch auf Frankreich selbst übergriff, trug Staatspräsident René Coty Ende Mai 1958 Charles de Gaulle die Bildung einer neuen Regierung an. Nur de Gaulle, der von seiner Anhängerschaft als Held des Zweiten Weltkriegs verehrte, führende Kopf des "Freien Frankreich" und der selbststilisierte "Befreier Frankreichs" von 1945, schien die Armee unter Kontrolle halten und die französische Politik im Angesicht kolonialer Krisen stabilisieren zu können. Er ließ eine neue Verfassung ausarbeiten, die ganz auf ihn zugeschnitten war. 80 Prozent der französischen Bürgerinnen und Bürger stimmten in einem Referendum dieser neuen Verfassung zu. Im Dezember 1958 wurde de Gaulle in indirekter Abstimmung zum Präsidenten der neuen V. Republik gewählt.
Die Verfassung der V. französischen Republik trägt bis heute, gleichsam als genetischen Code, die schwere Dekolonisationskrise der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre in sich. Damit die Republik handlungsfähig blieb, wurden dem Präsidenten große Vollmachten gegenüber Regierung und Parlament übertragen sowie weitreichende Notstandsrechte eingeräumt, die heute das politische Geschehen in Frankreich prägen.
Eine weitere innenpolitische Krise drohte 1962, als prominente Teile der Armee sich gegen die Unabhängigkeit Algeriens wandten und ihren Widerstand nun nach Frankreich selbst trugen. Die aus den Reihen des Militärs gegründete Organisation de l’Armée Secrète (OAS) überzog Frankreich mit einer Welle von Bombenanschlägen, und auch der Präsident selbst wäre im August 1962 beinahe einem Attentat zum Opfer gefallen. Der drohende Militärputsch wurde abgewendet, de Gaulle konnte sich behaupten, Algerien wurde im Juli 1962 unabhängig. De Gaulle nutzte die Gunst der Stunde und verstärkte die Legitimation des französischen Staatspräsidenten dadurch, dass dieser fortan direkt durch das französische Volk und nicht mehr durch Wahlmänner gewählt wurde.
Die "Nelkenrevolution" in Portugal
Das Militär spielte auch im zweiten Fall eines Regimewechsels in Europa eine maßgebliche Rolle, wenngleich in anderer Weise als in Frankreich. In Portugal bestand seit den 1930er-Jahren ein katholisch-autoritäres Regime unter António de Oliveira Salazar. Basierend auf dem soziokulturellen Einfluss der katholischen Kirche, hatte das Salazar-Regime – wie das ähnlich autoritäre Franco-Regime in Spanien – über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus Bestand. Indes geriet es in Anbetracht wachsender Konflikte in den Kolonien und dann offener Dekolonisationskriege in Angola ab 1961, in Guinea-Bissau ab 1963 und in Mosambik ab 1964 unter zunehmenden Legitimationsdruck, zumal diese Kriege gewaltvoll, blutig und opferreich geführt wurden.
Nachdem Salazar 1968 sein Amt nicht mehr ausüben konnte, schlugen mehrere Versuche fehl, das Land entweder zu modernisieren oder den Einfluss rechter Militärs weiter zu stärken. Eine zentrale Rolle kam schließlich der "Bewegung der Hauptleute" (Movimento dos Capitães) zu, in der sich der Konflikt über Karrierewege junger Offiziere in der Armee ebenso widerspiegelte wie die realistische Erkenntnis, dass die Kriege in den Kolonien nicht zu gewinnen waren. Im Bündnis mit Liberalen, Sozialisten und Kommunisten trieb die aus den "Hauptleuten" hervorgehende "Bewegung der bewaffneten Kräfte" (Movimento das Forças Armadas) Reformen voran – und schließlich die Revolution: Am 25. April 1974 übernahmen sie die Macht in Lissabon, friedlich, mit Nelken in den Gewehrläufen, was dem politischen Umbruch in Portugal auch den Namen gab: Nelkenrevolution. Danach war die Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien nur noch eine Frage der Zeit. Guinea-Bissau wurde im September 1974 unabhängig, Angola und Mosambik 1975.
