Gerechtigkeit – historische und theoretische Zugänge
Prof. Dr. Benjamin BenzProf. Dr. Ernst-Ulrich HusterDr. Johannes D. SchütteProf. Dr. Jürgen BoeckhJürgen Boeckh / Benjamin Benz / Ernst-Ulrich Huster / Johannes D. Schütte
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Je nach zugrundeliegendem Gerechtigkeitsprinzip können sozialpolitische Maßnahmen ganz unterschiedlich aussehen: Bekommen alle, was sie brauchen (Bedarfsgerechtigkeit) oder was sie verdienen (Leistungsgerechtigkeit)? Auch Vorstellungen vom Wesen des Menschen, von der Rolle des Staates und der Frage nach einem guten Leben haben einen Einfluss darauf, was als gerecht gilt.
Was ist gerecht? – Ist doch klar: Was mir nützt!
Es gibt kaum einen Begriff, der in privaten und öffentlichen Diskussionen so umstritten ist wie der der Gerechtigkeit: kein Pausengespräch, kein Gespräch unter Arbeitskolleginnen und -kollegen, keine Gesprächsrunde im Familienkreis, bei denen es nicht direkt oder indirekt um Gerechtigkeit geht. Auch Zeitungen und Nachrichtensendungen sind immer wieder mit dieser Frage befasst.
Der Begriff Gerechtigkeit bezieht sich auf den Vergleich der Lebenssituation eines Einzelnen oder einer Gruppe mit der sozialen Umwelt. Ist die Benotung der Klassenarbeit eines Schülers im Vergleich mit der Leistung anderer Mitschülerinnen und Mitschüler gerecht? Ist die Entlohnung eines Arbeitnehmers gemessen an der Leistung anderer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerecht? Ist die Wertschätzung, die ein Einzelner erfährt, gerecht, wenn man sie mit der Bevorzugung anderer Mitmenschen vergleicht? Wie ist der Wohlstand in der Welt heute verteilt – Ist das gerecht? Man könnte diese Beispiele fortführen – Alltagsgespräche, Alltagsbewertungen, die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit ausdrücken. Persönliche und/oder soziale Interessen werden befriedigt oder eben nicht.
Die Frage, was gerecht ist, durchzieht die gesamte abendländische Theoriediskussion. Zugleich wurde und wird sie von unterschiedlichen, teils sehr gegensätzlichen sozialen Bewegungen getragen und weitergetrieben. Dabei wird auch das Gegenteil von Gerechtigkeit – nämlich Ungerechtigkeit – diskutiert und als etwas herausgestellt, das es zu bekämpfen gilt: durch radikale Gegenwehr bis hin zum revolutionären Umsturz oder durch Reformen, etwa in Gestalt von Sozialpolitik.
Grundnormen im Widerstreit
Sozialpolitik zielt darauf, Gerechtigkeit herzustellen. Doch darüber, was dieser Begriff meint, gehen die Meinungen weit auseinander. Was Gerechtigkeit sein soll und wie sie herzustellen ist, bestimmt jede Gesellschaft selbst. Damit ist zweierlei verbunden: Vorstellungen von Gerechtigkeit verändern sich zum einen im Zeitverlauf (sozialer Wandel). Zum anderen sind sie sehr stark davon abhängig, welche Mehrheitsmeinung sich in einer Gesellschaft herausbildet. Und dabei sind in der Regel gerade die Gruppen, die wir am ehesten als Opfer von Ungerechtigkeit empfinden, meist am schwächsten an der Willensbildung beteiligt. Aus den oben aufgezeigten, im Laufe der Geschichte entwickelten theoretischen Grundprinzipien der Sozialpolitik, Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität, leiten sich drei Grundvorstellungen von Gerechtigkeit ab: Leistungsgerechtigkeit, solidarische Gerechtigkeit und vorleistungsfreie, subsidiäre Gerechtigkeit.
Die aus der bürgerlichen Emanzipationsbewegung herrührende Vorstellung von Leistungsgerechtigkeit ist inzwischen über den bürgerlichen Interessenbezug hinaus vom Großteil der abhängig Beschäftigten übernommen worden. Sie schlägt sich außer in der Lohn- und Einkommensdifferenzierung auch in Erwartungen an gestufte Lohnersatzleistungen wie etwa Renten, Kranken- und Arbeitslosengeld nieder.
