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Wege zur modernen Demokratie | Demokratie | bpb.de

Demokratie Editorial Demokratie – Geschichte eines Begriffs Grundzüge der athenischen Demokratie Prinzipien republikanischen Denkens Wege zur modernen Demokratie Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert Erfolgs- und Risikofaktoren für Demokratien Strukturunterschiede und Herausforderungen Entwürfe globaler Demokratie Demokratie – in der Krise und doch die beste Herrschaftsform? Literaturhinweise und Internetadressen Impressum

Wege zur modernen Demokratie

Hans Vorländer

/ 22 Minuten zu lesen

Die moderne Demokratie entsteht im 17. und 18. Jahrhundert infolge politischer, kultureller und sozialer Veränderungen. Wegweisend für ihre Ausgestaltung sind die Entwicklungen in England, Frankreich und den USA.

Die Reformation befreit die Individuen aus ihrer Unmündigkeit gegenüber der Kirche, die Bibel kann in der Muttersprache gelesen werden, und der Buchdruck sorgt für ihre massenhafte Verbreitung. Lutherbibel von 1534 aus Frankfurt/Oder (© picture-alliance / ZB / Patrick Pleul)

Die moderne Demokratie unterscheidet sich wesentlich von der antiken Demokratie und den Republiken des späten Mittelalters. Sie hat sich nur langsam durchgesetzt und ist auf sehr unterschiedlichen Wegen als Ergebnis von Revolutionen und Kämpfen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und politischen Kräften entstanden. Dabei konnte sie zwar an antike und republikanische Traditionen anknüpfen, musste sich jedoch auch an Voraussetzungen und Bedingungen anpassen, die sich seit dem 17. Jahrhundert grundlegend verändert hatten. Insofern musste die moderne Demokratie neu erfunden werden.

Folgende historische Voraussetzungen waren für die Entstehung der modernen Demokratie maßgeblich:

  • Während sowohl die athenische Polisdemokratie wie auch die mittelalterlichen Stadtrepubliken kleinräumige politische Ordnungen gewesen waren, hatten sich nun großflächige Territorialstaaten herausgebildet. Die Menschen kannten sich in der Regel nicht mehr untereinander, und es war schwierig, wenn nicht gar unmöglich, regelmäßig zu Versammlungen zu erscheinen und jederzeit Ämter zu übernehmen. Deshalb mussten sich die Strukturen der politischen Willens- und Entscheidungsbildung verändern. Es bedurfte anderer Institutionen, um die Beteiligung möglichst vieler Bürger, in welcher Form auch immer, sicherzustellen.


  • Der moderne, neuzeitliche Flächenstaat war von Fürsten und Königen geschaffen und regiert worden, die für ihre Herrschaftsgewalt, zumindest in der Zeit des Absolutismus, ungeteilte Souveränität beanspruchten. Die Herrschaftsausübung war von allen Beschränkungen und auch von allen Zustimmungserfordernissen abgekoppelt. Die Souveränität von Herrschaft und die Absolutheit der Gewalt bestanden, wie Jean Bodin (1529 – 1596) als Theoretiker der Souveränität 1576 schrieb, nämlich gerade darin, Gesetze ohne die Zustimmung der Untertanen zu erlassen und sich selbst nicht an die Gesetze zu binden.

    Eine demokratische Revolution alleine hätte das Problem der Souveränität noch nicht lösen können. Denn trat der Demos an die Stelle des Monarchen, dann wurde zwar der Träger der Herrschaft ausgewechselt, das Problem mangelnder Bindungen und Beschränkungen aber blieb bestehen. Politische Souveränitätsausübung musste jedoch generell beschränkt werden, um zu verhindern, dass sie zur Despotie entartete.


  • Die Reformation und die anschließenden Religions- und Bürgerkriege hatten das Thema der Religionsfreiheit und der Toleranz aufgebracht. Damit wurde einerseits der Grundstock für ein genuin personalgebundenes Verständnis von Freiheit gelegt, das das Individuum in den Mittelpunkt rückte.

    Andererseits stellte die Reformation den Machtanspruch des weltlichen Staates in Frage, über diese individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verfügen zu können. Glaubensfreiheit wurde zur politischen Forderung unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse. Hier lag eine der Wurzeln für das Drängen auf Garantie individueller Freiheits- und Grundrechte. Die andere Wurzel entsprang der philosophischen Bewegung der Aufklärung, die zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert in ganz Europa die traditionellen Vorstellungen von Gott, Welt und Mensch erschütterte und die allumfassende "Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Immanuel Kant) forderte.


  • Hinzu trat mit der Entstehung einer kommerziell-industriellen Gesellschaft die Forderung nach wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit und nach Sicherung eines durch Arbeit entstandenen Besitzes. Die soziale und ökonomische Struktur der alten, ständisch gegliederten Gesellschaft mit ihren feudalistischen und zunftmäßigen Behinderungen freien Wirtschaftens trug nicht länger. Der aufsteigende bürgerliche Stand forderte die Beendigung der privilegierten, nur auf Geburt gegründeten Vorherrschaft des Adels.

Daraus folgte die Notwendigkeit einer anderen Rechtfertigung politischer Machtausübung. Die herkömmliche alte Ordnung, die davon ausging, dass der Herrscher von Gott eingesetzt sei, war spätestens mit der Enthauptung Charles I. in England 1649 in ihrer Gültigkeit erschüttert worden. Es galt daher, Staat und Herrschaft neu zu begründen und nach den durch die Aufklärung propagierten "Grundsätzen der Vernunft" auszurichten. Nicht von ungefähr setzt hier die Denkfigur eines Vertrages zwischen Individuen zur Legitimierung einer politischen Ordnung ein.

Der Gesellschaftsvertrag, der auf der Zustimmung der Einzelnen beruhte, wurde zur neuen Grundlage des Staates. Der Gedanke des Gesellschaftsvertrages verband sich mit den aus dem Naturrecht hergeleiteten Prinzipien der Unveräußerlichkeit von Leben, Freiheit und Eigentum des Individuums. Eine jede politische Ordnung war nun vom Einzelnen und seiner Freiheit her zu denken. Damit entstand aber auch das Problem, wie mit der Unterschiedlichkeit von Interessen und Wertvorstellungen der Individuen umgegangen werden sollte.

Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen mündeten in die Forderungen nach einer Beschränkung der Herrschermacht, nach Trennung der Gewalten und in die Vorstellungen von der Souveränität des Volkes. Politische Realität wurden diese Forderungen auf verschiedenen Wegen: in England über die Bürger- und Religionskriege des 17. Jahrhunderts; in Nordamerika im Zuge der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und in den nachfolgenden Verfassungen; in Frankreich über die Revolution von 1789 und in Deutschland erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Impulse der Revolution von 1848. In Polen wurde am 3. Mai 1791 die erste geschriebene Verfassung Europas verabschiedet.

QuellentextUnteilbarkeit der Souveränität

Der französische Philosoph und Staatsrechtler Jean Bodin (1529–1596) gilt als der theoretische Begründer des staatlichen Absolutismus. Geprägt durch die Religionskriege im Frankreich des 16. Jahrhunderts sucht er den zerrütteten Staat theoretisch auf die Grundlage eines absoluten Souveränitätskonzeptes zu stellen.

Der Begriff der Souveränität beinhaltet die absolute und dauernde Gewalt eines Staates […] Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt. […] Da es auf Erden nach Gott nichts Größeres gibt als die souveränen Fürsten, die Gott als seine Statthalter eingesetzt hat, damit sie der übrigen Menschheit befehlen, ist es notwendig, auf ihre Stellung achtzuhaben, um in Unterwürfigkeit ihre Majestät achten und verehren und über sie in Ehrerbietung denken und sprechen zu können. Wer sich gegen den König wendet, versündigt sich an Gott, dessen Abbild auf Erden der Fürst ist.[...] Die wahren Attribute der Souveränität sind nur dem souveränen Fürsten eigen.[...]

