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1000 Jahre wechselvoller Geschichte | Polen | bpb.de

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1000 Jahre wechselvoller Geschichte

Dieter Bingen

/ 32 Minuten zu lesen

Lech Wałęsa bei einem Konzert in Danzig am 4. Juni 2009. Das Konzert war Teil der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der historischen Wahlen in Polen im Juni 1989. (© AP)

Von der Staatswerdung bis zum 1. Weltkrieg

Das zehnte Jahrhundert umfasst für Polen wie für andere europäische Nationen die Jahrzehnte erster Staatswerdung. Im Jahr 966 nahm Herzog Mieszko (um 960–992) aus dem Herrschergeschlecht der Piasten das lateinische Christentum an und machte Gnesen (Gniezno) in Großpolen (lat. Polonia Maior, poln. Wielkopolska) zur ersten Hauptstadt. Das Jahr 1000 markierte mit der Wallfahrt des römisch-deutschen Kaisers Otto III. zum Grab des heiligen Adalbert den Beginn deutsch-polnischer Beziehungen. Otto stimmte der Errichtung eines direkt dem Papst unterstehenden Erzbistums mit drei Bistümern (Krakau, Breslau, Kolberg) zu und erhob den Gastgeber Herzog Boleslaw den Tapferen (Chrobry) zum "Bruder und Mitarbeiter des Reiches".

Aufstieg zur Großmacht

Boleslaw I. Chrobry erwarb 1025 als erster polnischer Herrscher mit päpstlicher Billigung die Königswürde über ein Königtum, dessen wichtigste Nachbarn im Westen das römisch-deutsche Reich, im Norden Dänemark, im Süden Böhmen und im Osten die Kiever Rus waren. In den folgenden Jahrzehnten schwächten Erbfolgestreitigkeiten und Teilungen das gesamtstaatliche Verantwortungsgefühl, was auch die Abwehr des zentralasiatischen Reitervolkes der Mongolen erschwerte, das innerhalb weniger Jahrzehnte das größte Landreich der Geschichte errichtet hatte. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bedrohten die Mongolen nach der Niederringung des Großfürstentums Kiev die mitteleuropäischen Reiche, darunter Polen. Die Niederlage eines polnisch-deutschen Heeres unter dem Piastenherzog Heinrich II. bei Liegnitz im April 1241 ging in polnische und deutsche Geschichtsbücher ein. Das piastisch regierte Schlesien schied 1339/53 aus dem polnischen Staatsverband aus und wurde als Teil Böhmens mittelbar Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 1320 erfolgte die dauerhafte Erhebung Polens zum Königreich.

Verheerende Einfälle der seit altersher an der nördlichen Grenze Polens (ungefähr im Raum des späteren Ostpreußen) siedelnden heidnischen Pruzzen veranlassten Konrad I. von Masowien (Mazowiecki, 1194–1247) zu einem Hilferuf an den 1198 im Heiligen Land gegründeten Deutschen Ritterorden, dem er 1230 das Kulmer Land versprach. Der Orden entwickelte sich schnell zu einer völlig eigenständigen Militärmacht und zu einer Gefahr für die piastischen Fürsten in den nördlichen Provinzen Polens. Er konnte erst in der Schlacht bei Grunwald (Tannenberg) im Juli 1410 durch ein vereintes polnisch-litauisches Heer bezwungen werden.

QuellentextDie lange Geschichte der Schlacht von Grunwald

[Am] 15. Juli 1410 stehen [zwei] Armeen in zwei fast drei Kilometer langen Linien etwa 200 Meter voneinander entfernt. Sie sind bereit zu einer der größten Schlachten des späten Mittelalters, die für fast vier Jahrhunderte das Machtgefüge in Ostmitteleuropa vorentscheiden sollte: zur Schlacht von Grunwald (deutsch: Grünfelde), die in Deutschland seit preußischer Zeit die Schlacht bei Tannenberg (polnisch: Stebark) heißt, beides Orte in der Nähe des Geschehens südwestlich von Allenstein in Masuren. [...]
Die große Schlacht hatte eine fast 200-jährige Vorgeschichte. Sie begann, wie es der englische Historiker Robert Bartlett nannte, mit der "Geburt des christlichen Europa aus dem Geist der Gewalt": mit den Kreuzzügen gegen die Muslime am Mittelmeer und die Heiden an der Ostsee.
Die Kreuzfahrerstaaten im Nahen Osten taumelten ihrem Untergang entgegen, als der polnische Herzog Konrad von Masowien 1226 die bereits aus Palästina nach Ungarn vertriebenen Deutschordensbrüder an die Weichsel holte. [...] Ihr Hochmeister Hermann von Salza war ein Freund des Stauferkaisers Friedrich II. und spielte den polnischen Provinzler linkerhand aus, indem er sich vom Kaiser und vom Papst die Souveränität über die eroberten Gebiete zusichern ließ. So entstand innerhalb weniger Jahrzehnte östlich der unteren Weichsel ein effizienter Ordensstaat, der – gestützt auf moderne Wehrkloster-Residenzen wie die machtvolle Marienburg bei Danzig – den in Palästina geschlagenen westeuropäischen Rittern Ersatzkreuzzüge und Aufstiegschancen bot. Zunächst ging es gegen die heidnischen Pruzzen und die teils heidnischen, teils orthodoxen Litauer. Doch dann auch gegen die eigenen Glaubensbrüder: das katholische Polen. [...]
Am 24. Juni erklärten Polen und Litauer dem Hochmeister den Krieg. [...…] Am 15. Juli war bei Grunwald und Tannenberg die Stunde der Entscheidung gekommen. [...…] 1525 schließlich legte der letzte Hochmeister, Albrecht von Hohenzollern (auch Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Anm. d. Red), in Krakau den Lehnseid auf den polnischen König ab. Zugleich schloss sich Albrecht dem Protestantismus an und wandelte den verbliebenen Ordensstaat in das Herzogtum Preußen um. Dieses wurde, vereint mit Brandenburg, zum Nukleus jenes Staates, der 250 Jahre später im Zusammenspiel mit Russland und Habsburg Polen-Litauen den Garaus machen sollte. [...]
Für die preußisch-deutschen Nationalisten blieb die "Schmach von Tannenberg" […...] ein Stachel im Fleisch, der mit dem Mythos von der Marienburg als deutschem Vorposten gegen die Barbarei kompensiert werden sollte. Später stilisierte man den Sieg über die russischen Armeen in Ostpreußen im September 1914 zur zweiten Tannenberg-Schlacht, zur Revanche für Grunwald.
Auch die Nazis wollten die Erinnerung tilgen. Sie zerstörten nach der Besetzung Polens 1939 das Krakauer Denkmal Jagielos und überführten die Kopien der 1410 eroberten Standarten feierlich in die Marienburg; die Originale waren bereits 1797 von den Habsburgern entwendet worden und sind seitdem verschollen – wie heute auch die Kopien.
Just in jenen Tagen der deutschen Schreckensherrschaft diente der Grunwald-Mythos den Polen zur "Ertüchtigung der Herzen". [...]
Auch die Kommunisten zitierten gern die Grunwald-Symbolik, weil man daraus irgendwie auch eine "polnisch-sowjetische Waffenbrüderschaft" ableiten konnte. [...]
Diese exklusiven Debatten interessieren die Neuritter wenig, die jedes Jahr in den Auen von Grunwald die Schlacht nachstellen. [...…] Ansonsten aber ist es still geworden über dem Schlachtfeld.

Adam Krzeminski, "Die mythische Schlacht", in: Die Zeit Nr. 27 vom 1. Juli 2010

Diese Auseinandersetzungen wurden in Polen lange zum Sinnbild eines dauerhaften deutsch-polnischen Gegensatzes stilisiert, während eine parallel zum Aufstieg des Deutschen Ritterordens stattfindende positive deutsch-polnische Begegnung im allgemeinen Bewusstsein zurückgedrängt wurde: Bereits seit dem 12. Jahrhundert vollzog sich der sogenannte Landesausbau, die "deutsche Ostsiedlung", auf Einladung der polnischen Herren, die das Ziel verfolgten, die agrarische Produktion in bisher siedlungsarmen Landschaften zu intensivieren und das Städtenetz auszubauen. Die angeworbenen Siedler wurden mit rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Privilegien ausgestattet, die ihnen breitere Handlungsspielräume eröffneten, als sie in den deutschen Herkunftsgebieten und im herkömmlichen polnischen Recht gegeben waren. Diese deutsche Siedlung war keine aggressive Bewegung, sondern eine ökonomische, rechtliche und kulturelle Leistung, von der Deutsche, Polen und andere im Königreich siedelnde Ethnien profitierten und die bis ins 14. Jahrhundert andauerte.

Polnisch-Litauische Personalunion

Unter Kazimierz III. dem Großen (Wielki, Reg. 1333–70) erreichten der Landesausbau und der Verwaltungsaufbau sowie der geistig-kulturelle Aufschwung (Gründung der Universität Krakau 1364) einen Höhepunkt. Da sein Sohn Ludwik I. der Große (Wielki, 1326–1382, ab 1370 König von Polen) ohne männlichen Erben geblieben war, musste die Zustimmung des polnischen Adels zur Nachfolge der Töchter mit weitreichenden Konzessionen erkauft werden, die diesem eine fast völlige Steuerfreiheit, den politischen Alleinvertretungsanspruch und die Mitwirkung an der Königswahl garantierten.

Die Eheschließung Jadwigas, der Tochter Ludwiks I, mit dem bis dahin heidnischen Großfürsten von Litauen, Jagielo (Reg. 1386–1434), begründete eine – mehrfach unterbrochene – polnisch-litauische Personalunion, die erst 1569 in Lublin in eine Realunion umgewandelt wurde. Die Taufe Jagielos und der heidnischen Mehrheit des litauischen Volkes schloss die Christianisierung Europas ab.