Europäische Integration: Ersatz oder Fortsetzung kolonialer Herrschaft?
Die europäische Integration erhielt maßgebliche Impulse aus den Erfahrungen, die die Völker Europas in zwei verheerenden Weltkriegen gemacht hatten. Nun, nach 1945, sollten Strukturen geschaffen werden, die zumindest im Westen des europäischen Kontinents dauerhaft Frieden sicherten – auch indem sie Sicherheit vor Deutschland schufen. Die Einbindung der Bundesrepublik in die entstehenden europäischen Institutionen war nicht zuletzt bedingt durch den Wunsch, ein mögliches Wiedererstarken des Militarismus in dem jungen deutschen Weststaat zu verhindern, der 1949 aus den drei Besatzungszonen der Westalliierten hervorgegangen war. Freilich zeigte sich bald ein klarer Unterschied zur Situation nach 1918: Sowohl die Bundesrepublik wie auch die DDR, die 1949 aus der sowjetisch besetzten Zone entstanden war, erkannten die Kriegsniederlage Deutschlands ebenso an wie die deutsche Schuld am Kriegsausbruch.
Mochte die Bonner Außenpolitik bis 1970 offiziell noch an einer Rückkehr zu den Ostgrenzen von 1937 festhalten, so orientierte sie sich in ihrer Praxis doch immer an dem, was machbar war. Offener Revisionismus, das heißt das Streben nach einer Veränderung des bestehenden völkerrechtlichen Zustands, lag ihr fern, und dies galt erst recht für die Frage deutscher Kolonien. Sie spielten nach 1945 in der deutschen Politik in Ost wie West überhaupt keine Rolle mehr.
Einen zweiten wirkmächtigen Impuls für den Zusammenschluss der westeuropäischen Staaten gaben der anbrechende Kalte Krieg und die US-amerikanische Politik, die mit dem Marshallplan, dem US-amerikanischen Hilfsprogramm für Westeuropa, wichtige Weichen stellte.
Institutionen für "Eurafrika"
Übersehen wird in dieser geläufigen Gründungserzählung freilich häufig der Anteil, den die Dekolonisation an der Integration Europas hatte. So sorgte der Verlust der Imperien bei den beiden großen europäischen Kolonialmächten dafür, dass sie sich Europa zuwandten, im Falle Frankreichs sehr früh, im Falle Großbritanniens erst in den 1960er-Jahren. In den Anfängen der Integration spielte die französische Politik eine maßgebliche Rolle, zielte sie doch darauf, Europa als Ersatz für verloren gehende oder bereits verlorene Macht in anderen Teilen der Welt und als Brücke nach Afrika zu nutzen.
In der Tat hatte Afrika schon in frühen Initiativen zur europäischen Einigung eine wichtige Rolle gespielt. Bereits Graf Richard Coudenhove-Kalergi, ein japanisch-österreichischer Schriftsteller und Politiker sowie zentraler Akteur in der paneuropäischen Bewegung der Zwischenkriegszeit, war der festen Überzeugung gewesen, dass sich Europa gegenüber den USA und der Sowjetunion nur mit seinen starken Kolonien in Afrika im Rücken würde behaupten können.
Durchaus ähnlich dachten die Protagonisten der Integration nach dem Zweiten Weltkrieg: Auch ihnen galt, wie die schwedischen Historiker Peo Hansen und Stefan Jonsson gezeigt haben, die enge Verbindung Europas zu Afrika als Voraussetzung dafür, dass die Europäer als "dritte Weltmacht" zwischen den beiden Supermächten ihren Platz in der Weltpolitik fanden. "Eurafrika" sollte Europa den afrikanischen Kontinent als Rohstofflieferant und als Absatzmarkt erschließen, die europäischen Volkswirtschaften beleben und dadurch die Abhängigkeit des europäischen Handels von den USA verringern.