Das hervorragendste Merkmal der fürstlichen Souveränität besteht in der Machtvollkommenheit, Gesetze für alle und für jeden einzelnen zu erlassen, und zwar, wie ergänzend hinzuzufügen ist, ohne dass irgendjemand – sei er nun höhergestellt, ebenbürtig oder von niederem Rang – zustimmen müsste. Wenn nämlich der Fürst nur mit Zustimmung eines über ihm Stehenden Gesetze erlassen kann, so ist er selbst Untertan; wenn es nur in Übereinstimmung mit einem ihm Ebenbürtigen geschehen kann, so teilt der Fürst seine Befugnisse mit jemandem; wenn die Gesetzgebung an die Zustimmung der Untertanen (des Senats oder des Volkes) gebunden ist, so ist der Fürst nicht souverän. Die Namen der Großen eines Landes, die man bei Gesetzestexten angefügt findet, bewirken nicht die Gesetzeskraft. Vielmehr bezeugen sie den Vorgang und verleihen ihm Nachdruck, so dass das Gesetz eher akzeptiert wird.

Jean Bodin, Über den Staat (Buch 1), Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Gottfried Niedhart, Philipp Reclam jun. Verlag Ditzingen 1999, S. 19, 39, 41 f.

Politik der kleinen Schritte – England


In England verlief der Weg zur modernen Demokratie über die Ausbildung einer konstitutionellen Monarchie, in der die Macht des Monarchen beschränkt wird, über eine schrittweise Stärkung des Parlamentes und eine allmähliche Erweiterung des allgemeinen Wahlrechtes. Bis auf die Zeiten der Magna Charta Libertatum von 1215 geht die Idee zurück, dass keine Steuer ohne gemeinsame Beratung im Königreich (Commonwealth) erhoben werden durfte. Der König benötigte den Rat, aber auch die Zustimmung von Männern aus seinem Reich, um die Finanzen festzustellen. Daraus entwickelte sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts die Institution des Parlamentes, das laut Statuten mindestens einmal jährlich tagen sollte.

Während zunächst in diesen Parlamenten vor allem adlige Großgrundbesitzer vertreten waren, bildete sich ab dem 14. Jahrhundert die Vorstellung des Parlamentes als einer Vertretung aller Kreise und Gemeinden des Königreiches heraus. Daher erhielten nun auch die "Gemeinen", die commons, Zugang in die Vertretung. Später entwickelte sich hieraus das House of Commons, das Unterhaus.

Dieses Parlament war allerdings noch keine demokratische Vertretungskörperschaft. Erst die Wahlrechts- und Parlamentsreformen des 19. und 20. Jahrhunderts führten zur vollen Parlamentarisierung der konstitutionellen Monarchie und zur Demokratisierung des Parlamentarismus. Doch bewirkte die frühe Etablierung des Parlamentes als Gesamtvertretung des englischen Commonwealth zwei entscheidende Weichenstellungen:

Zum einen stellte das parlamentarische Zusammenwirken von König, Oberhaus und Unterhaus schon früh eine Balance sozialer Kräfte und politischer Gewalten her. Der französische Staatsrechtler und Philosoph Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689–1755) hat in seiner Schrift "De l’esprit des lois" ("Vom Geist der Gesetze", 1748) eindrucksvoll beschrieben, wie sich die englischen Institutionen von König, Oberhaus und Unterhaus wechselseitig verschränkten und damit gegenseitig kontrollierten.

Er sah darin eine Mischverfassung monarchischer, aristokratischer und demokratischer Elemente, die seiner Einschätzung nach die Herrschaft mäßigte und Freiheit garantierte. Diese Form der Gewaltenteilung, die eigentlich eine Gewaltenkontrolle und Gewaltenbalance (checks and balances) selbstständiger Institutionen darstellt, geht somit nicht nur auf die antiken Vorläufer der Mischverfassung, sondern auch auf die Entwicklung des englischen Parlamentarismus im Rahmen einer Monarchie zurück.

Die andere nachhaltige Wirkung des frühen britischen Parlamentarismus, die für das Verständnis der modernen, repräsentativen Demokratie wesentlich wurde, war die Vorstellung von responsible government (verantwortlicher Regierung). Nach ihr war es das Recht der Bürger, ihre Repräsentanten auszuwählen und sie für ihre Ausführung von Amt und Mandat verantwortlich zu machen – eine Auffassung, die schon die athenische Praxis der Rechenschaftsablegung und -kontrolle der Amtsträger auszeichnete, die aber auch der republikanischen Tradition bürgerschaftlicher Selbstregierung entstammte. Das Verhältnis zwischen Repräsentierten und Repräsentanten beruhte zum einen auf Zustimmung, zum anderen auf Vertrauen.

Diese Theorie einer Repräsentation auf Zeit hatte sich bereits im 17. Jahrhundert herausgebildet, vor allem im Zuge der Auseinandersetzungen, die von der Enthauptung Charles I. 1649 über Oliver Cromwells Interregnum (1649 – 1658) bis zur Glorious Revolution von 1688/89 andauerten. Die Levellers, eine radikal-demokratische Bewegung, die die Sache des Parlamentes gegen den König in den 1640er-Jahren verfochten und die Ausweitung der Wahlrechte gefordert hatte, gehörten ebenso zu den Anhängern der Repräsentationstheorie wie der bedeutende Philosoph der englischen Aufklärung John Locke (1632 – 1704).

Locke definierte in seinem politischen Hauptwerk, den "Two Treatises on Government" ("Zwei Abhandlungen über die Regierung"), die er ab 1679 geschrieben hatte, die staatliche Ordnung als Vertragsverhältnis zwischen der Regierung und den Bürgern. Dabei war die Regierung auf Zustimmung und Vertrauen der Bürger angewiesen, sie übte die Amtsgeschäfte in "Treuhänderschaft" für die Bürger aus. Bei Zuwiderhandlungen der Repräsentanten konnten die Repräsentierten, die Bürger, ein Widerstandsrecht geltend machen.

Locke war es auch, der den Zweck der eingesetzten Regierung an die Wahrung individueller, natürlicher Rechte band. Zu diesen Bürgerrechten zählte der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum. Wenn er diese Rechte summarisch immer wieder als Eigentumsrechte bezeichnete, so meinte er damit, dass Leben, Freiheit und Besitz im Eigentum des Individuums standen und ihm nicht, vor allem nicht durch willkürliches Regierungshandeln, wieder genommen werden konnten.

Entscheidend für Lockes Staatskonzeption, die noch keine entschieden demokratische Theorie darstellte, war nun, dass diese Rechte zugleich die Grenzen des Regierungshandelns festlegten. Nur auf der Grundlage eines allgemeinen und veröffentlichten Gesetzes konnte überhaupt in die geschützten Freiheitsräume der Bürger eingegriffen werden. Dabei durften aber deren Rechte selbst nicht verletzt werden.

Locke hatte damit die mit der Magna Charta beginnende englische Entwicklung, Freiheiten zu gewähren, auf den Punkt gebracht. Mit seiner Begründung, es handele sich hierbei um natürliche Rechte der Menschen, nahm er allerdings eine radikale Zuspitzung vor, weil nun die Freiheiten als vorstaatliche und unveräußerliche Rechte des Einzelnen verstanden wurden.

Die Bedeutung der Lockeschen Konzeption war kaum zu überschätzen, weil sie das Modell einer Demokratie aufzeigte, welches die Verfahren repräsentativ-demokratischer Willens- und Entscheidungsbildung mit der Wahrung individueller Rechte und Freiheiten verband. Hier sollten die Revolutionäre von 1776 in Nordamerika anknüpfen.

QuellentextGewaltentrennung

Der französische Staatsrechtler und Philosoph Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689–1755) gilt als Begründer der modernen Lehre von den drei staatlichen Gewalten und ihrem Verhältnis zueinander. In seinem Hauptwerk "Vom Geist der Gesetze" (1748) beschreibt er die Grundlagen und Voraussetzungen für eine gute Regierung.

[...] Die politische Freiheit des Bürgers ist jene Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit hat, muss die Regierung so eingerichtet sein, dass ein Bürger den anderen nicht zu fürchten braucht. Wenn in derselben Person oder der gleichen obrigkeitlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden vereinigt ist, gibt es keine Freiheit; denn es steht zu befürchten, dass derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze macht, um sie tyrannisch zu vollziehen. Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben. Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft der Großen, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausüben würde: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder die Streitsachen der einzelnen zu richten. [...]

