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"Nein, ich bin nicht Charlie"

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Tausende Menschen weltweit zeigten nach dem Anschlag in Paris 2015 ihre Anteilnahme unter dem Slogan Je suis Charlie, wie hier auf dem Platz der Republik.

Tausende Menschen weltweit zeigten nach dem Anschlag in Paris 2015 ihre Anteilnahme unter dem Slogan "Je suis Charlie", wie hier auf dem Platz der Republik. (© picture-alliance/AP)

Einer der islamistischen Terroranschläge in Europa, die sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben, ereignete sich Anfang 2015 in Paris. Zwei bewaffnete Angreifer stürmten die Räume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Unter dem Vorwurf der Veröffentlichung islamfeindlicher Karikaturen erschossen sie dort zehn Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin und später auf der Flucht einen Polizisten. Einen Tag später tötete ein weiterer zum Netzwerk der Attentäter gehörender Täter eine Polizistin und überfiel am Folgetag einen jüdischen Supermarkt. Er nahm dabei vier Geiseln mit sich in den Tod.

Auf den Anschlag folgte, vor allem aus der westlichen Welt, eine Solidaritätsbekundung, deren Ausmaß an die Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 erinnerte: Zahlreiche Medien, Politiker und Privatpersonen bekundeten in Interviews, in sozialen Medien und auf Demonstrationen, mit Aufklebern oder Anstecknadeln "Ich bin Charlie". Aber nicht alle empfanden so. Ein Frankfurter Rapper kommentierte die Anschläge mit den Worten "Nein, ich bin nicht Charlie! Sondern das gestohlene, besetzte Palästina … Ich bin das zerstörte Gaza …" und erhielt hierfür bei Facebook mehr als 6.000 Likes.

Reaktionen wie diese sind ein Beispiel für das speziell unter jungen Muslimen verbreitete Gefühl, dass ihre eigenen Sichtweisen und Interessen kein Gehör finden. Gerade arabischstämmige Jugendliche beklagen häufig, dass die verschiedenen Konflikte im Nahen Osten, die Krisen in der arabischen Welt und die Rolle, die Europa oder die USA dabei spielen, im Schulunterricht kaum angesprochen würden. Ähnlich argumentieren gerade in Deutschland auch viele türkischstämmige Jugendliche in Bezug auf die Türkei.

Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo meldeten mehr als 200 französische Schulen, dass sich manche muslimische Schülerinnen und Schüler geweigert hätten, an der Schweigeminute zum Gedenken an die Pariser Attentatsopfer teilzunehmen. Sie hätten es als ungerecht empfunden, dass Anschlagsopfern in den Herkunftsländern ihrer Eltern nicht gedacht werde. Seltener seien auch extreme Positionen laut geworden, wonach den Opfern eine Mitschuld an ihrem Schicksal zugesprochen wurde, weil diese Karikaturen des Propheten veröffentlicht hatten.

An diesem Beispiel zeigen sich Entfremdungs- und Ohnmachtsgefühle, die radikale Kräfte ausnutzen können, indem sie eine Religion, den Islam, für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Dabei finden sie Anhänger – junge Menschen, die bereit sind, strengsten Regeln zu folgen. Die meisten lehnen Gewalt ab. Manche radikalisieren sich aber auch, schließen sich Gruppierungen im Ausland an oder nehmen dort sogar an Kampfhandlungen teil.

Die öffentliche Diskussion gerät darüber schnell in einen Strudel von Zuschreibungen und vermeintlich kulturellen Gegensätzen. Dabei leidet die Qualität der gesamtgesellschaftlichen Diskussion oft unter Vereinfachungen und folgt der These eines "großen Kulturkampfes" zwischen zwei unveränderlichen Gegensätzen. Die Zuspitzung auf einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Ost und West, Orient und Okzident, Islam und Christentum oder wahlweise Aufklärung scheint durch die politischen Verwerfungen und Kriege im Nahen Osten sowie durch Terroranschläge bestätigt zu werden. Eine pauschalisierende Betrachtungsweise findet in solchen Ereignissen Argumente für das Vorurteil, dass "dem Islam" und "den Muslimen" immer schon Gewalt, Intoleranz und Despotie innewohnten. Diese Denkweise ähnelt in ihrer Pauschalität und Voreingenommenheit derjenigen der radikalen Gegenseite, die mit stark vereinfachten Welt- und Feindbildern für sich wirbt.

Globalisierung

Globalisierung (© NEL / nelcartoons.de)

Doch die überwiegende Mehrheit der Muslime lehnt Gewalt ab und will friedlich inmitten der Gesellschaft leben. Nach ihrem Religionsverständnis verfügt der Islam gerade nicht über ein unwandelbares Wesen, in dem das Verhältnis von Staat und Religion als ewig vereint festgeschrieben ist. Solche Annahmen beruhen vielmehr auf ideologischen, islamistischen (nicht islamischen) Positionen, die bewusst mit Schlagworten und Kampfbegriffen markiert werden und mit der Wirklichkeit, gerade auch mit der differenzierten historischen Realität, wenig zu tun haben.

Die Ursache von religiös begründetem Extremismus nur im Islam zu suchen, ist problematisch. Vielmehr sind die Gründe vielschichtig und untrennbar miteinander verwoben. Neben der religiösen Ebene müssen auch politische und gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigt werden. Daher richten die Kapitel "Salafismus – Spielart des Islamismus" und "Geschichte einer Radikalisierung" den Fokus auf historische, ideengeschichtliche und politische Entwicklungen, während sich das Kapitel "Salafismus in Deutschland" auf die gesellschaftliche Ebene konzentriert und nach Ursachen der Radikalisierung bei Jugendlichen fragt.

Alle Ansätze beschreiben ein Phänomen, dessen durchaus vielfältige Positionen und Erscheinungsformen in der öffentlichen Diskussion mit dem Begriff Salafismus in Verbindung gebracht werden. Doch was ist unter Salafismus im eigentlichen Sinne zu verstehen?