Erfolge im Konflikt mit dem Deutschen Orden führten 1466 zu Gebietsgewinnen: das sogenannte königliche (= polnische) Preußen, das heißt Pommerellen mit Danzig, das Kulmer und Michelauer Land, Elbing und die Marienburg, fiel den Jagiellonen zu. Das östliche (seit 1525 "herzogliche") Preußen mit Königsberg verblieb zunächst Deutschordensstaat. 1525 leistete der für die Reformation gewonnene letzte Ordenshochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach dem polnischen König den Lehenseid und erhielt als weltlicher Herzog das bisherige Deutschordensgebiet, das nunmehrige Herzogtum Preußen, zum Lehen; 1618 fiel es an Brandenburg und musste 1657 im Vertrag von Wehlau von Polen ganz aufgegeben werden. Für die nächsten Jahrhunderte wurde Brandenburg-Preußen dem Königreich Polen zu einer schicksalhaften Herausforderung. Im Osten und Südosten fanden sich die Jagiellonen der zunehmend ernster werdenden Bedrohung durch das aufstrebende Großfürstentum Moskau und durch die Osmanen ausgesetzt.

Der zu einer Einheit zusammenwachsende polnisch-litauische Adel nutzte die häufigen außenpolitischen Verwicklungen dazu, dem jeweiligen Herrscher weitergehende Rechte abzuringen. Nach einer Habeas-Corpus-Akte (Schutz der persönlichen Freiheit, 1430/33) wurde dem regionalen Kleinadel 1454 eine Mitwirkung an der Landesregierung zugestanden, die 1493 zur Einrichtung eines Reichstages (Sejm) mit zwei Kammern führte, dem aus höchsten königlichen Beamten bestehenden Senat und der Landbotenstube, besetzt mit adligen Vertretern der Landtage der Provinzen (Woiwodschaften).

Die bereits 1454 vom Adel durchgesetzte rechtliche Benachteiligung von Stadtbürgern und Bauern schritt weiter fort. Der Handel der Städte wurde durch Reichstagsbeschlüsse stark eingeschränkt. So war im Vergleich zu den deutschen Territorien die geringe ökonomische und politische Bedeutung der Städte in Polen auffallend, deren Oberschicht wiederum den Anschluss an den Adel suchte. Um genügend Arbeitskräfte zu haben, banden die Grundherren die Bauern immer stärker an die Scholle. Seit 1496 war es den Bauern polnischen Rechts verboten, sich bei Streitigkeiten mit ihren Herren an ein königliches Gericht zu wenden. Das 1538 verschärfte Monopol des adligen Grundbesitzes und die privilegierte soziale und politische Stellung des Kleinadels ebneten den Weg zum Niedergang der Städte sowie zur weiteren Entrechtung und lang andauernden Verelendung der Bauern. Dagegen erlebte Polen insbesondere auf literarisch-künstlerischem Gebiet unter den letzten Jagiellonen im 16. Jahrhundert sein "Goldenes Zeitalter". Die städtische Bevölkerung wurde früh von der lutherisch, Teile des Adels von der calvinistisch geprägten Reformation erfasst. Trotz der katholischen Gegenreformation herrschte seit dem Konfessionsfrieden von 1573 (Warschauer Konföderation) für zwei Generationen eine beispielhafte religiöse Toleranz. Aber bereits mit der Berufung des Jesuitenordens nach Polen (1564) und dem Aufbau seines Erziehungssystems kündigte sich eine schleichende Rekatholisierung an; unter Zygmunt III. Waza (Reg.1587–1632) betrieben die Bischöfe offen die Rücknahme der Warschauer Konföderation von 1573.

Niedergang und staatlicher Zerfall

Da die Jagellionen keinen männlichen Thronfolger aufbieten konnten, wurde 1572 eine Wahlmonarchie eingerichtet. Der gesamte Adel war zur Wahl zugelassen. Dies bewirkte eine weitere Schwächung der königlichen Macht, festigte den Einfluss der Magnaten (Adlige mit teilweise riesigem Großgrundbesitz, hohen Ämtern und eigenen Truppen) und beschleunigte die Ausprägung einer extrem adelsrepublikanischen Staatsform. Das seit 1652 respektierte Recht jedes Landboten (Abgeordneten des Adels), mit seinem Einspruch (Liberum veto) den Reichstag beschlussunfähig zu machen, erleichterte den an einer Schwächung Polens interessierten Nachbarmächten die Einflussnahme.

Die Auseinandersetzungen mit den ukrainischen Kosaken (1654 Anschluss des Kosakenstaates an Moskau) und mit Russland im Osten, die nordischen Kriege gegen Schweden (1655–1660, 1700–1721) und die häufigen Kämpfe mit dem Osmanischen Reich im Süden, aus denen Polen geschwächt hervorging, ließen das Land immer mehr zum Spielball der Politik der benachbarten Großmächte werden. Innere Auseinandersetzungen um Staatsreformen, die die Macht des Adels zurückdrängen sollten, boten Russland und Preußen Gelegenheit zur Einmischung. Bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgte Preußen das Ziel territorialer Erwerbungen auf Kosten Polens. Unter geeigneten Umständen sollte Russland für Teilungspläne gewonnen werden. Als Russland 1768 in einen Krieg gegen das Osmanische Reich verwickelt wurde und sich gleichzeitig in Polen bewaffneter Widerstand gegen Russlands Einmischung in innerpolnische Verfassungsfragen erhob, war dieser Moment eingetreten: Die russische Zarin Katharina II. ließ sich von der preußischen Diplomatie dazu bewegen, 1771 eine Teilungsvereinbarung mit Preußen zu treffen und 1772 Österreich in diese einzubeziehen. Das innenpolitisch zerrissene und militärisch wehrlose Polen verlor 1772 über ein Viertel seines Staatsgebietes und ein Drittel seiner Bevölkerung an die drei Teilungsmächte.

Die andauernde Bedrohung von außen und der Schock der Teilung setzten Polen unter noch größeren Reformdruck. Ein "Vierjähriger Sejm" (1788–92) verabschiedete am 3. Mai 1791 die erste geschriebene Verfassung Europas. Sie sah eine konstitutionelle Monarchie mit einer Erbdynastie, die Teilung der Gewalten in Legislative, Exekutive, Judikative, die Abschaffung des Liberum veto, einen nach Mehrheitsprinzip entscheidenden Reichstag sowie eine aus Kronrat und Ministern gebildete Regierung vor.

Katharina II. von Russland (Reg. 1762–1796) unterstützte die Reaktion des Adels gegen die Mai-Verfassung, der seine Privilegien beschnitten sah, und intervenierte mit einer 100.000 Mann starken Armee. Berlin verhandelte mit dem Petersburger Hof über eigene Gebietsansprüche. Ein preußisch-russischer Teilungsvertrag besiegelte die zweite Teilung Polens 1793 (Verlust von 286.000 Quadratkilometern mit 3,5 Millionen Einwohnern). Ein von Tadeusz Kosciuszko (1746–1817) geführter allgemeiner Volksaufstand gegen die Teilung brach im Oktober 1794 zusammen und wurde von den drei Nachbarn zum Anlass genommen, den kaum noch lebensfähigen polnischen Rumpfstaat endgültig zu zerschlagen. Das restliche Polen mit 240.000 Quadratkilometern und 3,5 Millionen Einwohnern wurde in der dritten Teilung 1795 Russland, Preußen und Österreich zugeschlagen und verschwand von der politischen Landkarte Europas.

Für Polen begann der Aufbruch Europas in das Zeitalter der Nationalstaatsbildung mit der schmerzhaften Erfahrung des Verlustes staatlicher Selbstständigkeit. "Dieses Paradox kann gar nicht deutlich genug hervorgehoben werden, liefert es doch den Schlüssel für ein besseres Verständnis vieler Eigenheiten der neueren und neuesten Geschichte. Das sogenannte Teilungstrauma sollte in diesem Land weit über das 19. Jahrhundert hinaus zum alles bestimmenden Ausgangspunkt politischen Denkens und Handelns werden. Auch der daraus resultierende Gegensatz von Staat und Gesellschaft in Polen hat hier seinen Ursprung [...]. Das 19. Jahrhundert dauerte in Polen eigentlich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, als ein souveräner polnischer Staat wiedergegründet werden konnte." (Rudolf Jaworski, in: Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt/Main 2000, S. 249)

Der Wiener Kongress 1814/15, auf dem nach dem Ende der Revolutionskriege und dem Sturz Napoleons eine europäische Nachkriegsordnung etabliert werden sollte, hob ein aus den polnischen Zentralgebieten gebildetes "Königreich Polen" (Kongresspolen) aus der Taufe, dem neben einer eigenen Verfassung, die es durch eine Personalunion mit Russland verband, und einer Verwaltung auch eine kleine Armee zugestanden wurde. Der russische Zar war jetzt zugleich König von Polen.

Die nun folgende russische Willkürherrschaft löste in Kongresspolen im Laufe des 19. Jahrhunderts (1830/31, 1863) Aufstände aus. Die Besatzungsmacht reagierte mit rigorosen Strafmaßnahmen und mit einer brutalen Russifizierungspolitik. Der Name "Königreich Polen" verschwand, ab 1874 residierte in Warschau ein russischer Generalgouverneur, alle polnischen Verwaltungsinstanzen wurden aufgelöst. Die preußischen Behörden verschärften nach der Reichsgründung 1871 den Kulturkampf gegen das Polentum in Posen/Westpreußen.