Da in einem freien Staate jeder, dem man einen freien Willen zuerkennt, durch sich selbst regiert sein sollte, so müsste das Volk als Ganzes die gesetzgebende Gewalt haben. Das aber ist in den großen Staaten unmöglich, in den kleinen mit vielen Misshelligkeiten verbunden. Deshalb ist es nötig, dass das Volk durch seine Repräsentanten das tun lässt, was es nicht selbst tun kann. [...] Alle Bürger [...] müssen das Recht haben, ihre Stimme bei der Wahl des Repräsentanten abzugeben, mit Ausnahme derer, die in einem solchen Zustand der Niedrigkeit leben, dass ihnen die allgemeine Anschauung keinen eigenen Willen zuerkennt. [...]

Zu allen Zeiten gibt es im Staat Leute, die durch Geburt, Reichtum oder Ehrenstellungen ausgezeichnet sind. Würden sie mit der Masse des Volkes vermischt und hätten sie nur eine Stimme wie alle übrigen, so würde die gemeine Freiheit ihnen Sklaverei bedeuten. Sie hätten an ihrer Verteidigung kein Interesse, weil die meisten Entschließungen sich gegen sie richten würden. Ihr Anteil an der Gesetzgebung muss also den übrigen Vorteilen angepasst sein, die sie im Staate genießen. Das wird der Fall sein, wenn sie eine eigene Körperschaft bilden, die berechtigt ist, die Unternehmungen des Volkes anzuhalten, wie das Volk das Recht hat, den ihrigen Einhalt zu gebieten. So wird die gesetzgebende Gewalt sowohl der Körperschaft des Adels wie der gewählten Körperschaft, welche das Volk repräsentiert, anvertraut sein. Beide werden ihre Versammlungen und Beratungen getrennt führen, mit gesonderten Ansichten und Interessen. [...]

Die vollziehende Gewalt muss in den Händen eines Mo­narchen liegen. Denn dieser Teil der Regierung, der fast immer der augenblicklichen Handlung bedarf, ist besser durch einen als durch mehrere verwaltet, während das, was von der gesetzgebenden Gewalt abhängt, häufig besser durch mehrere als durch einen Einzelnen angeordnet wird. [...]

Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übers. und hg. von Ernst Forsthoff, 2. Aufl., Mohr Siebeck GmbH, Tübingen 1992, S. 214 ff. (XI. Buch, 6. Kapitel)

QuellentextGegen das Gottesgnadentum

Der englische Arzt und Philosoph John Locke (1632–1704) gehört zu den bedeutendsten Philosophen der englischen Aufklärung. Seine Hinwendung zum Empirismus bereitet in England die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften vor. In seinem politischen Hauptwerk, den Two Treatises on Government von 1690, wendet er sich gegen damals gängige Herrschaftstheo­rien des Gottesgnadentums. Locke behauptet, die Grundlage der staatlichen Ordnung sei ein Vertragsverhältnis – der sogenannte Gesellschaftsvertrag – zwischen der Regierung und den Bürgern.

Zweite Abhandlung über die Regierung

[...] §87 Der Mensch wird, wie nachgewiesen worden ist, mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und uneingeschränkten Genuss aller Rechte und Privilegien des natürlichen Gesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen oder jeder Anzahl von Menschen auf dieser Welt geboren.

Daher hat er von Natur aus nicht nur die Macht, sein Eigentum, das heißt sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz, gegen die Schädigungen und Angriffe anderer Menschen zu schützen, sondern auch jede Verletzung des Gesetzes seitens anderer zu verurteilen und sie so zu bestrafen, wie es nach seiner Überzeugung das Vergehen verdient [...].

Da aber keine politische Gesellschaft bestehen kann, ohne dass es in ihr eine Gewalt gibt, das Eigentum zu schützen und zu diesem Zweck die Übertretungen aller, die dieser Gesellschaft angehören, zu bestrafen, so gibt es nur dort eine poli­tische Gesellschaft, wo jedes einzelne ihrer Mitglieder seine natürliche Gewalt aufgegeben und zugunsten der Gemeinschaft in all denjenigen Fällen auf sie verzichtet hat, die es nicht davon ausschließen, das von ihr geschaffene Gesetz zu seinem Schutz anzurufen. [...]

§88 So gelangt das Staatswesen zu einer Gewalt, für die einzelnen Überschreitungen, die unter den Mitgliedern der Gesellschaft begangen werden und die es der Bestrafung für wert erachtet, das Strafmaß festzusetzen, das man für angemessen hält (also zu der Macht, Gesetze zu erlassen), und zugleich zu jener Gewalt, jegliches Unrecht zu bestrafen, dass einem der Mitglieder von jemandem zugefügt wird, der nicht zu dieser Gesellschaft gehört (also zu der Macht über Krieg und Frieden), und das alles zur Erhaltung des Eigentums aller Mitglieder dieser Gesellschaft, so weit es möglich ist. [...]

Und hier liegt der Ursprung der legislativen und exekutiven Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft: Sie hat nach stehenden Gesetzen zu urteilen, wie weit Verbrechen, die innerhalb des Gemeinwesens begangen wurden, zu bestrafen sind. Ebenso muss sie durch ein gelegentliches Urteil, das durch die jeweiligen Umstände des Falles begründet wird, entscheiden, wie weit Schädigungen von außen bestraft werden sollen. In beiden Fällen aber darf sie auf die gesamte Kraft ihrer Mitglieder zurückgreifen, wenn dies notwendig sein sollte. [...]

§134 Das große Ziel, das Menschen, die in eine Gesellschaft eintreten, vor Augen haben, liegt im friedlichen und sicheren Genuss ihres Eigentums, und das große Werkzeug und Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft erlassen worden sind. So ist das erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten die Begründung der legislativen Gewalt, so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, das sogar über der legis­lativen Gewalt gelten muss, die Erhaltung der Gesellschaft und (so weit es mit dem öffentlichen Wohl vereinbar ist) jeder einzelnen Person in ihr ist.

Diese Legislative ist nicht nur die höchste Gewalt des Staates, sondern sie liegt auch geheiligt und unabänderlich in den Händen, in welche die Gemeinschaft sie einmal gelegt hat. Keine Vorschrift irgendeines anderen Menschen, in welcher Form sie auch verfasst, von welcher Macht sie auch gestützt sein mag, kann die verpflichtende Kraft eines Gesetzes haben, wenn sie nicht ihre Sanktion von derjenigen Legislative erhält, die das Volk gewählt und ernannt hat. Denn ohne sie könnte das Gesetz nicht haben, was absolut notwendig ist, um es zu einem Gesetz zu machen, nämlich die Zustimmung der Gesellschaft. [...]

John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Euchner, übersetzt von Hans Jörn Hoffmann, 12. Auflage, © Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2007, S. 253 ff. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin

Demokratiegründung – Amerikanische Revolution


Zunächst hatten die Bewohner der 13 englischen Kolonien in Nordamerika Rechte und Freiheiten ganz in der Tradition des Mutterlandes als althergebrachte Rechte verstanden. Als England jedoch für die Kolonien Nordamerikas die Steuerlast erhöhen wollte, ohne diesen Gelegenheit zur Mitsprache zu geben, gelangten die Kolonisten zu der Auffassung, dass ihre Rechte weder von der englischen Krone noch vom englischen Parlament respektiert wurden.

Ihr Wahlspruch "No taxation without representation" (dt.: keine Besteuerung ohne politische Vertretung) bedeutete den Auftakt zur Revolution. Die Nordamerikaner lösten sich von England und gründeten die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie entwickelten dabei ein Verständnis von vorstaatlichem Recht, welches der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 ihren revolutionären Charakter gab.