Umgekehrt sind Vorstellungen solidarischer Gerechtigkeit über den engen Bereich der vormaligen Industriearbeiterschaft hinaus auch in die Mittelschichten eingeflossen. Sie benötigen immer stärker sozialpolitische Leistungen, weil sie sozialen Risiken in gleicher Weise ausgesetzt sind wie früher die Arbeiterschaft, ohne dass sie diese Risiken allein durch Eigenvorsorge auffangen könnten.
Stark christlich geprägt ist die Vorstellung der vorleistungsfreien Gerechtigkeit. Die davon Profitierenden können sich kaum sozial bzw. politisch durchsetzen, sie gehören eher zu den sogenannten sozial schwächer gestellten Personengruppen und bedürfen deshalb der sozialanwaltlichen Interessenverstärkung. Dabei sind die Mindestsicherungsleistungen in der Bevölkerung kaum umstritten. Allerdings gibt es sehr wohl Streit darüber, wie umfassend sie ausgestattet sein sollen.
Gleichheit oder Ungleichheit als Weg zu Gerechtigkeit
Doch diese drei Grundnormen von Gerechtigkeit – Leistungsgerechtigkeit, solidarische und vorleistungsfreie Gerechtigkeit – sagen noch nichts darüber aus, wie sie umgesetzt werden sollen. Genauer: Ist vorhandene soziale Ungleichheit eher förderlich, um gerechtere Verhältnisse zu schaffen, oder eher hinderlich? Was spornt den Einzelnen an, Leistung zu bringen? Wie organisiert sich solidarische Gerechtigkeit? Und wodurch und unter welchen Bedingungen ist eine Gesellschaft bereit, vorleistungsfrei Leistungen für Bedürftige zu erbringen? Mit diesen Fragen befasst sich der wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Diskurs ausführlich. In ihm kommen unterschiedliche Bilder vom Menschen und seinem Wesen zum Ausdruck.
Damit ist zugleich staatliches Handeln angesprochen. Schon die frühen Theoretiker des marktwirtschaftlichen Systems fragten seit Adam Smith (1723–1790) danach, ob staatliches Handeln (sozialpolitische Leistungen, Steuern) zu mehr Gerechtigkeit oder zu mehr Ungerechtigkeit führe. Dieses Spannungsverhältnis hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Fordern die einen mehr sozialpolitische Hilfen für einzelne soziale Gruppen, etwa für Arme, und höhere Steuern etwa für Reiche, warnen andere vor einem überbordenden Wohlfahrtsstaat und einer Enteignung der Leistungsträger in der Gesellschaft. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich als ein breiter Grundkonsens das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft durchgesetzt. Entwickelt vor allem von Ökonomen wie Walter Eucken (1891–1950), Alexander Rüstow (1885–1963), Ludwig Erhard (1897–1977) und Alfred Müller-Armack (1901–1978) in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sucht es nach einem Ausgleich zwischen marktwirtschaftlichen Strukturen – etwa Stärkung der investiven Kräfte der Wirtschaft – bei gleichzeitiger Beschränkung von Marktmacht und der (aktiven/staatlichen) Förderung von sozialem Ausgleich.
QuellentextDüsseldorfer Leitsätze der CDU von 1949
Die "soziale Marktwirtschaft" ist die sozial gebundene Verfassung der gewerblichen Wirtschaft, in der die Leistung freier und tüchtiger Menschen in eine Ordnung gebracht wird, die ein Höchstmaß von wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit für alle erbringt. Diese Ordnung wird geschaffen durch Freiheit und Bindung, die in der "sozialen Marktwirtschaft" durch echten Leistungswettbewerb und unabhängige Monopolkontrolle zum Ausdruck kommen. Echter Leistungswettbewerb liegt vor, wenn durch eine Wettbewerbsordnung sichergestellt ist, dass bei gleichen Chancen und fairen Wettkampfbedingungen in freier Konkurrenz die bessere Leistung belohnt wird. Das Zusammenwirken aller Beteiligten wird durch marktgerechte Preise gesteuert. […]
Marktgerechte Preise sind Motor und Steuerungsmittel der Marktwirtschaft. Marktgerechte Preise entstehen, indem Kaufkraft und angebotene Gütermenge auf den Märkten zum Ausgleich gebracht werden. Wichtigste Vorbedingung, um diesen Ausgleich herbeizuführen, ist ein geordnetes Geldwesen. […]
Im Bewusstsein christlicher Verantwortung bekennt sich die CDU zu einer gesellschaftlichen Neuordnung auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit, gemeinschaftsverpflichtender Freiheit und echter Menschenwürde.