Die Konfrontation der Teilungsmächte im Ersten Weltkrieg und die bolschewistische Revolution in Russland 1917 setzten die „polnische Frage“, die Wiedererrichtung eines polnischen Staatswesens, auf die Tagesordnung der europäischen Politik. Am 5. November 1916 ließen die Kaiser Deutschlands und Österreich-Ungarns in Warschau die Errichtung eines Regentschaftskönigreichs Polen bekanntgeben. Sein Territorium blieb nach dem Willen der Mittelmächte beschränkt auf das russische Teilungsgebiet („Kongresspolen“). Anstelle eines Königs fungierte auf dem nichtsouveränen Gebiet ein dreiköpfiger Regentschaftsrat. Während US-Präsident Woodrow Wilson am 22. Januar 1917 vor dem US-Senat für ein geeinigtes, unabhängiges und selbstständiges Polen plädierte, verweigerte Russland unter Führung der Bolschewiki der neuen Regentschaftsmonarchie die Anerkennung mit der Begründung, der polnische Staat sei nicht selbstständig und seine Regierung nicht rechtmäßig. Die Niederlage des deutschen Kaiserreichs und des Habsburgerreiches ebnete schließlich den Weg zu einem unabhängigen polnischen Staat. Nach der deutschen Kapitulation dankte der Regentschaftsrat zugunsten von Józef Piłsudski (1867-1935) ab. Der Führer der gemäßigten Sozialisten konnte am 11. November 1918, zugleich politisch unterstützt von den Westmächten, als "Vorläufiger Staatschef" die vollziehende Gewalt in dem bis dahin von deutschen Truppen besetzten Warschau übernehmen. Polen hatte nach 123 Jahren Fremdherrschaft wieder die Selbstständigkeit errungen.

Zwischen den Weltkriegen

Polen war nun selbstständig, aber weder Staatsform noch Grenzen waren festgelegt. Im Versailler Vertrag wurden Polen fast ganz Posen und weite Teile Westpreußens (Pommerellen, der sogenannte Korridor) links der Weichsel zugesprochen. In strittigen Gebieten um Allenstein, Marienwerder und in Oberschlesien sollten Plebiszite abgehalten werden, die in den erstgenannten Gebieten 1920 mit weit über 90 Prozent zugunsten Deutschlands ausfielen. Auch der letzte der drei polnischen Aufstände (August 1919, August 1920, Mai 1921) gegen die deutschen Behörden konnte die Aufteilung des von Polen beanspruchten Oberschlesien durch den Völkerbundrat nicht verhindern. Die Aufteilung der seit Jahrhunderten ethnisch, sprachlich und kulturell gemischten Region und reichen Industrielandschaft wurde von Deutschen und Polen gleichermaßen als ungerecht verurteilt. Polen erhielt den Ostteil Oberschlesiens mit Kattowitz und Königshütte, obwohl in ganz Oberschlesien 1921 60 Prozent der Bevölkerung – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen – für den Verbleib bei Deutschland gestimmt hatten. Die Erklärung Danzigs zur "Freien Stadt" unter dem Protektorat des Völkerbundes trug weiter zur Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses bei. Das Teschener Gebiet entlang der Olsa, auf das Warschau wegen der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung und Prag aufgrund der historischen Zugehörigkeit zu Böhmen Anspruch erhob, wurde geteilt.

Pilsudski versuchte angesichts der militärischen Schwäche Sowjetrusslands an der Ostgrenze vollendete Tatsachen zu schaffen und löste mit einer Offensive im April 1920 den Polnisch-Sowjetischen Krieg aus. Er lehnte die sogenannte Curzon-Linie (von dem britischen Außenminister Lord George Curzon im Juli 1920 vorgeschlagene polnisch-sowjetische Demarkationslinie) als polnische Ostgrenze ab. Im Frieden von Riga (März 1921) wurde die polnisch-sowjetische Grenze rund 150 km östlich der Curzon-Linie festgelegt. Das Wilnaer Gebiet kam mit einer Militäraktion (1920) gegen das ebenfalls unabhängig gewordene Litauen unter polnische Hoheit. Polen umfasste nunmehr ein Gebiet von rund 388.000 Quadratkilometern mit über 27 Millionen Einwohnern, darunter jedoch nur 19 Millionen polnischer Volkszugehörigkeit.

Die häufig wechselnden Regierungen Polens standen vor der Aufgabe, drei durch die ehemaligen Teilungsmächte unterschiedlich geprägte Verwaltungs-, Rechts-, Verkehrs- und Bildungssysteme zusammenzuführen, die wirtschaftlichen und sozialen Unausgewogenheiten zu beseitigen und die ethnischen Minderheiten zu integrieren. Die am 17. März 1921 verabschiedete Verfassung sah ein nach dem Verhältniswahlrecht gewähltes Zweikammerparlament, den Sejm (444 Mitglieder) und den Senat (111 Mitglieder), vor. Pilsudski kandidierte nicht für das Präsidentenamt, da dem Staatspräsidenten nach der Verfassung wenige Rechte verblieben.

Die Politik gegenüber den nationalen Minderheiten, die ungefähr ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, blieb ungeachtet der minderheitenfreundlichen Märzverfassung von 1921 restriktiv. Dies verschlechterte das bereits belastete Verhältnis Polens zu seinen westlichen und östlichen Nachbarn weiter. Vor dem Hintergrund wachsender Korruption und Ämterstreitigkeiten unter den häufig wechselnden, instabilen Regierungen, vor allem aber angesichts einer seit 1925 bedrohlicher werdenden Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit und staatlicher Finanznot, führte Pilsudski am 12. Mai 1926 einen Staatsstreich durch. Gestützt auf seine außerordentlich große Autorität bei der Bevölkerung und auf die Loyalität der Streitkräfte, errichtete er unter formaler Beibehaltung der Verfassung eine "moralische Diktatur", die zu einer "Gesundung" (sanacja) des politischen Lebens nach dem vermeintlichen Versagen des parlamentarischen Systems führen sollte. Mit der autoritären Wende reihte sich Polen in einen allgemeinen Trend in Europa ein, der durch die Schwächung oder Abschaffung der demokratischen Systeme gekennzeichnet war, die nach dem Ersten Weltkrieg in den meisten Staaten Europas entstanden waren.

Im Winter 1929/30 wurde Polen gänzlich von der Weltwirtschaftskrise erfasst. Arbeitslosigkeit und Teuerung führten zu einer gesellschaftlichen Radikalisierung. Sozialisten und Bauernparteien schlossen sich zur oppositionellen Centrolew (Zentrumslinken) zusammen. Im Herbst 1930 wurde die Opposition unter Rechtsbrüchen zerschlagen; ihre Führer sahen sich zur Emigration gezwungen. Im April 1935 wurde eine auf Pilsudski zugeschnittene, autoritäre Verfassung verabschiedet. Doch mit seinem Tod am 12. Mai 1935 verfiel das bisher von Pilsudskis persönlichem Prestige geprägte System.

Polen war infolge der umstrittenen Grenzziehung mit allen Nachbarn außer Rumänien und Lettland verfeindet. Durch ein militärisches Schutzbündnis mit Frankreich war Polen das wichtigste Glied in dem zwischen der Sowjetunion und Deutschland gelegenen Staatengürtel, der von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Die Kräfte Polens waren jedoch mit der Aufgabe, die beiden Nachbarn zu neutralisieren, überfordert. Die UdSSR und das nationalsozialistische Deutschland nutzten die Nichtangriffsverträge mit Polen (25. Juli 1932 bzw. 26. Januar 1934) nur als Atempause auf dem Weg zur Revision der Versailler Friedensordnung. Mit der ultimativen Nötigung Litauens, die bestehende litauisch-polnische Grenze und damit den Verlust Wilnas anzuerkennen, und der Beteiligung an der Amputation der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen durch die Annexion des Olsa-Gebiets im Oktober 1938 hatte Polen die Beziehungen zu zwei Nachbarn weiter vergiftet. Seine moralische Position als östlicher Eckpfeiler des Westens zwischen den beiden totalitären Diktaturen Deutschland und Sowjetunion war stark geschwächt.

Gleichzeitig drängte der deutsche Diktator Adolf Hitler nach dem "Anschluss" Österreichs und der Zerstückelung der Tschechoslowakei nunmehr auf eine Regelung der Danzig- und Korridorfrage zugunsten Deutschlands. Damit wollte Hitler eine Politik in Gang setzen, die Polen zu einem Vasallenstaat des Dritten Reiches degradieren und zum Ausgangspunkt seiner rassistischen "Lebensraumpolitik" machen sollte. Schockiert über die deutsche Annexion der "Rest-Tschechei" am 15. März 1939 und die am 22. März nach einem deutschen Ultimatum mit Litauen vereinbarte "Rückkehr" des Memellandes in das Deutsche Reich hatte Polen am 23. März als Akt der Verteidigungsbereitschaft eine Teilmobilmachung erklärt. Die Zurückweisung einer sogenannten Globallösung (Danzig deutsch, exterritoriale Eisen- und Autobahn zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet, Beitritt Polens zum Antikominternpakt) und die britische Garantieerklärung für die "nationale Integrität" Polens am 31. März 1939 nahm Hitler zum Anlass, im April den Befehl zur Vorbereitung eines Angriffskrieges zu geben und am 28. April den Nichtangriffspakt aufzukündigen. Ein am 23. August unterzeichneter deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag sah in einem geheimen Zusatzprotokoll die Aufteilung Polens zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion vor. Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 löste Hitler den Zweiten Weltkrieg in Europa aus.

Zweiter Weltkrieg

Nach dem schnellen Vorstoß der deutschen Truppen gegen eine hoffnungslos unterlegene polnische Armee und dem Einfall der Roten Armee in Ostpolen am 17. September kapitulierten die letzten polnischen Verbände gegenüber der Wehrmacht am 5. Oktober 1939. Deutsch-sowjetische Verhandlungen führten am 28. September zu einem Grenz- und Freundschaftsvertrag, der die Demarkationslinie der Invasoren entlang dem Bug festlegte. In den polnischen Ostgebieten, die der Weißrussischen und der Ukrainischen Sowjetrepublik eingegliedert wurden, lebten unter den 13 Millionen Einwohnern – zumeist Weißrussen, Ukrainer und starke jüdische Minderheiten – über fünf Millionen Menschen mit polnischer Muttersprache, gegen die sogleich Terrormaßnahmen ergriffen wurden. Die Deportationen von April bis Juni 1940 erfassten vor allem die staatlichen, religiösen und kulturellen Repräsentanten des Polentums. Von den rund 300.000 Kriegsgefangenen überlebten nur 82.000. Vor allem die Leugnung der Ermordung von tausenden polnischen Offizieren in sowjetischen Lagern (Katyn, Kozielsk, Starobielsk) hat das polnisch-sowjetische Verhältnis über Jahrzehnte belastet.