Diese liest sich in Teilen wie ein Zitat aus Lockes Zweiter Abhandlung über die Regierung – Thomas Jefferson, der die Declaration of Independence im Wesentlichen verfasste, zählte Locke zu seinen Lieblingsphilosophen. Die Regierung sollte nach solchen Grundsätzen eingerichtet und ihre Gewalten sollten solchermaßen organisiert werden, wie es den Bürgern zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glückes geboten schien.

Vor allem aber war es Ziel- und Zweckbestimmung aller staatlichen Gewalt, die als "selbstevident" bezeichneten "Wahrheiten" zu achten: "dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wann immer irgendeine Regierungsform sich als diesem Ziel abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen".

Dementsprechend wurde die neue politische Ordnung eingerichtet. In elf der dreizehn Einzelstaaten entwickelten gewählte Repräsentativversammlungen neue Verfassungen. In New Hampshire und Massachusetts gab es verfassungsvorbereitende Konvente, in Massachusetts wurde 1778 der Verfassungsentwurf direkt den Bürgerversammlungen der Gemeinden zur Billigung vorgelegt. Überall wurden Grundrechte kodifiziert; die Virginia Bill of Rights von 1776 war die erste moderne Grundrechteerklärung.

Leben, Freiheit und Eigentum bzw. das Streben nach Glück galten als unveräußerliche, natürliche Rechte und markierten die Grenzen politischer Macht. Sie durften weder von der Regierungsgewalt noch von der wahlberechtigten Mehrheit verletzt werden. Repräsentanten und andere Inhaber öffentlicher Ämter sollten nur kurze Amtszeiten haben. Die politischen Gewalten von Legislative, Exekutive und Judikative wurden geteilt, die Organe kontrollierten sich gegenseitig.

Damit entstanden zum ersten Mal demokratische Verfassungen, die auf der Souveränität des Volkes beruhten. Dieses regierte nicht direkt, sondern durch Repräsentativkörperschaften, zumeist zwei Kammern, Abgeordnetenhaus und Senat. Das Wahlrecht war durch Eigentumsklauseln beschränkt, die im Durchschnitt von drei Vierteln der weißen, männlichen Erwachsenen erfüllt werden konnten. Die Exekutive bestand aus einem Gouverneur, der, wie die Repräsentanten, nur für ein Jahr gewählt wurde.

Die Amerikanische Revolution hatte damit in den Einzelstaaten repräsentative Demokratien auf der Grundlage von Verfassungen und mit einer herausragenden Geltung der Grund- und Bürgerrechte institutionalisiert. Ein neuer Typus von Demokratie, die Verfassungs- und Grundrechtedemokratie, war geboren.

Aber dieses System bestand nur in den Einzelstaaten, und es war gefährdet. Eine einheitliche Verfassung kam zunächst nur in Form eines Staatenbundes zustande. Die Articles of Confederation wurden 1781 – von den Staaten, nicht vom Volk – verabschiedet. Sie schufen nur lose Bindungen zwischen den Staaten mitsamt ihren verschiedenen Inte­ressen, und ihre Institutionen schienen zu schwach, um die Probleme der Finanzierung von Revolution und Unabhängigkeitskrieg sowie die Frage einer gemeinsamen Außenhandelspolitik zu lösen.

So kam es 1787 in Philadelphia zum Versuch, eine neue Verfassung für einen Bundesstaat zu entwerfen. Die Befürworter des Entwurfs waren die "Federalists". Sie entwickelten eine Demokratietheorie für den modernen Nationalstaat. In der leidenschaftlichen Diskussion zwischen den "Federalists" und ihren Gegnern, den "Anti-Federalists", die den Entwurf ablehnten, spielte auch noch ein – nicht anwesender – Dritter eine entscheidende Rolle, ein französischer Philosoph, von dessen eigener Demokratietheorie sich die Federalists distanzierten. Die moderne Demokratie stand am Scheideweg.

QuellentextVirginia Bill of Rights

Die "Virginia Bill of Rights" von 1776 gilt als älteste Grundrechteerklärung der Neuen Welt.

[...] Abschnitt 1. Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, [...] und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit.

Abschnitt 2. Alle Macht ruht im Volke und leitet sich folglich von ihm her; die Beamten sind nur seine Bevollmächtigten und Diener und ihm jederzeit verantwortlich.

Abschnitt 3. Eine Regierung ist oder sollte zum allgemeinen Wohle, zum Schutze und zur Sicherheit des Volkes, der Nation oder Allgemeinheit eingesetzt sein; von all den verschiedenen Arten und Formen der Regierung ist diejenige die beste, die imstande ist, den höchsten Grad von Glück und Sicherheit hervorzubringen, und die am wirksamsten gegen die Gefahr schlechter Verwaltung gesichert ist. [...]

Abschnitt 4. Kein Mensch oder keine Gruppe von Menschen ist zu ausschließlichen und besonderen Vorteilen und Vorrechten seitens des Staates berechtigt. [...]

Abschnitt 5. Die gesetzgebende und die ausführende Gewalt des Staates sollen von der richterlichen getrennt und unterschieden sein; die Mitglieder der beiden ersteren sollen [...] in bestimmten Zeitabschnitten in ihre bürgerliche Stellung entlassen werden und so in jene Umwelt zurückkehren, aus der sie ursprünglich berufen wurden. [...]

Abschnitt 6. Die Wahlen der Abgeordneten, die als Volksvertreter in der Versammlung dienen, sollen frei sein; alle Männer, die ihr dauerndes Interesse und ihre Anhänglichkeit an die Allgemeinheit erwiesen haben, besitzen das Stimmrecht. [...]

Abschnitt 8. Bei allen schweren oder kriminellen Anklagen hat jedermann ein Recht, Grund und Art seiner Anklage zu erfahren, den Anklägern und Zeugen gegenübergestellt zu werden, Entlastungszeugen herbeizurufen und eine rasche Untersuchung [...] zu verlangen, [...] auch kann er nicht gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen; niemand kann seiner Freiheit beraubt werden außer durch Landesgesetz oder [...] Urteil. [...]

Abschnitt 12. Die Freiheit der Presse ist eines der starken Bollwerke der Freiheit [...].

Hartmut Wasser, Die USA – der unbekannte Partner, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1983, S. 38 ff.

Kontroverse über Identitäre und Repräsentative Demokratie



Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) gehört zu den bedeutendsten Philosophen und Schriftstellern Frankreichs im 18. Jahrhundert. Seine Wirkung erstreckte sich jedoch weit über Frankreich hinaus auf Europa und auf das revolutionäre Nordamerika. Viele Denker und Politiker beriefen sich auf ihn, so beispielsweise die Revolutionäre in Frankreich, aber auch Philosophen wie Immanuel Kant in Deutschland. Rousseau verfasste viele Schriften, auch Verfassungsentwürfe.

Von besonderer politischer Bedeutung war seine 1762 veröffentlichte Schrift "Du contrat social ou Principes du droit politique" ("Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes"), die seinen Ruf als Demokratietheoretiker begründete. Rousseau stellte darin eine zentrale Frage: "Wie können Andersdenkende zugleich frei und Gesetzen unterworfen sein, denen sie nicht zugestimmt haben?". Rousseau ging es um die Freiheit, genauer um die Wiedergewinnung der Freiheit, die er im absolutistischen Frankreich seiner Zeit eher in eine Knechtschaft verwandelt sah, ganz gemäß seiner einleitenden Feststellung: "Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten."

Rousseaus Gesellschaftsvertrag

Zur Wiederherstellung der Freiheit ist es nach Ansicht Rousseaus notwendig, einen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln. Der Einzelne beschließt mit seinen Mitmenschen die Gründung eines politischen Gemeinwesens mit dem Zweck, allgemeine Gesetze zur Wahrung der Freiheit zu erlassen. Das Gesetz ermöglicht und sichert Freiheit, zugleich verlangt es aber auch von den Bürgern, dass sie das Gesetz befolgen, sich ihm also unterwerfen.

Diese paradox anmutende Konstruktion lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn sich die Bürger selbst die Gesetze gegeben haben. Und so ist es vor allem die Idee der Selbstgesetzgebung, die Rousseau in das Zentrum seiner Überlegungen stellt: Nur der, der sich selbst die Gesetze gibt, kann sich auch an sie gebunden fühlen.