Sie erstrebt eine umfassende Sozialpolitik für alle wirtschaftlich- und sozialabhängigen Volksschichten.
Diese Grundsätze verlangen vom Staat, die herrschenden wirtschaftlichen und sozialen Notstände zu beseitigen und ein gesundes Verhältnis zwischen den Volksschichten herbeizuführen. Dabei müssen die natürlichen Rechte und Freiheiten des Einzelnen wie aller Gesellschaftsgruppen geschützt werden.
Die wichtigste staats- und gesellschaftserhaltende Gemeinschaft ist die Familie. Ihre Rechte und Pflichten sind zu vertiefen und gesetzlich zu schützen. Die geistigen und materiellen Voraussetzungen für ihren natürlichen Bestand und die Erfüllung ihrer Aufgaben sind herzustellen und zu sichern. […]
Die enormen finanzpolitischen Vergünstigungen nach der Währungsreform von 1948 mit der Einführung der Deutschen Mark und die große Rentenreform im Jahr 1957 stehen hier exemplarisch für die konkrete Umsetzung dieses Konzeptes. Zum einen wurden über steuerliche Erleichterungen die Wirtschaftskräfte freigesetzt ("Wirtschaftswunder"), zum anderen auch die Personen am volkswirtschaftlichen Wertzuwachs beteiligt, die als Rentnerinnen und Rentner selbst nicht mehr aktiv erwerbstätig und von den Lohnsteigerungen ausgeschlossen waren.
Doch dieses Konzept der Sozialen Marktwirtschaft war und ist bis heute zahlreichen Veränderungen unterworfen: Soll der Staat nur durch Steuerverzicht die Wirtschaft ankurbeln, oder sollen noch andere Formen wie beispielsweise Subventionen, arbeitsrechtliche Eingriffe oder internationale Verträge über die Liberalisierung des Welthandels Wirtschaftswachstum fördern? Und: Wo ist die Grenze für Ausgleichsmaßnahmen gegenüber denjenigen, die nicht mehr oder noch nicht oder nur unter sehr schlechten Bedingungen am Erwerbsleben beteiligt sind? Zu denken ist hier etwa an die Diskussion über die Einführung eines Niedriglohnsektors durch staatliche Politik ("Hartz IV") ohne oder doch mit einem Mindestlohn.
Mit den Namen Friedrich August von Hayek (1899–1992) und Milton Friedman (1912–2006) ist eine Gegenposition zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft verbunden: Das Marktgeschehen ist nach Auffassung dieser Ökonomen nie ungerecht, Interventionen des Staates in das Marktgeschehen – auch durch Sozialpolitik – beförderten dagegen Ungerechtigkeit: Es sei – so Hayek – ein Irrglaube, ähnlich dem an "Hexen und Gespenster", sich in einer sich spontan bildenden Ordnung, also dem Markt, etwas Bestimmtes unter "sozialer Gerechtigkeit" vorstellen zu können. Auf eine derartige Idee könne nur eine "Zwangsorganisation" kommen, wie sie – offensichtlich – der Sozialstaat darstelle. Hayek sieht zwar durchaus ein "Mindesteinkommen" vor, doch müsse dieses für Bedürftige, die ihren Lebensunterhalt nicht auf dem Markt verdienen könnten, vollständig außerhalb des Marktes angesiedelt sein. Gemeint sind damit karitative Hilfeleistungen wie Suppenküchen und Kleiderkammern, getragen von zivilgesellschaftlichen Akteuren, etwa Kirchen oder ehrenamtlich organisierten Wohlfahrtseinrichtungen. Unter bestimmten Bedingungen sieht er auch den Staat in der Pflicht, eine entsprechende Minimalabsicherung vorzusehen. Aber die privaten oder staatlichen Hilfen dürften keinesfalls für Personen zur Verfügung stehen, die am Markt eine Leistung anbieten können, selbst wenn diese dort nicht nachgefragt werde. Er begründet diese Mindestsicherung für offensichtlich nicht mehr Arbeitsfähige als im Interesse jener liegend, "die Schutz gegen Verzweiflungsakte der Bedürftigen verlangen", also der marktstarken Bürgerinnen und Bürger. Freiheit von staatlicher Beschränkung und Regulation gilt hier als höchstes Ziel, ohne kritisch zu diskutieren: Freiheit wovon, Freiheit wofür, Freiheit für wen? Freiheit wird hier mit der Verwirklichung von Gerechtigkeit gleichgesetzt.