Der Westen Polens war seit September 1939 ganz in deutscher Hand. Hitler begann hier ohne Rücksicht mit der Umsetzung der nationalsozialistischen "Lebensraumpolitik". Der Westen des von deutschen Truppen besetzten polnischen Staatsgebietes wurde unter der Bezeichnung "Eingegliederte Ostgebiete" unmittelbar mit dem Reich vereinigt, während der östliche Teil als "Generalgouvernement" ein "Nebenland" des Deutschen Reichs wurde. Die Eingegliederten Ostgebiete umfassten 95.000 Quadratkilometer mit 9,9 Millionen Einwohnern (87% Polen, 6,5% Deutsche, 6,4% Juden); das Generalgouvernement zählte vor der Eingliederung des sogenannten Distrikts Galizien mit der Hauptstadt Lemberg am 1. August 1941 94.000 Quadratkilometer mit 12,1 Millionen Einwohnern, darunter 81 Prozent Polen, sechs Prozent Ukrainer und 11,5 Prozent Juden.

"Eingegliederte Ostgebiete"

Die NS-Politik hatte sich zum Ziel gesetzt, die Eingegliederten Ostgebiete innerhalb eines Jahrzehnts zu "germanisieren", also in völlig deutsch besiedeltes Land zu verwandeln. Vollstrecker der "Lebensraumpolitik" war der "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums", Chef der deutschen Polizei und Reichsführer SS, Heinrich Himmler. Erste Todesopfer deutscher Volkstumspolitik waren noch im Herbst 1939 10-20.000 Polen, die der Führungsschicht angehörten, darunter zahlreiche katholische Geistliche. Himmlers Behörde, das Reichssicherheitshauptamt, begann sofort damit, Polen in das Generalgouvernement abzuschieben und an ihrer Stelle die 1939/40 aus den baltischen Ländern, dem sowjetischen Ostpolen, dem Generalgouvernement und Rumänien (Bessarabien, Bukowina) umgesiedelten "Volksdeutschen" anzusiedeln.

Die Polen in den Eingegliederten Ostgebieten wurden völlig entrechtet. Alles Grundeigentum wurde ihnen durch die "Polenvermögensverordnung" von September 1940 genommen. Oft mussten enteignete polnische Bauern als Knechte auf ihren ehemaligen Höfen dienen, die neu angesiedelten Deutschen zugesprochen wurden. Die polnische Sprache wurde aus dem öffentlichen und kirchlichen Leben verbannt, der Schulunterricht für Polen stark reduziert, die katholische Kirche unterdrückt. Hunderttausende Polen mussten im Altreich in deutschen Betrieben Zwangsarbeit leisten, aus dem Wartheland allein bis 1943 mehr als 400.000.

Eine "Deutsche Volksliste" teilte nach willkürlichen Kriterien die Deutschen in den Eingegliederten Gebieten in vier Gruppen ein. Gruppe eins umfasste die vor 1939 in der deutschen Minderheit in Polen aktiven Personen. Zur Gruppe zwei gehörten diejenigen, die zwar nicht in der Minderheit aktiv gewesen, aber nach ihrem Selbstverständnis und der Wahrnehmung durch Andere Deutsche waren. Gruppe drei umfasste nach Ansicht der Nationalsozialisten teilweise polonisierte Deutsche (Kaschuben, Masuren, Schlonsaken u. a.) und Gruppe vier schließlich Personen, die zwar deutscher Herkunft, aber vollständig polonisiert waren. Die Angehörigen der Gruppen eins und zwei erhielten die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt, die Gruppe drei nur auf Widerruf und die Gruppe vier erhielt lediglich eine Anwartschaft. Dabei ging es den deutschen Behörden insbesondere um die Rechtfertigung von Rekrutierungen für die Wehrmacht.

"Generalgouvernement"

Das Generalgouvernement sollte als Nebenland des Reiches eine Art deutscher Kolonie sein, in der die Polen ohne politisches und kulturelles Eigenleben für das nationalsozialistische Deutschland zu arbeiten hatten. Himmlers Deutsche Polizei versuchte, durch Terror und willkürliche Massenverhaftungen die Bevölkerung in Furcht zu halten.

QuellentextDie erste Mordaktion

Piasnica (Piasnitz) steht für die erste große Mordaktion der Deutschen im besetzten Europa. Was sich hier in den Wäldern nahe dem kaschubischen Dorf Wielka Piasnica gleich nach dem deutschen Überfall auf Polen abgespielt hat, lässt sich heute nur noch erahnen. Oder an den Bäumen ablesen, in die bei Gewitter oft Blitze einschlagen – angezogen, so heißt es, vom Metall der Gewehrkugeln, die noch in den Stämmen stecken. Zehn Kilometer nördlich von Wejherowo (Neustadt in Westpreußen) wurden zwischen September und Dezember 1939 tausende Menschen ermordet: Kaschuben aus der Region, psychisch Kranke aus deutschen Heilanstalten sowie internierte deutsche Antifaschisten, Polen, Tschechen und staatenlose Juden aus dem Reichsgebiet.
[...] Massaker an jüdischen, aber auch an christlichen Polen, an polnischen Intellektuellen, Adligen, Priestern, Gewerkschaftern waren vom ersten Tag an fester Bestandteil des Feldzugs. Neben den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes mordeten auch reguläre Soldaten der Wehrmacht sowie Polizisten und die Männer vom sogenannten Volksdeutschen Selbstschutz.
Die Todesschwadronen dieses Selbstschutzes brachten in den ersten Monaten der Besatzung zwischen 20.000 und 30.000 polnische Staatsbürger um. [...]
Die Nazis nutzten die Wirren der ersten Kriegstage, um im Wald von Piasnica gleich mehrere große und genau geplante Massaker anlaufen zu lassen: Eines davon gehörte zur "Intelligenzaktion" – die Ermordung der lokalen Führungsschichten in Polen. Auch in Wejherowo wurde aus einheimischen Deutschen eine paramilitärische Selbstschutz-Gruppe zusammengestellt. Diese fanatisierten Volksdeutschen hatten schon vor Kriegsbeginn Listen mit den Namen ihrer polnischen und kaschubischen Nachbarn erstellt und sie Anfang September 1939 der Gestapo und der SS übergeben. Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister, Kaufleute, Bezirksrichter, Künstler – fast die gesamte Intelligenz der Region war erfasst. [...]
Insgesamt – rechnet man die kaschubischen Opfer, die Kranken und die nicht mehr genau zu bestimmende Zahl der Deportierten [...] zusammen – kommt man auf 10.000 bis 13.000 Menschen, die im Wald von Piasnica ermordet wurden. Die exakte Zahl ist heute auch deshalb nur noch schwer festzustellen, da die Nazis versuchten, die Spuren zu verwischen. Ende August 1944, als die Rote Armee näher rückte, zwangen sie 36 KZ-Häftlinge aus Stutthof, die Leichen auszugraben und zu verbrennen. Nach fast sieben Wochen wurden die Gefangenen dann selbst getötet.
Doch der Versuch, alle Hinweise auf das Verbrechen zu tilgen, misslang. Im Herbst 1946 untersuchte ein Komitee den Ort. Es fand die Überreste von 30 Massengräbern; zwei gab es noch, in denen unverbrannte Leichen lagen. Bis heute sind über 500 Opfer identifiziert. [...]
[D]er 76-jährige kaschubische Heimatforscher und Fotograf Edmund Kaminski [...] hat die Massaker von Piasnica akribisch dokumentiert. Besonders erschüttert ihn die Beteiligung von Nachbarn, von Männern des Selbstschutzes: "Wir kennen die Namen dieser Täter aus unserer Gegend, von denen einige nach Deutschland geflohen sind. Aber keinem wurde dort der Prozess gemacht."
[…] Das Gedenken an Piasnica könnte für den Brückenschlag zwischen Deutschen, Polen und Kaschuben einen hohen Stellenwert bekommen. Im neuen Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs, das 2014 fertiggestellt sein soll, werden die Massaker einen wichtigen Platz einnehmen, als explizites Beispiel für einen Genozid. Denn das grausame Geschehen in den Wäldern Kaschubiens illustriert, wie (der polnische Historiker, Anm. d. Red.) Piotr M. Majewski resümiert, "in besonderer Weise die Technik eines Völkermords, der mit den Geisteskranken und den Eliten des Feindes begann und mit dem Mord an den Juden endete".

Thomas Grasberger, "Der Totenwald", in: Die Zeit Nr. 4 vom 20. Januar 2011

Die Produktion des Generalgouvernements wurde ganz in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft gestellt. Etwa eine Million Polen gingen, teils um weiterer wirtschaftlicher Verelendung zu entgehen, teils gezwungen, als "Fremdarbeiter" nach Deutschland.

Nach der Eroberung der bis dahin sowjetisch besetzten ostpolnischen Gebiete im Sommer 1941 wurde auch dort mit der Vertreibung der Polen und einem Ansiedlungsprogramm für Volksdeutsche begonnen, das aber wegen des starken Widerstandes der polnischen Landbevölkerung Ende 1943 aufgegeben werden musste.

Verfolgung und Vernichtung der Juden

Die Juden in den Eingegliederten Ostgebieten und im Generalgouvernement wurden sofort völlig entrechtet und in zahlreichen Ghettos zusammengepfercht. Die jüdische Bevölkerung im Generalgouvernement wuchs fortlaufend – nicht nur durch die aus den Eingegliederten Ostgebieten Deportierten, sondern auch durch die Deportationen aus dem Altreich. Im Warschauer Ghetto vegetierten unter furchtbaren Bedingungen auf engstem Raum zeitweise 400.000 Menschen dahin, bevor sie zur Ermordung in die Vernichtungslager verschickt wurden. Für die christlichen Polen, vor deren Augen sich das Grauen abspielte und die selber der Unberechenbarkeit und dem Terror der NS-Besatzungsmacht ausgesetzt waren, bedurfte es großen Mutes, Juden zu helfen, sie zu verstecken und vor der Ermordung zu retten. Wer half, setzte sich der Gefahr aus, selbst mit dem Tode bestraft zu werden; dazu kam das Risiko der Denunziation durch christliche Nachbarn, dominierten in der christlichen Umgebung doch Ablehnung und Gleichgültigkeit. Wenige nahmen an den Massenmorden teil, "sicherlich blieb die große Mehrheit der Zuschauer passiv und nahm das Geschehen widerwillig, gleichgültig oder staunend zur Kenntnis" (W. Borodziej, Geschichte Polens im 20 Jahrhundert, München 2010, S. 207), viele bereicherten sich jedoch am "arisierten Vermögen".