Dieser Grundsatz wird zu einem allgemeinen Prinzip für das politische Gemeinwesen erweitert. Es ist das Volk, das sich selbst die Gesetze gibt. Damit erst schafft es Freiheit in einem politischen Sinne, verpflichtet sich selbst aber zugleich, den Gesetzen zu folgen. Das ist der Kern seiner Theorie von der Souveränität des Volkes als der entscheidenden Gesetzgebungsinstanz.

Für Rousseau ist es die Aufgabe des Bürgers, selbst die Gesetze zu beschließen. So blickt er kritisch auf England, wo sich seit dem 17. Jahrhundert ein System konstitutioneller Monarchie herausgebildet hatte, in dem König und Parlament Gesetze gemeinsam beschlossen.

Die Ausführung des Volkswillens durch eine Repräsentationskörperschaft, also Parlamente, ist für Rousseau eine Illusion: "Das englische Volk glaubt frei zu sein. Es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. Bei dem Gebrauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, geschieht es ihm Recht, dass es sie verliert."

So scheint zwischen Rousseaus Theorie und der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie ein unüberbrückbarer Gegensatz zu bestehen. Gesetzgebung war für Rousseau nur durch das Volk selbst möglich, hier stand ihm die direkte, unmittelbare Versammlungsdemokratie Griechenlands und der Kantone in der Schweiz vor Augen.

Das Gesetz, vom Volk beschlossen, verkörpert für Rousseau den Gemeinwillen. Diese volonté générale zielt auf das öffentliche Wohl und hat nach Rousseaus Auffassung immer Recht, kann nicht irren. Sollte jemand anderer Meinung sein, dann beweise dies nichts anderes, "als dass ich mich getäuscht habe und dass das, was ich für den Gemeinwillen hielt, es nicht war". Dann muss er gezwungen werden, dem Gemeinwillen Folge zu leisten. Damit wollte Rousseau zum Ausdruck bringen, dass der Einzelne dem Gemeinwillen, der sich im Gesetz ausdrückt, verpflichtet und unterworfen ist.

Für Rousseau kam es darauf an, dem Gesetz und dem Gemeinwohl eine allgemeine Verbindlichkeit zu geben. Nur so schien es ihm möglich, Freiheit in einem stabilen Gemeinwesen zu sichern. Doch haben Rousseaus Formulierungen zu erheblichen und auch politisch folgenreichen Missverständnissen geführt. Denn wenn der Gemeinwille immer Recht hat und der Einzelne sich ihm unbedingt fügen muss, dann kann eine solche Konzeption zu einer Tyrannei des Gemeinwillens führen, die die Freiheit des Einzelnen vernichtet.

Auch lässt sich die Rousseausche Konstruktion für die Alleinherrschaft einer einzigen Partei nutzen, die für sich beansprucht, den Gemeinwillen zu kennen und zu repräsentieren, dann aber abweichende Meinungen unterdrückt und politische Minderheiten zwingt, sich ihrem absoluten Herrschaftsanspruch zu fügen. Eine totalitäre Demokratie, die Freiheit zerstört, aber nicht sichert, wie Rousseau es beabsichtigt hatte, ist die Folge.

Rousseau hatte große Sympathien für eine Form politischer Ordnung, in der Identität zwischen Regierenden und Regierten besteht, einer identitären Demokratie also, in der gesetzgebende und ausführende Gewalt, Legislative und Exekutive, in einer Hand, nämlich der des Volkes, liegen.

Das Vorbild war die griechische Polisdemokratie, in der die gesamte Bürgerschaft nicht nur die Gesetze in der Volksversammlung beschloss, sondern auch berechtigt war, die ausführenden Ämter und die Gerichte selbst zu besetzen. Rousseau war gleichwohl realistisch genug, eine solche Form identitärer Demokratie für so voraussetzungsvoll zu halten, dass sie nur von einem "Volk von Göttern" eingerichtet werden könnte.

Zu diesen Voraussetzungen zählte er "viele schwer zu vereinigende Dinge": einen "sehr kleinen Staat", eine "Einfachheit in den Sitten", eine "weitgehende Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung und der Vermögen" sowie "wenig oder gar keinen Luxus". Kleinräumigkeit, soziokulturelle Homogenität, sozioökonomische Gleichheit und bürgerschaftliche Tugend ("kein Luxus") waren Bedingungen, auf die die moderne Demokratie allerdings nicht mehr ohne Weiteres gegründet werden konnte. Resignierend hielt Rousseau deshalb fest: "Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht."

QuellentextHerrschaft des Gemeinwillens

Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) gehörte zu den bedeutendsten Schriftstellern Frankreichs im 18. Jahrhundert. Nicht zuletzt seine Mitarbeit an der Enzyklo­pädie weist ihn als einen Aufklärer und Vorbereiter der französischen Revolution aus.
Sein Demokratiebegriff bezieht sich auf kleine politische Einheiten, deren männliche Bürgerschaft eine homogene politische Gruppe bildet. Die Sicherung der individuellen Freiheit, des Besitzes und der Person steht bei Rousseau unter dem Verdacht des Sonderwillens.

Vom Gesellschaftsvertrag

Ich unterstelle, dass die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich diesen Zustand zu halten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht weiterbestehen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte.

Da die Menschen nun keine neuen Kräfte hervorbringen, sondern nur die vorhandenen vereinen und lenken können, haben sie keine anderen Mittel, sich zu erhalten, als durch Zusammenschluss eine Summe von Kräften zu bilden, stärker als jener Widerstand, und diese aus einem einzigen Antrieb einzusetzen und gemeinsam wirken zu lassen.

Diese Summe von Kräften kann nur durch das Zusammenwirken mehrerer entstehen; da aber Kraft und Freiheit jedes Menschen die ersten Werkzeuge für seine Erhaltung sind – wie kann er sie verpfänden, ohne sich zu schaden und ohne die Pflichten gegen sich selbst zu vernachlässigen? [...]

Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt. [...]

Diese Bestimmungen lassen sich bei richtigem Verständnis sämtlich auf eine einzige zurückführen, nämlich die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes. [...] Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch eben diesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält.

Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen. Was die Mitglieder betrifft, so tragen sie als Gesamtheit den Namen Volk, als einzelne nennen sie sich Bürger, sofern sie Teilhaber an der Souveränität, und Untertanen, sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind. [...]

Aus dem Vorhergehenden folgt, dass der Gemeinwille immer auf dem rechten Weg ist und auf das öffentliche Wohl abzielt: Woraus allerdings nicht folgt, dass die Beschlüsse des Volkes immer gleiche Richtigkeit haben. [...] Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen; dieser sieht nur auf das Gemeininteresse, jener auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als die Summe von Sonderwillen: aber nimm von eben diesen das Mehr und Weniger weg, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschied der Gemeinwille. [...]

Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, dass es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und dass jeder Bürger nur seine eigene Stimme vertritt. [...]

Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Philipp Reclam jun. Verlag Ditzingen 2008, S. 16 ff.



Demokratietheorie der Federalists

Rousseaus Demokratieauffassung ist in Teilen antiparlamentarisch und antipluralistisch. Dies stieß beispielsweise auch auf die Kritik der amerikanischen Verfassungsväter, die 1787 in bewusster Abgrenzung zu Rousseau eine repräsentative, auf Gewaltenteilung basierende Demokratie entwarfen. Sie fragten sich, wie ein großer Territorialstaat so eingerichtet und verfasst werden könnte, dass er demokratischen Ansprüchen genügte.

Dabei mussten sie von anderen sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen ausgehen, als Rousseau sie für die identitäre, "reine" Demokratie vorausgesetzt hatte. Gerade weil die von Rousseau genannten vier Grundlagen der "einfachen" Demokratie in ihren Augen nicht mehr bestanden, war die direkte, unmittelbare Demokratie Athens nicht mehr praktizierbar. Rousseau hatte diese Konsequenz gescheut, die amerikanischen Federalists zogen sie: Die Transformation zur repräsentativen, parlamentarischen Demokratie war das Gebot der Stunde.