Versuche von Synthesen
Wie sollen starke und schwache soziale Interessen in Beziehung treten (Eigenverantwortung), wie soll gegenseitige Rücksichtnahme organisiert werden (Solidarität), und wer bzw. was darf nicht "unter die Räder" kommen (Subsidiarität)? Dem Dilemma, dass Wertvorstellungen immer weiter auseinander gehen und sich teilweise gegenseitig neutralisieren, versuchen Theoretiker dadurch zu entgehen, dass sie Verfahrensgrundsätze formulieren, mit deren Hilfe innerhalb einer Gesellschaft Vorstellungen von Gerechtigkeit gemeinsam entwickelt werden können. Hierbei wird darauf Wert gelegt, dass insbesondere Ungleichgewichte bei der Interessenartikulation und der Durchsetzung von Interessen aufgehoben werden. Ein herrschaftsfreier Dialog, der alle Stimmen und Interessen einer Gesellschaft gleichberechtigt berücksichtigt, gilt aus dieser Sicht als ideales, nicht machtbesetztes Verfahren, um gemeinsame Werte zu bestimmen.
John Rawls (1921–2002), ein US-amerikanischer Philosoph, hat einen derartigen Verfahrensgrundsatz entwickelt. Danach seien soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu regeln, "daß sie sowohl a) den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen als auch b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen gemäß der fairen Chancengleichheit offenstehen". Mit Gerechtigkeit ist hier ein Beziehungsverhältnis zwischen allen Mitgliedern einer Gesellschaft gemeint, das von allen Beteiligten als fair angesehen wird. Fairness steht für Nichtbenachteiligung und zufriedenstellende Beteiligung aller an der Wohlstandsmehrung, ohne dass dieses Gleichheit bedeutet.
Teilziele sozialer Gerechtigkeit
Gerechtigkeitstheorien und -konzepte zielen auf die Gestaltung der Lebensbedingungen einer Gesellschaft auf der Makroebene. Doch um zu prüfen, ob sie umgesetzt werden, müssen messbare Teilziele entwickelt werden. In Erweiterung eines von Irene Becker und Richard Hauser entworfenen Schaubildes werden diese Teilziele zugleich Handlungsebenen zugeordnet:
Gerechtigkeit für den Einzelnen bzw. die Einzelne (Mikroebene)
Gerechtigkeit zielt zunächst auf die Lebenslage jedes Einzelnen. Empirische Untersuchungen belegen, dass die Startchancen für die persönliche Entwicklung und Positionierung in der Gesellschaft stark voneinander abweichen. Während beispielsweise 2009 von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 77 ein Hochschulstudium begannen, waren es bei Nichtakademikerkindern lediglich 23 Kinder (Externer Link: http://www.sozialerhebung.de/download/20/soz20_hauptbericht_gesamt.pdf, S. 112). Das soziale Umfeld bestimmt auch in hohem Maße Gesundheitsrisiken. Umgekehrt gibt es die Ausnahmen – Kinder aus einem bildungsfernen Milieu schaffen den Aufstieg, kommen trotz schlechter Startbedingungen gesund durchs Leben. Beides deutet darauf hin, dass es in einer Gesellschaft nicht hinnehmbar ist, dass alleine die Geburt bzw. das soziale Milieu, in das man hineingeboren wird, über den weiteren Lebensweg entscheiden darf. Dies betrifft auch Fragen nach den nach wie vor gegebenen geschlechtsspezifisch bzw. ethnisch/migrationsspezifisch wirksamen Benachteiligungen.
Es geht um die Frage nach der Startchancengleichheit für alle. Hier hat sich die Sozialpolitik lange Zeit sehr zurückhaltend gezeigt, bedeutet dieses doch Eingriffe in den privaten Bereich des Einzelnen bzw. in sein unmittelbares soziales Umfeld. Auch bedeutet eine solche Politik, dass möglicherweise bestehende soziale Hierarchien in Frage gestellt werden, privilegierte Positionen aufgegeben werden müssen. Trotzdem setzte sich seit Mitte der 1960er-Jahre erst allmählich, dann immer stärker die Überlegung durch, dass Risiken, unter denen Kinder stehen, umso besser gemindert, behoben oder kompensiert werden können, je früher Interventionen erfolgen. Ärztliche Untersuchungen bei der Schwangerschaft, Untersuchungen bei Säuglingen und Kleinkindern, Schuleingangsuntersuchungen, Sprachtests sollen daher der Früherkennung von Risiken dienen. Diagnostik allein ändert Lebenslagen allerdings noch nicht. In diesem Zusammenhang greift auch der Gedanke, Ungleichgewichte bei den Startchancen durch eine "kompensierende Diskriminierung", so der US-Philosoph Richard Dworkin (1931–2013) in einem Aufsatz, auszugleichen. In diesem Sinne gibt es Ansätze und Modelle etwa im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, bei der Förderung von Mädchen bzw. Frauen und schließlich auch bei der von Menschen mit Behinderungen.