Die von den Nationalsozialisten geplante vollständige Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas wurde durch das System der Konzentrations- und Vernichtungslager, die vor allem im besetzten Polen eingerichtet wurden, nahezu erreicht. Nachdem die Juden 1941 in Ostpolen bereits zu Hunderttausenden von Einsatzgruppen der SS ermordet worden waren, wurden 1941/42 in den Eingegliederten Ostgebieten (Chemno, Auschwitz-Birkenau ) sowie im Generalgouvernement (Bel?ec, Majdanek, Sobibór, Treblinka) Konzentrations- und Vernichtungslager eingerichtet. Allein in ihnen wurden nach neueren Untersuchungen etwa 4,5 Millionen Juden aus dem deutschen Machtbereich umgebracht.

Widerstand

Gestützt auf eine Exilarmee, die 1940 auf über 90.000 Mann (Landstreitkräfte, Luftwaffe, Marine) anwuchs, bildete sich, zunächst in Paris, dann in London, eine Exilregierung unter Präsident Wladyslaw Raczkiewicz (1885–1947) und Ministerpräsident Wladyslaw Sikorski (1888–1943), der bereits 1922/23 kurzzeitig als Regierungschef amtiert hatte.

Sogar Stalin, der gemeinsam mit Hitler Polen überfallen und geteilt hatte, nahm nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 und dem Wechsel in die westliche Anti-Hitler-Koalition diplomatische Beziehungen zu der polnischen Exilregierung auf, die jedoch am 25. April 1943 wieder abgebrochen wurden, da die polnische Regierung in London eine Erklärung für die kurz zuvor entdeckten Massengräber von Katyn forderte. Die Sowjetunion begann daraufhin mit der massiven Unterstützung kommunistischer Kräfte im polnischen Widerstand. Außerdem weigerte sich die polnische Regierung, den sowjetischen Annexionen und der Westverschiebung Polens in dem von den Alliierten vorgeschlagenen Ausmaß zuzustimmen.

Die brutale deutsche Besatzungspolitik löste eine immer weitere Bevölkerungskreise erfassende Bereitschaft zum Widerstand aus. Dessen bewaffneter Arm, die "Heimatarmee" (Armia Krajowa), wuchs bis Ende 1943 auf 350.000 Mitglieder. Die militärische Bedeutung der kommunistischen "Volksgarde" (Gwardia Ludowa) blieb gering. Im April 1943 schlug die deutsche Besatzungsmacht den verzweifelten Aufstand im Warschauer Ghetto, mit dem jüdische Ghettoinsassen den Abtransport der letzten 60.000 Juden aus Warschau in die Vernichtungslager aufhalten wollten, blutig nieder.

Am 22. Juli 1944 (Nationalfeiertag bis 1989) bildete sich, nachdem die Rote Armee den neuen Grenzfluss Bug überschritten hatte, ein von moskautreuen Kräften gebildetes "Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung" (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN), das drei Tage später nach Lublin ("Lubliner Komitee") umsiedelte und mit dem Aufbau einer kommunistisch orientierten Verwaltung begann. Daraufhin löste die Heimatarmee am 1. August 1944 einen Aufstand in Warschau aus, um die sowjetischen Truppen als legitime polnische Macht empfangen zu können. Der Aufstand wurde bis zum 2. Oktober von der deutschen Besatzungsmacht niedergeschlagen, Warschau in Schutt und Asche gelegt. Damit war der letzte militärische Versuch gescheitert, eine von der Sowjetunion unabhängige Regierung und demokratische Staatsform nach der absehbaren Befreiung von der deutschen Herrschaft in Polen zu etablieren.

Folgenreiche Grenzverschiebungen

Das am 1. Januar 1945 in "Provisorische Regierung" umbenannte Lubliner Komitee übernahm nach der Befreiung Polens die Herrschaft und zugleich die Verwaltung im südlichen Ostpreußen, in Danzig, Pommern, im östlichen Brandenburg und in Schlesien. Die vorgesehene endgültige Abtretung Ostpolens und die Entschädigung durch deutsche Ostgebiete – also eine Westverschiebung Polens – löste Spannungen zwischen der Exilregierung und den West-alliierten aus. Dessen ungeachtet wurde auf der Jalta-Konferenz (Februar 1945) die leicht modifizierte Curzon-Linie als polnische Ostgrenze festgelegt und Polen "ein beträchtlicher Gebietszuwachs im Westen und Norden" in Aussicht gestellt. Die Potsdamer Konferenz (17. Juli – 2. August 1945) unterstellte die deutschen Ostgebiete jenseits der Oder und Lausitzer Neiße sowie das südliche Ostpreußen und Danzig (103.000 Quadratkilometer) polnischer Verwaltung. Dafür musste Polen auf 180.000 Quadratkilometer östlich der Curzon-Linie zugunsten der Sowjetunion verzichten.

Die Folgen der territorialen und politischen Neuordnung waren Flucht, Vertreibung und Umsiedlung von Millionen Deutschen aus den Provinzen östlich von Oder und Lausitzer Neiße und von rund 1,5 Millionen Polen aus den sowjetisch gewordenen polnischen Ostgebieten. Die Alliierten hatten im Potsdamer Abkommen die "ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile" aus den traditionellen Siedlungsgebieten in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa angeordnet, von der auch die wenigen Deutschen betroffen waren, die aktiven Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht geleistet hatten. Nach einer Berechnung von 1950 waren sieben Millionen Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten in der Bundesrepublik und in der DDR registriert. Innerhalb der folgenden 50 Jahre kamen nach Berechnungen des Bundesverwaltungsamtes Köln und des Aussiedlerbeauftragten aus dem Jahr 2000 rund 1,5 Millionen weitere Umsiedler aus Polen nach. Im Zuge der Vertreibung hatten etwa 1,6 Millionen Deutsche ihr Leben verloren. Die genaue Zahl der Vertriebenen lässt sich bis heute nicht ermitteln und wird in der Literatur unterschiedlich angegeben. Auf jeden Fall gehörten Flucht und Vertreibung zu den größten erzwungenen "Bevölkerungsverschiebungen" des 20. Jahrhunderts, die für die Betroffenen ungeheure Opfer und großes Leid bedeuteten. Am Ende des 20. Jahrhunderts sollte eine solche Politik mit dem umstrittenen Begriff "ethnische Säuberung" bezeichnet werden.

Zeit der Volksdemokratie

Der Zweite Weltkrieg hatte Polen circa sechs Millionen Todesopfer – darunter fast 90 Prozent des jüdischen Bevölkerungsanteils – gekostet. Die 1943 als "Polnische Arbeiterpartei" (PPR) neu gegründete kommunistische Partei schaltete nach ihrer Machtübernahme 1944/45 mit tätiger Hilfe der sowjetischen Befreier Schritt für Schritt die demokratischen Kräfte aus, so die 1945 von dem stellvertretenden Ministerpräsidenten in der Provisorischen Regierung, Stanislaw Mikajczyk, gegründete Polnische Bauernpartei (PSL), die gefährlichste Konkurrentin und Sammelbecken der oppositionellen Kräfte, sowie die Sozialistische Partei (PPS), die brutalen Säuberungen unterzogen wurde.

Zum entscheidenden Politiker in der "Provisorischen Regierung" wurde der PPR-Sekretär Wladyslaw Gomulka (1905–1982) als Erster Stellvertretender Ministerpräsident. Der Verpflichtung zur Abhaltung freier ungehinderter Wahlen unter Beteiligung aller demokratischen und "antifaschistischen" Parteien wollten sich Kommunisten und Sozialisten nicht beugen. Die PSL weigerte sich jedoch, in einem "Demokratischen Block" in einer Einheitsliste anzutreten, die ihr nur 25 Prozent der Mandate zugesprochen hätte. Bei den Parlamentswahlen am 16. Januar 1947 stand die Bauernpartei dem "Demokratischen Block" (PPR, PPS, SL / Volkspartei, SD / Demokratische Partei) als einzige Oppositionspartei gegenüber und erhielt nach dem massiv gefälschten Wahlergebnis nur 10,3 Prozent der Stimmen und mit 27 von 444 Sejmsitzen weit weniger als zehn Prozent der Mandate. So wurde bereits in der Übergangsphase zum Aufbau des Sozialismus in der stalinistischen Spielart sichtbar, dass die Erbauer des neuen Polen wussten, dass sie die politische Umgestaltung gegen die überwältigende Mehrheit der polnischen Bevölkerung durchsetzen mussten, was ohne politische Einschüchterung, Terror und Manipulation nicht zu erreichen war. Dabei war eine Mehrheit der Polen – wie beispielsweise auch der Deutschen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg – nach dem Versagen der politischen und gesellschaftlichen Eliten der Zwischenkriegszeit und dem Inferno des Zweiten Weltkriegs einer stärker egalitär und solidarisch ausgerichteten Gesellschaftsordnung durchaus zugetan – wenn diese demokratisch-pluralistisch legitimiert wäre. Die antibolschewistische Grundstimmung wurde genährt durch die Erfahrung mit dem stalinistischen Terror in Ostpolen nach dem September 1939.