Unter "Federalists" werden die drei Politiker der nordamerikanischen Gründungsgeschichte verstanden, die zwischen 1787 und 1788 gemeinsam unter dem Synonym "Publius" – eine Anspielung auf den römischen Gesetzgeber Publius Valerius – den Entwurf der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 verteidigten und deren Ratifizierung forderten: John Jay (1745 – 1829), Alexander Hamilton (1755 – 1804) und James Madison (1751 – 1836). Die insgesamt 85 Artikel, die sie in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen (v. a. im Staat New York) veröffentlichten, gelten bis heute als wichtiger Kommentar der amerikanischen Verfassung.

Der bekannteste Artikel stammt von James Madison, dem späteren Präsidenten der Vereinigten Staaten. In diesem Artikel, dem Federalist Paper Nr. 10 (siehe S. 30), umreißt Madison die grundsätzliche Rolle des Pluralismus für die politische Willensbildung in einem modernen Flächenstaat, um Demokratie und republikanische Freiheit miteinander zu versöhnen.

Die Federalists befürworteten eine bundesstaatliche Ordnung, die mit der Verfassung von 1787 begründet werden sollte. Das bedeutete vor allem eine Stärkung der Kompetenzen des Zentralstaates. Ihre Gegner, die Anti-Federalists, setzten sich dagegen für die Beibehaltung der Autonomie der Einzelstaaten im Rahmen des 1776/81 geschlossenen Staatenbundes ein.

Während sich die Anti-Federalists auf Rousseau beriefen, distanzierten sich die Federalists von ihm. Denn nach ihrer Ansicht war in einer modernen Gesellschaft eine Homogenität der Anschauungen und Wertvorstellungen nicht (mehr) gegeben, genauso wenig wie eine Gleichheit der ökonomischen Verhältnisse. Sie bezweifelten nicht nur, dass es solche idealtypischen Verhältnisse je gegeben habe; sie glaubten darüber hinaus, dass Verstand und Fähigkeiten der Menschen von Natur aus so unterschiedlich sind, dass es von vornherein illusorisch sei, gleichgerichtete Anschauungen und Interessen anzunehmen – es sei denn, man unterdrücke die Pluralität von Meinungen und Interessen auf gewaltsame Weise oder man beseitige die Freiheit. Beide Mittel lehnten die Federalists ab.

Wenn zudem nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnte, dass die Menschen per se tugendhaft und deshalb bereit seien, die eigenen Interessen hinter das Gemeinwohl zurückzustellen, so war der Ausgangspunkt nun ein ganz anderer: Eine "Gesellschaft ohne Tugend" musste demokratisch verfasst werden. Dabei sollte jedoch an der Souveränität des Volkes, wie auch Rousseau befunden hatte, kein Zweifel bestehen, zumal schon 1776 im Namen des Volkes die revolutionäre Ablösung vom englischen Mutterland betrieben und die Unabhängigkeit ausgerufen worden war.

Die Federalists argumentierten weiter, dass es im Wesentlichen darauf ankomme, die Auswirkungen unterschiedlicher Interessen und Wertvorstellungen der Bürger zu kontrollieren und nicht deren Ursachen, nämlich die Freiheit und die Unterschiedlichkeit der Menschen, zu beseitigen. Damit formulierten sie eine Antithese zu Rousseau, dessen Ansicht, Partikularwillen und abweichende Meinungen müssten im Interesse des Gemeinwillens ignoriert oder unterdrückt werden, sie entschieden zurückwiesen.

Vielmehr hielten die Federalists das Vorhandensein von factions, von Interessengruppen und Parteiungen, für unvermeidlich, weil diese in der menschlichen Natur und im unterschiedlichen Gebrauch des menschlichen Verstandes angelegt seien. Mehr noch: Unterschiedliche Meinungen und Interessen seien die Folge der politischen Freiheit. Unsinnig aber sei es, die Freiheit abzuschaffen, die für das politische Leben so unerlässlich sei wie die Luft zum Atmen. Und gänzlich abwegig sei es, "alle Bürger mit den gleichen Meinungen, den gleichen Leidenschaften und denselben Interessen zu versehen". Die Federalists akzeptierten also die veränderten politisch-sozialen Grundbedingungen der modernen Gesellschaft. An der Pluralität von Werten, der Vielfalt von Interessen und der Unterschiedlichkeit von gesellschaftlichen Gruppierungen ging für sie kein Weg vorbei.

Daraus ergaben sich die institutionellen Konsequenzen für das demokratische Regierungssystem. So galt es, für die Vereinigten Staaten von Amerika eine Demokratie zu etablieren, die einerseits auf der Souveränität des Volkes und der Herrschaft der Mehrheit beruhte, andererseits aber die Freiheit der Einzelnen und der Gruppen erhalten sowie eine Tyrannei durch die Mehrheit verhindern konnte. Demokratische Mehrheitsherrschaft und liberale Machtbegrenzung sollten in einem System gemäßigter Demokratie miteinander vereinbart werden. Denn weder Athens Versammlungsdemokratie noch Rousseaus identitäre Demokratie sahen die Federalists als tauglich für einen großen Flächenstaat an.

Stattdessen plädierten sie für ein repräsentatives, auf Wahl von Abgeordneten und Mandatsträgern basierendes System. Dabei sollte die Wahl von Repräsentanten und Senatoren gewährleisten, dass Entscheidungen nicht unter dem Druck von zufällig zustande gekommenen oder manipulierten Mehrheiten, sondern auf der Grundlage nüchterner und distanzierter Beratung von Repräsentanten gefällt wurden. Das Repräsentationssystem war als Filter für einen Willensbildungsprozess zu verstehen, an dessen Ende vernünftige und gerechte Entscheidungen getroffen werden konnten.

Zugleich etablierten die Federalists ein komplexes System von checks and balances, von Gewaltenkontrolle und Gewaltenbalance. Dieses System sah nicht nur die Aufteilung der staatlichen Gewalt in selbstständige, separate Institutionen vor. Ganz im Sinne der Theorie von Montesquieu kam es zusätzlich darauf an, diese Institutionen so miteinander zu verkoppeln, dass sie sich gegenseitig kontrollierten und ein Gleichgewicht ausbildeten. Außerdem wurde dieses System sowohl in horizontaler wie auch in vertikaler Hinsicht eta­bliert: zwischen den einzelnen Organen auf Bundesebene, aber auch zwischen dem Bundesstaat und den Einzelstaaten. Dieses System doppelter Gewaltenhemmung und Gewaltenbalance, von föderaler Ordnung und Verschränkung der Organe, sollte vor allem eine Machtzusammenballung in den Händen weniger verhindern. Es ließ aber auch den einzelnen Einheiten großen Freiraum zu demokratischer Selbstbestimmung. So gab die föderale Ordnung den amerikanischen Einzelstaaten weitgehende Kompetenzen und in sehr vielen Bereichen das Recht zur ausschließlichen Gesetzgebung.

Auf Bundesebene wiederum besaßen der Kongress, also Repräsentantenhaus und Senat, sowie der amerikanische Präsident, der zugleich Chef der Exekutive war, unterschiedliche Kompetenzen, teilten sich aber dennoch manche Gewalten, wie zum Beispiel in der Gesetzgebung. Sie war zwar Sache des Kongresses, aber der Präsident besaß in bestimmten Fällen ein Vetorecht. Hier kontrollierten sich die Institutionen, indem sie aufeinander einwirkten.

Von diesem Mechanismus der Trennung und der Verschränkung der Gewalten erhofften sich die Federalists ein hohes Maß an Effektivität, aber auch eine wirksame Begrenzung der Macht der einzelnen Institutionen. Zugleich spiegelte ihrer Ansicht nach diese Vielzahl von Institutionen auf Bundes- und Einzelstaatsebene die gesellschaftliche und föderale Vielfalt des großflächigen Gesamtstaates wider. Machtkämpfe und Interessenkonflikte, wie sie in der Politik seit der Antike überliefert und von den Federalists sehr genau studiert worden waren, schienen nun durch ein System gegenseitiger Kontrolle und institutioneller Balance begrenzbar zu sein.