Besonders Paris drängte in den Verhandlungen über die Römischen Verträge 1957 darauf, die französischen Kolonien, namentlich Algerien, sowie die afrikanischen Kolonien der übrigen Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu assoziieren und auch diesen Gebieten zollfreien Zugang zu gewähren. Durch die Assoziierung würden, so die Hoffnung auch anderer europäischer Regierungen 1957, die Europäer ihren Einfluss in Afrika bewahren, mochte auch die Suez-Krise im Jahr zuvor eine andere Einsicht nahelegen. Gleichzeitig sollte ein mit der Assoziierung verbundener Entwicklungsfonds in turbulenten Zeiten gemäßigte Kräfte auf dem afrikanischen Kontinent unterstützen. Bundeskanzler Konrad Adenauer gab der Überzeugung Ausdruck, man könne auf diesem Weg Europa gegenüber den "nicht-weißen Völkern, die nun die Weltbühne [beträten]" stärken, während andere einen Vorteil gegenüber dem Panarabismus Nasserscher Prägung zu erkennen meinten – Hinweise, die darauf hindeuten, dass es bei alldem auch um europäische Macht ging.
Der Europäische Entwicklungsfonds, der zeitgleich mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschaffen wurde, verdankte sich ebenfalls einer französischen Initiative. Wie die belgische Historikerin Véronique Dimier gezeigt hat, waren es hauptsächlich französische Diplomaten und Verwaltungsbeamte, die, vielfach aus dem kolonialen Verwaltungsdienst nach Europa zurückgekehrt, nun in die administrativen Stellen in Brüssel einrückten und der frühen europäischen Entwicklungspolitik ihren Stempel aufdrückten. Freilich entfaltete sich im zuständigen Generaldirektorat VIII, das in der EWG-Kommission für die überseeischen Gebiete zuständig war, durchaus auch eine eigene Handlungslogik mit innovativen Ansätzen, die, so der Historiker Martin Rempe, den Befund einer bloßen Fortschreibung spätkolonialer Modernisierungspolitik relativieren.
Britische Zurückhaltung und französische Blockade
Großbritannien hielt sich zunächst von der europäischen Integration fern. Das Land vertraute länger als die anderen europäischen Kolonialmächte auf sein Empire als Basis eigener Macht in der Welt. Auch ökonomisch stützte sich Großbritannien lange auf das Commonwealth bzw. die Sterlingzone, während es seinen europäischen Handel durch die Gründung einer eigenen Freihandelszone (EFTA) im Jahr 1960 zu fördern suchte. Indes blieb der Handel innerhalb der EFTA deutlich hinter den Erwartungen zurück, der EWG-Markt erwies sich rasch als ein dynamischer und auch für die britische Wirtschaft attraktiver Partner.
Noch bevor die Desintegrationstendenzen innerhalb der Sterlingzone offen zutage traten, begab sich deshalb auch die britische Politik auf den Weg ins "Europa der Sechs", in die Europäischen Gemeinschaften, die die sechs Gründungsstaaten Frankreich, Bundesrepublik, Italien und die Benelux-Staaten geschaffen hatten. Ein erstes Beitrittsgesuch scheiterte 1963 jedoch am "Nein" de Gaulles. Besonders umstritten war die Frage, inwiefern auch die Länder des Commonwealth in vollem Umfang assoziiert werden könnten. Obwohl die britische Regierung 1967 von der Forderung nach voller Assoziierung abrückte und nur noch partielle Zollfreiheiten für das Commonwealth anstrebte, ließ sich der Widerstand de Gaulles nicht überwinden. Erst nach dem Rücktritt des französischen Präsidenten im Frühjahr 1969 war der Weg frei, 1973 traten Großbritannien (und mit ihm Irland und Dänemark) den Europäischen Gemeinschaften bei.