Der Sejm wählte den PPR-Politiker Boleslaw Bierut (1892–1956) zum Präsidenten und den PPS-Politiker Józef Cyrankiewicz (1911–1989) zum Ministerpräsidenten. Die "Kleine Verfassung" von 1947 regelte in Anlehnung an die Verfassung von 1921 die Kompetenzen der Staatsorgane formal nach dem Prinzip der Gewaltenteilung, doch wurde durch Stalin ergebene Kommunisten innerhalb und außerhalb der Verfassungsorgane Schritt für Schritt der Übergang zur "Volksdemokratie" eingeleitet. Wie in den anderen von der Roten Armee befreiten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas wurde die politische Opposition durch Verhaftungswellen und Schauprozesse gewaltsam ausgeschaltet. Der PSL-Vorsitzende Mikajczyk entschied sich im Oktober 1947 zur Flucht ins Ausland. Nach der Säuberung der beiden Arbeiterparteien von sogenannten Rechtsabweichlern, die einen gemäßigteren Aufbau des Sozialismus (Skepsis gegenüber rascher Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Erhaltung nationaler Traditionen im Sozialismus u. a.) befürworteten und deren prominentester Exponent Wladyslaw Gomulka war, der wie andere "Heimatkommunisten" im polnischen Untergrund außerhalb der Kontrolle Moskaus gegen die deutsche Besatzung gekämpft hatte, erfolgte im Dezember 1948 die Vereinigung von PPR und PPS unter Bieruts Führung zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR). Die stalintreue Fraktion der Kommunisten hatte damit die nahezu uneingeschränkte Macht im Lande.

Hindernisse sozialistischer Alleinherrschaft

Die stärkste ideologische und gesellschaftliche Herausforderung für den Allmachtsanspruch der PZPR bildete die katholische Kirche, der über 95 Prozent der Bevölkerung angehörten. Ihre Solidarität mit dem Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror, dem annähernd 3.000 Priester – circa 20 Prozent des Klerus – zum Opfer gefallen waren, war der Bevölkerung noch in lebendiger Erinnerung. Deshalb bereitete den Kommunisten die Rechtfertigung des offenen Kampfes gegen die Kirche besondere Schwierigkeiten.

Die PZPR trieb die Umgestaltung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft rasch voran. Investitionen in den Wiederaufbau, Industrialisierung, Urbanisierung, Gesundheit, Bildung und Wissenschaft unter Führung der Partei standen auf der Tagesordnung. Die am 22. Juli 1952 verabschiedete neue Verfassung trug dem totalen Machtanspruch der Partei Rechnung. Der Sejm wurde nicht nur gesetzgebende Körperschaft, sondern auch als "höchstes Organ der Staatsgewalt" bezeichnet, in Wirklichkeit jedoch bestimmte er weder den Gesetzgebungsprozess, noch kontrollierte er die Exekutive. Das Amt des Staatspräsidenten wurde durch einen Staatsrat mit einem Vorsitzenden ersetzt. Die Parlamentswahlen vom 26. Oktober 1952 wurden aufgrund eines Wahlgesetzes durchgeführt, das lediglich eine Abstimmung über die Wahlliste der "Nationalen Front" mit der PZPR, den Massenverbänden und den gleichgeschalteten Blockparteien ZSL (Vereinigte Bauernpartei) und SD (Demokratische Partei) zuließ, die als Nachfolgerinnen von Vorkriegsparteien politischen Pluralismus vorgaukeln sollten.

Bis 1955 sollte der "Umbau zur sozialistischen Wirtschaft" im Rahmen des Sechsjahresplans abgeschlossen werden. Die Vernachlässigung der Konsumgüter- zugunsten der Schwerindustrie führte bereits in den ersten Jahren nach anfänglichen Erfolgen bei der Schaffung von industriellen Arbeitsplätzen zu wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die Kollektivierung der Landwirtschaft sollte wegen des dauerhaften Widerstands der Bauern rasch fehlschlagen.

Die schwierigen wirtschaftlichen Alltagsbedingungen, die kulturelle Repression und der Kirchenkampf des stalinistischen Regimes waren der Dünger für wachsende Unzufriedenheit mit den Verhältnissen. Die Geheimrede von Parteichef Nikita Chruschtschow (1894–1971) auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 mit ihren Enthüllungen über den stalinistischen Terror erschütterte auch die Machtstellung Bieruts, des "polnischen Stalin". Nach seinem überraschenden Tod in Moskau am 12. März 1956 überschlugen sich die Ereignisse in Polen.

Am 22. Juni 1956 brachen in Posen Streiks aus. Eine am 28. Juni mit Waffengewalt niedergeschlagene Massendemonstration für politische Freiheiten, die nach offiziellen Angaben 75 Menschenleben und etwa 800 Verletzte kostete, erhöhte den politischen Druck auf die Partei. Im August wurde der "Rechtsabweichler" Gomulka rehabilitiert, ins Politbüro der PZPR zurückgerufen und am 20. Oktober 1956 erneut zum Parteichef gewählt.

Gomulka kündigte die Abkehr von der starren Planwirtschaft und der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, eine Erweiterung der Arbeiterselbstverwaltung und materielle Anreize für die Werktätigen an. Aus Angst vor wirtschaftlichem und politischem Kontrollverlust wurden die Reformansätze aber bald wieder abgebrochen. Die innenpolitische Situation verschärfte sich wieder, als eine Garde von jüngeren Parteifunktionären, angeführt von Innenminister Mieczyslaw Moczar (1913–1986), begann, mit antiliberaler und antiintellektueller, nationalistischer und antisemitischer Rhetorik den polnischen Realsozialismus national stärker zu verankern und ideologische Rechtsabweichungen zu bekämpfen. Moczar zählte zu den "Partisanen", die Selbstbezeichnung einer Gruppe in der PZPR, deren Mitglieder im Untergrund gegen die deutsche Besatzung gekämpft hatten – Kommunisten, die während der Besatzung im Moskauer Exil waren, verunglimpften sie als "Juden".

Intellektuelle mit jüdischer Herkunft vermuteten sie auch hinter den Reformideen. Die antisemitische Komponente der "Partisanen"-Rhetorik bediente die (nicht nur) in Polen weit verbreitete Vorstellung vom antinationalen Kosmopolitismus der Juden und der Schlüsselbedeutung von Funktionären mit jüdischem Familienhintergrund in der (polnischen) kommunistischen Bewegung. Als sich im Juni 1967 während des israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieges die Warschauer Pakt-Staaten scharf gegen Israel wandten, nutzte Moczar die Gelegenheit, um die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihren Lebensverhältnissen auf die Juden abzulenken. Die Folge war eine "antizionistische", in Wahrheit antisemitische Propagandakampagne. Dazu kamen die Rückwirkungen des "Prager Frühlings" auf das studentische und intellektuelle Milieu in Polen. Eine Studentendemonstration im März 1968 in Warschau wurde von den Sicherheitsorganen niedergeknüppelt. Gomulka reagierte hart auf den Studentenprotest, da er in ihm eine Bedrohung des Machtmonopols der Partei und des Sozialismus sah. Auch wollte er seine persönliche Stellung gegenüber dem potenziellen Rivalen Moczar nicht durch zögerliches Handeln schwächen. Unter den mehr als 700 prominenten Opfern der anschließenden Säuberungen in Politik, Armee, Hochschulwesen und Kultur befanden sich auch der Staatsratsvorsitzende Edward Ochab (1906–1989) und Außenminister Adam Rapacki (1901–1970), die sich gegen die antijüdische Hetze gewandt hatten. Als Folge der antisemitischen, als antizionistisch deklarierten Kampagne der Partei verließen über 20.000 der noch rund 30.000 im Land lebenden Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, darunter viele Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, Polen. Das internationale Ansehen des Landes erreichte aufgrund dieser Schmutzkampagne einen Tiefstand.

Von Gomulka zu Gierek

Der politische Immobilismus und die wirtschaftliche Stagnation in den letzten Jahren der Parteiherrschaft Gomulkas konnten auch nicht durch außenpolitische Erfolge aufgewogen werden. Zwar wurde durch die Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen (7. Dezember 1970) die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze faktisch anerkannt und so ein in der polnischen Bevölkerung vorhandenes Gefühl der Bedrohung durch den westdeutschen "Revanchismus" abgebaut, doch bereits eine Woche danach, am 14. Dezember, kam es zu spontanen Protesten gegen tags zuvor angekündigte Preiserhöhungen. 45 Gruppen von bisher hoch subventionierten Artikeln, vornehmlich Lebensmittel, sollten zwischen 13 und 37 Prozent teurer werden. Dies führte in mehreren polnischen Industriestädten zu Protestaktionen, die zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und Armee- und Milizeinheiten eskalierten. Die "Dezember-Ereignisse" forderten mindestens 45 Menschenleben und 1.165 Verletzte. Am 20. Dezember 1970 wurden Gomulka und seine engsten Gefolgsleute ihrer Partei- und Regierungsämter enthoben. Zum neuen Parteivorsitzenden wurde der mit einem hohen Vertrauensvorschuss der Bevölkerung ausgestattete Kattowitzer Parteisekretär Edward Gierek (1913–2001) gewählt, ein pragmatischer Technokrat, der rasch seine oberschlesische Gefolgschaft im Politbüro, im ZK-Sekretariat und in der Regierung einsetzte. Eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und sozialer Zugeständnisse der Partei entspannte die explosive Lage. Den Konsumbedürfnissen der Bevölkerung sollte Priorität eingeräumt werden. Die Polen wurden mobil, automobil. 1973 begann die Massenfertigung des Fiat 126 in Polen. Zugleich wurden die politischen Zügel angezogen. So wurde die "führende Rolle" der Partei in Staat und Gesellschaft in der neuen sozialistischen Verfassung von 1976 weiter gefestigt – gegen den Protest von Intellektuellen und der katholischen Kirche. Die weltweite Energiekrise nach Oktober 1973 und die folgende Konjunkturabschwächung in den westlichen Industriestaaten wirkten sich direkt auf Polen aus. Wegen des nachlassenden Importbedarfs der westlichen Länder waren die Devisen bringenden Westausfuhren kaum noch zu steigern. Um den stetig wachsenden Einfuhrbedarf an hochtechnisierten Produktionsmitteln zu befriedigen, wurden immer größere, nur durch Kredite abzudeckende Außenhandelsdefizite in Kauf genommen. Die Belieferung mit Grundnahrungsmitteln bereitete zunehmend Schwierigkeiten.