Mit der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung war für den großen Flächenstaat der Vereinigten Staaten von Amerika das System der repräsentativen Demokratie geboren worden. 1800/01 vollzog sich der erste reguläre, in einem repräsentativ-demokratischen System vollzogene Wechsel einer Regierung, und es sollte auch der Beginn der Parteiendemokratie sein. Aus den factions, den Parteiungen, waren Parteien geworden. Sie schienen geeignet, die in einer modernen Gesellschaft auftretenden unterschiedlichen Werte und Inte­ressen zu bündeln und in das politische System einzubringen. Zugleich rekrutierten die Parteien politisches Führungspersonal und setzten sich dafür ein, dass dieses Wahlämter besetzen konnte. Anders als Rousseau erkannten die Federalists die Pluralität von Interessen und Parteiungen explizit an, Demokratietheorie und Pluralismustheorie gingen eine nachhaltig wirksame Verbindung ein.

QuellentextFederalist-Artikel Nr.10

[…] Keiner der vielen Vorteile, die von einer sinnvoll aufgebauten Union zu erwarten sind, verdient sorgfältiger untersucht zu werden als der, mittels ihrer die Gewalt von Parteienkämpfen brechen und unter Kontrolle halten zu können. [...]

Mangelnde Stabilität, Ungerechtigkeit und Konfusion waren, wenn sie in die Volksversammlungen Einzug gehalten hatten, in der Tat die tödlichen Krankheiten, an denen die Volksregierung überall zugrundegegangen ist. Zugleich sind sie nach wie vor ein beliebtes und ergiebiges Thema, aus dem die Gegner der Freiheit ihre am bestechendsten wirkenden Argumente beziehen. […]

Unter einer Parteiung verstehe ich eine Anzahl von Bürgern, sei es die Mehrheit, sei es eine Minderheit, die von gemeinsamen Leidenschaften oder Interessen getrieben und geeint sind, welche im Gegensatz zu den Rechten anderer Bürger oder den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft stehen.

Es gibt zwei Methoden, das Übel der Parteiung zu kurieren: erstens: durch Beseitigung ihrer Ursachen, zweitens: durch Kontrolle ihrer Wirkungen.

Zur Beseitigung der Ursachen von Parteiungen gibt es wieder zwei Methoden: erstens: die Freiheit aufzuheben, der sie ihre Existenz verdanken, zweitens: jedem Bürger dieselbe Meinung, die­selben Leidenschaften und dieselben Interessen vorzuschreiben. […]

Der Einsatz für religiöse, politische und andere Überzeugungen in Wort und Tat, die Bindung an verschiedene politische Führer, die voller Ehrgeiz um Vorherrschaft und Macht ringen, oder an andere Persönlichkeiten, deren Schicksal die menschlichen Leidenschaften erregt haben – all dies hat die Menschheit immer wieder in Parteien gespalten, sie mit Feindseligkeit gegeneinander erfüllt und sie dazu gebracht, einander eher zu peinigen und zu unterdrücken als um des gemeinsamen Wohls willen zusammenzuarbeiten. […]

Die am weitesten verbreitete und dauerhafteste Quelle von Parteiungen ist jedoch immer die ungleiche Verteilung des Eigentums gewesen. Besitzende und Besitzlose haben immer verschiedene Interessengruppen innerhalb der Gesellschaft gebildet. […]

Diese vielfältigen und einander widersprechenden Interessen zu regulieren, ist die wesentliche Aufgabe der modernen Gesetzgebung. Der Umgang mit Parteien und Parteiungen gehört also zu den normalen Erfordernissen der Regierungstätigkeit. […]

Eine Republik [...], also eine Regierungsform mit Repräsentativsystem, […] verspricht, das gesuchte Heilmittel zu bieten. Wenn wir untersucht haben, worin sich die Republik von der reinen Demokratie unterscheidet, werden wir sowohl das Wesen des Heilmittels erkennen als auch die Wirksamkeit, die ihm aus der Union erwachsen muß.

Die beiden großen Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Republik sind erstens: die Übertragung der Regierungsverantwortung in der Republik auf eine kleine Anzahl von Bürgern, die von den übrigen gewählt werden, zweitens: die größere Anzahl von Bürgern und das größere Gebiet, über die die republikanische Herrschaft ausgedehnt werden kann. […]

Es ist hauptsächlich dieser [zweite] Umstand, der das Entstehen von Parteiungen in der Republik weniger fürchten läßt als in der reinen Demokratie. Je kleiner eine Gemeinschaft ist, um so geringer wird wahrscheinlich die Zahl der Parteien und Interessengruppen sein, aus denen sie sich zusammensetzt. Je geringer die Zahl der Parteien und Interessengruppen, um so eher wird eine Partei eine Mehrheit erringen. Und je kleiner die Zahl der Individuen, die eine Mehrheit bilden, und je kleiner der Bereich, innerhalb dessen sie operieren, um so leichter werden sie zu einer Einigung gelangen und ihre Unterdrückungsabsichten ausführen können. Erweitert man den Bereich, so umschließt er eine größere Vielfalt an Parteien und Interessengruppen. Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß eine Mehrheit ein gemeinsames Motiv hat, die Rechte anderer Bürger zu verletzen. [...]

A. Hamilton, J. Madison, J. Jay, Die Federalist Paper, vollst. Ausgabe, herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, 2. Aufl., C. H. Beck Verlag, München 2007, S. 93 ff. und S. 97 ff.

Wendepunkt für Europa – Französische Revolution


Die Französische Revolution, die am 14. Juli 1789 mit dem Sturm auf ein Gefängnis, die Bastille, begann, stellt für das kontinentale Europa einen entscheidenden Wendepunkt dar. Mit der Souveränitätserklärung des Bürgertums und der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, die sich später in der Französischen Verfassung wiederfindet, konnte die absolutistische Herrschaft des Ancien Régime gestürzt und die Befreiung aus der feudalistischen Gesellschaftsordnung erreicht werden.

Die bürgerliche und individuelle Rechtsgleichheit bildete den Grundstein für eine demokratische und freiheitliche Regierungsform auf dem europäischen Kontinent. Nun schien Frankreich wie die nordamerikanischen Einzelstaaten den Weg der Verfassungsdemokratie zu gehen, denn das gewaltenteilige, repräsentative Demokratiemodell war zunächst Grundlage der postrevolutionären Ordnung.

So hielt die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Artikel 16 fest, dass zu einer Verfassung die Garantie der individuellen und bürgerlichen Rechte sowie die Trennung der Gewalten gehörten. Und der Revolutionstheoretiker Abbé de Sieyès (1748 – 1836) zählte ebenfalls Menschen- und Bürgerrechte sowie Repräsentation und Gewaltenteilung zu den wesentlichen Bestandteilen einer gesetzmäßigen Regierung.

Sieyès, Geistlicher und Politiker, gab dem auftretenden Bürgertum eine Stimme, indem er dessen Forderung nach politischer Gleichberechtigung Ausdruck verlieh. In seiner Schrift "Was ist der Dritte Stand?" begründete er die Gleichsetzung des Bürgertums, des nach Klerus und Adel Dritten Standes, mit der gesamten französischen Nation und reklamierte so für ihn die Souveränität. Alles schien auf eine gemäßigte Demokratie zuzulaufen, an deren Spitze weiterhin ein Monarch stand.

Doch die Revolution radikalisierte sich und erfasste die breite Masse des Volkes. In ihrer zweiten Phase beseitigte der Nationalkonvent unter dem maßgeblichen Einfluss einer seiner Gruppierungen, der Jakobiner, 1793 die Monarchie. Statt ihrer errichtete er eine radikale Demokratie ohne föderale Gliederung, aber mit einer starken demokratischen Zentralgewalt. Von Repräsentation, Gewaltenteilung und Beschränkung durch Grund- und Menschenrechte war nicht mehr die Rede. Damit löste der Nationalkonvent seine Demokratievorstellung aus dem republikanisch-kleinräumigen Kontext, der Rousseau so wichtig gewesen war.