Aus dem Schatten der "Dritten Welt": der globale Süden organisiert sich
Einbindung in die Europäische Gemeinschaft
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den vormaligen europäischen Kolonialmächten, nunmehr organisiert als EWG/EG, und den unabhängigen Staaten Afrikas, der Karibik und des pazifischen Raums – den sogenannten AKP-Staaten – trugen in den 1950er- und 1960er-Jahren unverkennbar den Charakter der späten Kolonialzeit. In der Spätphase ihrer Herrschaft hatten die europäischen Regierungen Konzepte zur Modernisierung ihrer Kolonien entwickelt, die nun in der Entwicklungspolitik Europas deutlich durchschienen. Diese Modernisierungskonzepte fügten sich nahtlos in jene Blaupausen der Entwicklung ein, die in dieser Zeit insgesamt die Politik des Westens gegenüber den "unentwickelten" oder "unterentwickelten" Ländern bestimmten. Hier bestand der imperiale Raum vorerst bruchlos fort.
Vorbild für die gewünschte Entwicklung waren nach dieser Auffassung die westlichen Gesellschaften, die nach historischen Phasen der Anhäufung von Kapital, Arbeitskräften und Wissen die Industrialisierung gemeistert, sich zu reifen Konsumgesellschaften entwickelt und – so die verbreitete zeitgenössische Annahme – stabile demokratische Gemeinwesen gebildet hatten. Diesem Weg hätten die vormaligen Kolonien nun nur zu folgen, um stabile Staatlichkeit und blühende Volkswirtschaften hervorzubringen.
Tatsächlich aber förderte die europäische "Entwicklungshilfe" tendenziell die Festigung neopatrimonialer Strukturen in den Empfängerländern, in denen Amtsträger öffentliche Ressourcen nutzten, um ihre Anhänger, ihre Klientel, an sich zu binden und sich deren Unterstützung zu sichern. Daran änderte sich vorerst nur wenig, als die "Entwicklungsländer" mehr Mitsprache bei der konkreten Ausgestaltung der Verträge forderten.
In den Lomé-Abkommen, die in der togolesischen Hauptstadt Lomé 1975, 1979, 1984 und 1989 zwischen der EG und 77 AKP-Staaten geschlossen wurden, schien es zunächst, als hätte sich die Verhandlungsposition der AKP-Staaten verstärkt. Denn die Ölpreiskrise von 1973/74 hatte die Abhängigkeit der Industrieländer von den ölexportierenden Staaten gezeigt und die Koordination der Länder des globalen Südens untereinander hatte sich verbessert. Infolgedessen sahen die Abkommen, neben einem Entwicklungsfonds, jeweils auch Garantien für Exporterlöse für Agrarprodukte aus Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum vor (Stabex). Landwirtschaftliche Erzeugnisse und Rohstoffe konnten begünstigt in die EG exportiert werden. Dies führte freilich dazu, dass die industrielle Entwicklung in den AKP-Staaten vergleichsweise vernachlässigt wurde und nur wenig Eigendynamik entfaltete. Gegen die wachsende Armut, gegen grassierende Korruption und die Erosion von Staatlichkeit blieben die Lomé-Abkommen wirkungslos.
Durch das Ende des Kalten Krieges und den damit einhergehenden Globalisierungsschub war das System von Lomé vollends überholt. Daher sollte im Jahr 2000 mit dem Abkommen von Cotonou zwischen der EU und nunmehr 79 AKP-Staaten eine neue Basis der Zusammenarbeit gelegt werden. Das "Partnerschaftsabkommen" von Cotonou zielte nicht nur darauf ab, die AKP-Staaten besser in die Weltwirtschaft einzubetten. Darüber hinaus sollte es auch die Zivilgesellschaften stärken und dazu beitragen, "good governance", also effizientere, transparentere und demokratischere Regierungsformen in den AKP-Staaten zu verankern. Und nicht zuletzt sollen die "Millenniumsziele" erreicht werden, auf die sich die Vereinten Nationen im selben Jahr geeinigt hatten, um die Lebensbedingungen aller Menschen in ihren Mitgliedstaaten zu verbessern und ökologische Nachhaltigkeit sowie gerechte Beziehungen zwischen den Staaten und Gesellschaften herzustellen. Angesichts weiterhin asymmetrischer globaler Wirtschaftsbeziehungen sind die Europäer und die AKP-Staaten freilich von diesen Zielen auch heute noch weit entfernt.