Arbeiterunruhen

Die am 24. Juni 1976 bekannt gegebenen drastischen Preiserhöhungen forderten den Arbeiterprotest heraus, für den der Industriestandort Radom und das Traktorenwerk Ursus bei Warschau zu Zentren wurden. Die Brutalität der Polizei, die Entlassung von Tausenden Arbeitern und die hohen Haftstrafen wegen Rädelsführerschaft und Hooliganismus für 78 Demonstranten führten Ende September 1976 zur Gründung eines "Komitees zur Verteidigung der Arbeiter" (KOR), dessen Mitglieder – unter anderem der Politiker und Publizist Jan Józef Lipski, der Schriftsteller Jerzy Andrzejewski, der Politiker Jacek Kurón und der Historiker Adam Michnik – den betroffenen Familien juristische Hilfestellung leisteten und gegen die Verletzung der Verfassungsnormen protestierten. Das KOR benannte sich 1977 in "Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung" (KSS) um. Es wurde zu der ersten großen Bürgerrechtsbewegung in einem sozialistischen Staat, zum Nukleus der Demokratiebewegung in Polen und Wegbereiter der Solidarnosc-Bewegung. Die katholische Kirche entwickelte sich immer mehr zu einem Kristallisationspunkt alternativen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Denkens. Die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyla (1920–2005) zum Papst im Oktober 1978 und dessen triumphale Polenreise als Johannes Paul II. im Juni 1979 beschleunigten noch die Machterosion der PZPR.

Gleichzeitig verschärften sich die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen. Als die Fleischpreise zum 1. Juli 1980 kräftig angehoben wurden, kam es nach einer durch Lohnerhöhungen kurzfristig besänftigten Streikwelle Mitte August zu einer zweiten, landesweiten Streikbewegung. Sie war eine Reaktion auf die Entlassung der Kranführerin Anna Walentynowicz (gest. am 10. April 2010 beim Flugzeugabsturz der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk) auf der Danziger Lenin-Werft, die dem "Gründungskomitee unabhängiger Gewerkschaften" angehörte. Nach den 17.000 Arbeitern der Lenin-Werft legten auch die Beschäftigten in den anderen Küstenstädten, im oberschlesischen Industrierevier und in den großen Kombinaten des Landes die Arbeit nieder.

Ein Überbetriebliches Streikkomitee unter Führung des Elektrikers und Mitglieds der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung Lech Walesa wurde beauftragt, 21 Forderungen der Regierung gegenüber zu vertreten, die nicht nur Vereinigungsfreiheit, Streikrecht, Pressefreiheit und andere Bürgerrechte umfassten, sondern auch lohn- und sozialpolitische Maßnahmen. Die am 31. August 1980 zwischen dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczyslaw Jagielski und Lech Walesa geschlossene Vereinbarung dokumentierte das Einlenken der Staatsmacht. Erstmals wurden in einem sozialistischen Land unabhängige Gewerkschaften mit Streikrecht und ein Zugang zu den Massenmedien anerkannt.

QuellentextForderungen des "Überbetrieblichen Streikkomitees"

1. Zulassung freier, von der Partei und den Betriebsleitungen unabhängiger Gewerkschaften [...…].

2. Garantie des Streikrechts und der Sicherheit der Streikenden sowie der sie unterstützenden Personen.

3. Einhaltung der von der Verfassung der Volksrepublik Polen garantierten Freiheit des Wortes, des Druckes und der Publikation, d.h. keine Unterdrückung unabhängiger Zeitschriften und Zugang von Vertretern aller Glaubensbekenntnisse zu den Massenmedien.

4. a) Wiedereinstellung aller Personen an ihren früheren Arbeitsplatz, die wegen der Verteidigung der Arbeiterrechte entlassen wurden [...] sowie der Studenten, die wegen ihrer Überzeugungen von der Universität verwiesen wurden.
b) Freilassung aller politischen Häftlinge [...].
c) Einstellung aller Verfolgungen von Andersdenkenden.

5. Veröffentlichung von Informationen über die Gründung und die Forderungen des Überbetrieblichen Streikkomitees in den Massenmedien.

6. Konkrete Maßnahmen, um das Land aus der Krisensituation herauszuführen,
a) indem Informationen zur sozialen und wirtschaftlichen Situation vollständig offengelegt werden,
b) indem es allen Gesellschaftskreisen und allen Schichten ermöglicht wird, an der Diskussion über das Reformprogramm teilzunehmen. [...]

9. Garantie eines automatischen Lohnanstiegs parallel zum Anstieg der Preise und zur Inflationsrate. [...]

12. Einführung von Grundsätzen zur Einstellung von Führungskräften nach dem Prinzip der Qualifikation statt nach dem der Parteizugehörigkeit sowie Abschaffung der Privilegien für Miliz, Sicherheitsdienst und Parteiapparat [...…].

16. Verbesserung des Gesundheitsdienstes und Sicherstellung einer vollen medizinischen Betreuung der arbeitenden Bevölkerung.

17. Sicherstellung einer ausreichenden Zahl von Krippen- und Kindergarten-plätzen für die Kinder berufstätiger Frauen. [...]

21. Einführung von freien Samstagen. [...]

Hartmut Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarnosc. Die politische Geschichte Polens 1980–1990, Berlin 1999, S. 29 ff.

Vorreiter des Umbruchs im Ostblock

Innerhalb weniger Wochen verlor die PZPR die direkte Kontrolle über mehr als 90 Prozent der organisierten Arbeiter und damit ihre Legitimationsbasis als "führende Kraft" beim Aufbau des Sozialismus in Polen. Das Protokoll der Vereinbarungen von Danzig wurde zum Bezugsrahmen der sich im Lande immer weiter ausbreitenden Gewerkschaftsbewegung. Im November 1980 waren von den 16 Millionen Werktätigen Polens rund zehn Millionen der neuen Gewerkschaft Solidarnosc (Solidarität) beigetreten, darunter über eine Million PZPR-Mitglieder. Die Staatsgewerkschaften wurden aufgelöst.

Der Partei- und Staatsapparat geriet angesichts der Massenmobilisierung und gewaltigen Umbruchsituation im Lande in einen Zustand der Lähmung. Parteichef Gierek war bereits im September 1980 durch Stanislaw Kania ersetzt worden. Ein überzeugendes Reformprogramm für Wirtschaft und Gesellschaft kam aber nicht in Sicht. Stattdessen versuchte die politische Führung, die Strukturen ihrer politischen Macht gegen den Solidarnosc-Sturm abzusichern. So wurde die Wahl des Verteidigungsministers General Wojciech Jaruzelski (geb. 1923) zum Regierungschef im Februar 1981 unter Beibehaltung seiner bisherigen Ämter verstanden. Der Mordanschlag auf Papst Johannes Paul II., der als Schutzpatron der polnischen Freiheitsbewegung fungierte, in Rom am 13. Mai, der Tod des hoch angesehenen Primas von Polen, Stefan Kardinal Wyszynski (1901–1981), am 28. Mai und der Drohbrief des ZK der KPdSU in Moskau an die Führung der PZPR vom 5. Juni, in dem mit Konsequenzen gedroht wurde, falls die Regierung sich nicht in der Lage sähe, die sogenannte Doppelherrschaft (PZPR – Solidarnosc) zu beenden, führten zu einer weiteren Destabilisierung der Lage. Auf dem ersten Landeskongress der Solidarnosc im September 1981 kündigte Walesa eine eigene Strategie der Gewerkschaft zur Rettung der Wirtschaft an. Großes Aufsehen erregte eine Solidarnosc-Botschaft an die Arbeiter in den anderen sozialistischen Staaten, die von den Bruderparteien der PZPR als Provokation em-pfunden wurde.

Im Oktober 1981 übernahm Ministerpräsident und Verteidigungsminister Jaruzelski auch das Amt des Ersten Sekretärs des ZK der PZPR. Am 12. Dezember kündigte die Gewerkschaftsführung in Danzig an, sie werde für den Fall, dass in der für den 15. und 16. Dezember einberufenen Sejmsitzung der Regierung Sondervollmachten erteilt würden, am 17. Dezember einen nationalen Protesttag durchführen. Gleichzeitig verlangte sie eine Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierung innerhalb der nächsten zwei Monate.