Gleichwohl beriefen sich die Jakobiner unter ihrem Führer Maximilien Robespierre (1758 – 1794) auf Rousseau, indem sie seine Ansicht aufgriffen, dass sich das demokratische Gemeinwohl nicht mit partikularen Willen und pluralen Interessen vertrüge. Deshalb wollten sie eine homogene Gemeinschaft der Bürger schaffen, auch wenn sie sich dabei repressiver Mittel bedienen mussten. Robespierre definierte einen Katalog demokratischer Tugenden als neue "Staatsbürgerreligion" – bezeichnenderweise auch ein Begriff von Rousseau – und rechtfertigte damit den Terror der Jakobiner, dem in den Jahren 1793 und 1794 tausende politisch Andersdenkende zum Opfer fielen.

Fast schien es, als sollte damit bewiesen werden, dass die von Rousseau formulierten Voraussetzungen einer radikalen und identitären Demokratie doch herstellbar seien, was die Federalists vehement bestritten hatten. Aus einer gemäßigten Demokratie wurde so aber eine Diktatur, der sich nach einer vorübergehenden Direktoriumsregierung ab 1799 die Herrschaft Napoleon Bonapartes anschließen sollte.

QuellentextFranzösische Verfassung vom 3. September 1791

  1. [...] Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur auf den gemeinsamen Nutzen gegründet sein.

  2. Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, der Widerstand gegen Unterdrückung.

  3. Der Ursprung aller Souveränität liegt seinem Wesen nach beim Volke. Keine Körperschaft, kein einzelner kann eine Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich hiervon ausgeht.

  4. Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem andern nicht schadet. Also hat die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen keine Grenzen als jene, die den übrigen Gliedern der Gesellschaft den Genuß dieser nämlichen Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden.

  5. Das Gesetz hat nur das Recht, solche Handlungen zu verbieten, die der Gesellschaft schädlich sind. Alles, was durch das Gesetz nicht verboten ist, kann nicht verhindert werden, und niemand kann genötigt werden, zu tun, was das Gesetz nicht verordnet.

  6. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Staatsbürger sind befugt, zur Feststellung desselben persönlich oder durch ihre Repräsentanten mitzuwirken. Es soll für alle das gleiche sein, es mag beschützen oder bestrafen. Da alle Bürger vor seinen Augen gleich sind, so können sie gleichmäßig zu allen Würden, Stellen und öffentlichen Ämtern zugelassen werden auf Grund ihrer Fähigkeit und ohne anderen Unterschied, als den ihrer Tugenden und ihrer Talente.

  7. Kein Mensch kann angeklagt, in Haft genommen oder gefangengehalten werden, als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und in den Formen, welche es vorgeschrieben hat. Diejenigen, welche willkürliche Befehle veranlassen, ausfertigen, vollziehen oder vollziehen lassen, sollen bestraft werden; jeder Bürger hingegen, vorgeladen oder festgenommen kraft des Gesetzes, soll sogleich gehorchen; er macht sich durch Widerstand strafbar.

  8. Das Gesetz soll nur solche Strafen festsetzen, welche unbedingt und offenbar notwendig sind, und niemand kann bestraft werden, als kraft eines vor Begehung des Verbrechens eingesetzten, verkündeten und rechtlich angewandten Gesetzes.

  9. Da jeder Mensch so lange für unschuldig erachtet wird, bis er für schuldig erklärt ist, so soll, wenn seine Verhaftung für unumgänglich gehalten wird, alle Härte, die nicht notwendig wäre, um sich seiner Person zu versichern, durch das Gesetz streng unterbunden werden.

  10. Niemand soll wegen seiner Ansichten, auch nicht wegen der religiösen beunruhigt werden, sofern ihre Äußerung die durch das Gesetz errichtete öffentliche Ordnung nicht stört. [...]

Fritz Hartung / Gerhard Commichau (Hg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 6. Aufl., Muster-Schmidt Verlag, Göttingen 1998, S. 75 ff.


Auswirkungen auf Deutschland

Es war der in Frankreich wütende Tugendterror der Jakobiner, der in Deutschland zu einer großen Desillusionierung über die Möglichkeiten einer demokratischen und zentralstaatlichen Republik führte. Bei aller anfänglichen Sympathie für die Französische Revolution in vielen, vor allem südwestdeutschen und linksrheinischen Gebieten plädierten Politiker und Intellektuelle in Deutschland, so wie die Federalists, so wie Sieyès, doch überwiegend für eine Republik der repräsentativen Demokratie, in der sich nach ihrer Annahme Freiheitsliebe und Selbstbestimmung der Bürger besser miteinander vereinbaren ließen.

Reform, nicht Revolution hieß die Devise. In Anlehnung an historische Vorbilder wurde die Republik als eine moderate Form der Herrschaft, vor allem als eine gesetzmäßige Art der Führung der Regierungsgeschäfte verstanden. Damit war eine Antithese zum radikalen demokratischen Republikanismus der Jakobiner formuliert. Wurde dieser vom Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724 – 1804) als ein "Despotism" bezeichnet, so war die "wahrhaft republikanische" Regierung für ihn nur auf gewaltenteilig-repräsentativer Grundlage möglich.

Die Republik war für Kant eine "Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen" mit dem Zweck, die Freiheit zu sichern. Obwohl Kant und Rousseau in diesem Punkt übereinstimmten, unterschied sich Kant von Rousseau doch darin, dass er weder das Volk noch eine repräsentative Versammlung mit der Gesetzgebung beauftragte. Der Gesetzgeber, so hielt Kant fest, musste seine Gesetze nur so geben, "als ob sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können". Das "als ob" ermöglichte Kant, das Geschäft der Gesetzgebung auch in die Hände eines aufgeklärten Monarchen zu legen, Kant dachte hierbei an den preußischen König Friedrich II., den Großen.

Insofern war der Philosoph kein Theoretiker der Volkssouveränität. Er misstraute dem Volk als politischem Akteur, wenngleich er dem "vereinigten Willen des Volkes" eine durchaus regulative Bedeutung zuerkannte. Kants Republikanismus war also nicht spezifisch demokratisch, so wie die Demokratie in Deutschland bis zur Revolution von 1848/49 auch generell nicht auf der Tagesordnung stand. Der "deutsche Weg" wollte vielmehr über Reformen und Kompromisse, die zwischen Monarch und aufgeklärtem Bürgertum zu vereinbaren waren, ein freiheitliches Regierungssystem etablieren, das, durch eine Verfassung gesichert, die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns garantieren sollte.

QuellentextDespotismus contra Republikanismus

Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant setzte dem Obrigkeitsstaat Preußen das Ideal der Aufklärung entgegen.

[...] Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird. –

Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie, im eigentlichen Verstande des Wortes, notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.

Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (...) sein kann [...]. Man kann daher sagen: je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism, und sie kann hoffen, durch allmähliche Reformen sich endlich dazu zu erheben.

Aus diesem Grunde ist es in der Aristokratie schon schwerer als in der Monarchie, in der Demokratie aber unmöglich, anders, als durch gewaltsame Revolution zu dieser einzigen vollkommen rechtlichen Verfassung zu gelangen. Es ist aber an der Regierungsart dem Volk ohne alle Vergleiche mehr gelegen, als an der Staatsform (wiewohl auch auf dieser ihre mehrere oder mindere Angemessenheit zu jenem Zwecke sehr viel ankommt). Zu jener aber, wenn sie dem Rechtsbegriffe gemäß sein soll, gehört das repräsentative System, in welchem allein eine republikanische Regierungsart möglich, ohne welches sie (die Verfassung mag sein welche sie wolle) despotisch und gewalttätig ist. (...)

Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bänden. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Band 1, hg. von Wilhelm Weischedel, 9. Aufl., Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991, S. 204 ff. Alle Rechte bei und vor­behalten durch Suhrkamp Verlag Berlin

Prof. Dr. Hans Vorländer, geb. 1954, hat seit 1993 den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden inne. Er ist dortselbst Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung.
Seine Forschungsschwerpunkte sind: Politisches Denken und Vergleichende Politikforschung, Politische Theorie und Ideengeschichte, Konstitutionalismus und Verfassung, Demokratie, Liberalismus und Populismus.