Die weltpolitische Rolle ehemaliger Kolonien und die Notwendigkeit globaler Zusammenarbeit
Eine ähnlich ernüchternde Bilanz lässt sich im Hinblick auf das politische Gewicht der ehemaligen Kolonien in der Weltpolitik ziehen. Zwar konnten sie die Vereinten Nationen immer wieder erfolgreich als Bühne nutzen, um ihre Anliegen der Weltöffentlichkeit vorzutragen, doch trotz intensiver Reformdiskussionen hat noch immer kein afrikanisches Land einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat erlangen können.
Während des Kalten Kriegs versuchten einige dekolonisierte Staaten, zwischen den beiden Blöcken eigene Handlungsspielräume zu gewinnen. Im April 1955 trafen sich im indonesischen Bandung die Vertreter von 29 unabhängig gewordenen Staaten unter interessierter Beobachtung durch die westliche Öffentlichkeit, um zusammen über die aktuelle Weltlage zu beraten. Für sie stand fest: Der Kolonialismus der Europäer hatte keine Zukunft mehr, sie gehörte dem Respekt vor Unabhängigkeit und Souveränität. Der Einordnung in bestehende Bündnissysteme der Supermächte erteilten diese unabhängigen Staaten eine Absage, die sechs Jahre später (1961), vom dortigen Staatspräsidenten Tito in Jugoslawien organisiert, zur Gründung der Bewegung der Blockfreien führte.
Hatten in Bandung zwar die vormals Kolonisierten selbst ihre Stimme erhoben und dies nicht mehr – wie auf den panafrikanischen Kongressen der Zwischenkriegszeit – von den Metropolen ihrer Kolonialherren aus, sondern aus einem unabhängig gewordenen Land – so zeichnete sich dort und auf Folgekonferenzen dennoch ab, dass sie in der Weltpolitik eher symbolisches als faktisches Gewicht zu gewinnen vermochten. Schon die Frage, wie mit Israel umzugehen sei, entzweite die postkoloniale Gemeinschaft, und die tiefen Differenzen etwa zwischen Indien und Pakistan traten auch hier zutage.
Ähnliches gilt für die regionalen Zusammenschlüsse: Die Organisation für die Einheit Afrikas (OAU), 1963 gegründet, blieb angesichts einer Vielzahl zwischenstaatlicher Konflikte ebenso schwach wie die Afrikanische Union, die ihr 2002 nachfolgte.
Durch ihr stetes Beharren auf kulturelle Eigenständigkeit, eigene politische Ziele und Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung haben die postkolonialen Staaten in Afrika und Asien auf lange Sicht dennoch dazu beigetragen, dass der westliche Blick auf die Welt hinterfragt wurde, auch und gerade in den westlichen Gesellschaften selbst. In der Entwicklungspolitik ist in den vergangenen Jahren deutlich zu Tage getreten, dass die Vision eines universalen, westlich geprägten Entwicklungsmodells überholt ist und dass in der Gegenwart andere Antworten auf die globalen Probleme insgesamt wie auf diejenigen des globalen Südens notwendig sind. Schon in der Rio-Deklaration der Vereinten Nationen von 1992 wurde Entwicklungs- als Wachstumspolitik mit umweltpolitischen Zielsetzungen verbunden. Die "Agenda 2030", 2015 auf einem UN-Gipfel von allen Mitgliedstaaten verabschiedet, stellt Nachhaltigkeit in wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Hinsicht in den Mittelpunkt globaler Zusammenarbeit.