QuellentextDie letzte rätedemokratische Bewegung

Der Streik, der am 14. August 1980 auf der Lenin-Werft in Gdansk begann, brachte die entscheidende Wende. Die Werftarbeiter hatten bereits bei den Protesten im Jahr 1970 eine wichtige Rolle gespielt, zum Streikkomitee gehörten damals Anna Walentynowicz und Lech Walesa. [...]
Die Betriebsleitung hatte Anna Walentynowicz wieder beschäftigen müssen. Am 7. August war sie jedoch erneut entlassen worden. Sie und Walesa wieder einzustellen, gehörte zu den Forderungen der Arbeiter, die sogar durchsetzten, dass Walentynowicz mit dem Dienstwagen des Direktors zur Werft gefahren wurde. Walentynowicz und Walesa wurden erneut in das Streikkomitee gewählt. Obwohl Walesa das Symbol der Solidarnosc wurde, wäre die Gewerkschaft vielleicht gar nicht entstanden, wenn er sich durchgesetzt hätte.
Denn am 16. August waren Walesa und die Mehrheit des Streikkomitees bereit, sich mit einer Lohnerhöhung zufrieden zu geben. Für die Regierung wäre es dann relativ leicht gewesen, einen Streikbetrieb nach dem anderen zu befriesden. Die Arbeiter begannen bereits, den Betrieb zu verlassen, doch Walentynowicz und die Krankenschwester Alina Pienkowska riefen über Lautsprecher zur Fortsetzung des Streiks auf. [...]
Während die Arbeiter den Betrieb besetzt hielten, mussten die Funktionäre der [PZPR] zu Verhandlungen in der Werft erscheinen. Sie standen nun dem [Ü]berbetrieblichen Streikkomitee (MKS) gegenüber, das 21 Forderungen präsentierte. Das wichtigste Anliegen stand an erster Stelle: "Zulassung freier, von der Partei und den Betriebsleitungen unabhängiger Gewerkschaften". [...]
Viele westliche Bewunderer der Solidarnosc wären entsetzt, wenn Arbeiter in ihrem Land solche Forderungen erheben würden. Bereits die von den Werftarbeitern durchgesetzte Regelung, dass die Verhandlungen per Lautsprecher auf dem Werksgelände übertragen wurden, wäre heute geeignet, Managern wie Gewerkschaftsbürokraten den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. [...]
Das aber war erst der Anfang. Im September wurde Solidarnosc offiziell gegründet, innerhalb weniger Monate traten 9,5 der 35 Millionen Polen in die Gewerkschaft ein. Allerorten war die Unfähigkeit der Bürokratie offensichtlich geworden. Selbst zwischen August 1980 und Dezember 1981 verursachten Planungsfehler und Materialmangel größere Produktionsausfälle als die Streiks. Dass die begehrtesten Waren exportiert oder der privilegierten Bürokratie zugeteilt wurden, war ebenfalls Gegenstand der Kritik.
Viele Betriebe wurden von den Arbeitern übernommen, während in der Gewerkschaft die Selbstverwaltung diskutiert wurde. Das bei einem Kongress im September 1981 verabschiedete Solidarnosc -Programm fordert eine "selbstverwaltete Republik". […] Die Gremien der territorialen Selbstverwaltung sollten aus "freien Wahlen hervorgehen". Das einflussreiche Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), das 1976 von regimekritischen Intellektuellen gegründet worden war, propagierte eine dezentrale Wirtschaftsordnung, in der weitgehend selbstständige Betriebe und Genossenschaften ihre Produkte austauschten. [...]
Angestrebt wurde nicht die Rückkehr zum Kapitalismus, vielmehr sollte aus dem "realen Sozialismus", den die Bürokratie mehr schlecht als recht verwaltete, ein realer Sozialismus werden, eine Rätedemokratie, die neben den bürgerlichen Freiheiten auch alle sozialen Rechte und die Kontrolle der Arbeiter über Produktion und Verteilung garantierte. [...] Solidarnosc war die bislang letzte bedeutende rätedemokratische Bewegung […].

Jörn Schulz, "Die Madonna streikt", in: Jungle World Nr. 32 vom 12. August 2010

Verhängung des Kriegsrechts

Am 13. Dezember 1981 verhängte General Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen und setzte einen "Armeerat der nationalen Errettung" (WRON) ein. Walesa und andere Mitglieder der Solidarnosc sowie eine große Zahl von Intellektuellen und Aktivisten wurden interniert, aber auch ehemalige Staats- und Parteifunktionäre, unter anderem der Ex-Parteisekretär Gierek. In einer in der Sowjetunion gedruckten Proklamation und in einer Rundfunkansprache rechtfertigte Jaruzelski die Verhängung des Kriegsrechts mit Umsturzplänen der Solidarnosc, die "Anarchie, Willkür und Chaos" und einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hätten.

Die Armee und Sicherheitskräfte übernahmen weitgehend die Aufgaben, für die zuvor die PZPR zuständig gewesen war. Nach Aufhebung des Kriegsrechts (22. Juli 1983) wurde durch die Personalunion von Erstem Sekretär des ZK der PZPR, Regierungschef und Oberbefehlshaber der Armee die herausragende Rolle der Streitkräfte vorläufig festgeschrieben.

Jaruzelskis Macht als Erster Parteisekretär (1981–1989) und Ministerpräsident (1981–1985) bzw. Staatsratsvorsitzender (1985–1989) war außerordentlich. Der Armeeapparat und die Leitung des Innenministeriums waren loyale Stützen des Generals. Die Entführung und grausame Ermordung des oppositio-nellen Priesters Jerzy Popieuszko im Oktober 1984 durch den polnischen Staatssicherheitsdienst wurde zum Symbol des Widerstandes, der politischen Rolle der katholischen Kirche und der Brutalität des Sicherheitsapparats, der der Kontrolle der Jaruzelski-Gruppe entglitten war und seit diesem "Zwischenfall" endlich Grenzen gesetzt bekam.

Gescheiterte Normalisierungsversuche

Neben dem Kampf gegen ideologische Gegner in den Parteireihen und in der Gesellschaft deklarierte die Jaruzelski-Führung seit Mitte der 1980er Jahre eine neue Politik des Dialogs und der Verständigung, die sich vor allem an die katholische Kirche und politisch nicht engagierte Persönlichkeiten richtete und die politische Opposition ausdrücklich ausschloss. Das reichte zwar weit über das hinaus, was die Parteiführungen in den anderen "realsozialistischen" Staaten ihren Gesellschaften offerierten, fiel in Polen aber nicht mehr auf fruchtbaren Boden. Die polnische Gesellschaft stellte vielmehr fest, dass das bestehende System nicht mehr reformierbar war und interpretierte es als Zeichen der Schwäche der Regierenden, dass die Solidarnosc am 8. Oktober 1982 verboten worden war.

Jaruzelski hatte bis zum X. Parteitag der PZPR (29. Juni – 3. Juli 1986) seine Position gegenüber innerparteilichen Gegnern seines "mittleren" Kurses in der Innenpolitik ausgebaut. Der Parteikongress sollte dem Prozess der "sozialistischen Erneuerung" neue Impulse geben: Aufgrund einer am 17. Juli 1986 verkündeten Amnestie kamen überraschend alle politischen Gefangenen frei. Im Dezember 1986 wurde von Jaruzelski ein "Konsultativrat beim Staatsratsvorsitzenden" einberufen. Darunter waren auch von der demokratischen Opposition respektierte Persönlichkeiten, die jedoch von dieser kein Mandat besaßen.

Weitere Anzeichen für eine Öffnung der Innenpolitik waren eine liberalere Kulturpolitik und die Bestellung einer Bürgerrechtsbeauftragten beim Sejm im November 1987. Die innenpolitische Liberalisierung vollzog sich jedoch zu langsam, als dass sie die Verschärfung der sozioökonomischen Situation der Gesellschaft noch hätte auffangen können. In einem Referendum im November 1987 fiel das von der Regierung vorgestellte Wirtschaftsreformprogramm durch.

Verhandlungen am Runden Tisch

Nach dieser politischen Niederlage, neuen Streiks im April/Mai 1988, der geringen Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen im Juni 1988 und einer zweiten Streikwelle im August 1988 machte sich in der Warschauer Führung die Einsicht breit, dass ohne direkte politische Entscheidungsfreiheit der Gesellschaft ein Ausweg aus der Dauerkrise nicht zu finden war. Mit politischer Repression oder Reformen "von oben" war das Land nicht mehr zu regieren. Die ratlosen Regierenden wollten die Verantwortung für die Zukunft Polens nicht mehr alleine tragen. Ihre Zeit schien nach 40 Jahren abgelaufen.

Nach der Zustimmung des 10. ZK-Plenums der PZPR im Januar 1989 kam es dann zu den historischen Verhandlungen am Runden Tisch vom 6. Februar bis 5. April 1989 zwischen Vertretern der "Regierungskoalition" (PZPR, ZSL, SD, drei im Sejm vertretene christliche Gruppierungen, OPZZ) sowie Pragmatikern und Moderaten in der Solidarnosc über einen "historischen Kompromiss", der das Machtmonopol der PZPR endgültig beseitigen sollte. Nicht beteiligt an den Gesprächen waren Vertreter der zahlenmäßig kleinen Fundamentalopposition, die eine Diskussion mit den Vertretern des alten Systems grundsätzlich ablehnte und eine sofortige und vollständige Abdankung forderte.

Am Runden Tisch wurden Abmachungen getroffen, die das politische und institutionelle System Polens grundlegend verändern sollten. Das Ergebnis der Verhandlungen wurde in drei Protokollen über die politischen Reformen, den Gewerkschaftspluralismus und die Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammengefasst. Das Protokoll über politische Reformen sah die schrittweise Einführung des Prinzips der vollen Volkssouveränität vor und verpflichtete das im Juni zu wählende Parlament, eine neue demokratische Verfassung und ein neues demokratisches Wahlrecht auszuarbeiten. Schon vor der Unterzeichnung der Ergebnisprotokolle wurden dem Sejm am 22. März Verfassungsänderungen und Gesetzesnovellierungen zugeleitet: Es handelte sich um die Änderung der Wahlordnung für die vorgezogenen Sejm-Wahlen im Juni 1989, die Einführung des Senats als zweite Kammer und des Präsidentenamtes, die Einführung des Gewerkschaftspluralismus und ein weitgehend liberalisiertes Vereinsrecht.

Die Idee des "Runden Tisches", der von Pragmatikern und Reformisten in der Parteiführung (Jaruzelski, Kiszczak u. a.) ins politische Spiel gebracht wurde, schuf die Institutionalisierung eines – historisch beispiellosen – evolutionären Systemwechsels vom realen Sozialismus zur pluralistischen Demokratie, der eine Vorbildfunktion für andere Länder Mittel- und Südosteuropas, die DDR eingeschlossen, übernehmen sollte.

Polen befand sich nun in einer Phase permanenter Evolution oder einer "Revolution Schritt für Schritt", wobei das Wahlvolk am 4. Juni und in den Stichwahlen am 18. Juni 1989 den Systemwandel beschleunigte, der nun viel schneller als am "Runden Tisch" – mit Rücksicht auf die sowjetische Führung, auf deren laissez faire die polnischen Demokraten angewiesen waren – vereinbart worden war, zum Systemwechsel mutierte.

ist Direktor des Deutschen Polen Instituts. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Polnische Zeitgeschichte und Politik, Politisches System Polens, Politische Systeme und Systemtransformation in Ostmittel- und Südosteuropa, Deutsch-polnische Beziehungen sowie Integrationspolitik in Europa.