Ein zweites Teilziel hängt damit eng zusammen: das der Bedarfsgerechtigkeit. Dominiert das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, das keine Rücksicht auf die unterschiedlichen Fähigkeiten, Ressourcen und Einschränkungen von Einzelnen bzw. Gruppen nimmt, dann müssen kranke Menschen genauso arbeiten wie gesunde, Menschen mit Behinderungen wie solche ohne körperliche, geistige und soziale Einschränkungen. Leistungsgerechtigkeit alleine würde auch dazu führen, dass der jedem Einzelnen zustehende Wohnraum allein von den marktmäßig erzielten Finanzmitteln abhängig wäre. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Mehr Bedarfsgerechtigkeit meint hier nicht beliebige individuelle Wünsche, sondern es geht um Bedarfe, die sich aus einer bestimmten, sozial bedingten Lebenssituation ergeben, beispielsweise wenn es gilt, Menschen den Lebensunterhalt zu sichern, die aus eigenen Mitteln nicht dazu in der Lage sind, oder Schüler und Schülerinnen bzw. Studierende aus einkommensschwachen Haushalten zu fördern. Im Sinne dieser Bedarfsgerechtigkeit gibt es zahlreiche sozialrechtliche Regelungen wie etwa die Systeme der Mindestsicherung, Wohngeldleistungen, den sozialen Wohnungsbau, finanzielle und personelle Unterstützung bei Krankheit und Invalidität sowie bei Behinderung und die Ausbildungsförderung. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in einem richtungsweisenden Urteil vom 9. Februar 2010 erneut festgestellt, dass die Mindestsicherung über den reinen physischen Existenzerhalt hinaus auch die soziokulturelle Teilhabe sicherstellen muss (Externer Link: www.bundesverfassungsgericht.de/ SharedDocs/Entscheidungen/DE/2010/02/ls20100209_1bvl000109.html). Doch gibt es bei all diesen Regelungen immer wieder Streit: Was sollen die Hilfeempfänger und ihre Angehörigen bekommen, und ab wann sind die Leistungen zu hoch? Und: Wie hoch muss der Abstand zwischen diesen Leistungen etwa zur Höhe niedriger Lohneinkommen sein? In welchem Verhältnis sollen Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit also stehen?
Bei alledem gilt: Der/die Einzelne wird in eine Leistungsgesellschaft hinein sozialisiert. Hier wird er bzw. sie sich später behaupten, sich platzieren müssen. Leistung meint die Zuordnung zu einem Bewertungsschema, das gleichsam einen Durchschnitt an Leistung setzt und daran graduell die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft misst – nach oben und nach unten. Leistungsgerechtigkeit setzt einen derartigen Maßstab und dessen Akzeptanz innerhalb einer Gesellschaft voraus. Der gesamte Sozialisationsprozess von der Familie über außerfamiliäre, dann schulische und schließlich berufliche Instanzen hat zum Ziel, diese Leistungsprinzipien zu akzeptieren, zu übernehmen, sich nach ihnen auszurichten – begleitet durch Belohnungen und Sanktionen. Auch wenn Eltern hier meist im privaten Familienkontext handeln, in ihr Handeln gehen bewusst oder unbewusst sozialpolitische Zielvorgaben ein. Das Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfe) betont in § 1 das Recht jedes jungen Menschen "auf Förderung seiner Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit". Pflege und Erziehung der Kinder seien "das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht", über die die staatliche Gemeinschaft wache. Auch wenn der Begriff "gemeinschaftsfähig" im Gesetz nicht weiter ausgeführt wird, verweist er doch insgesamt auf die vorherrschenden Werte und Normen in unserer Leistungsgesellschaft.
Gerechtigkeit für den engeren Sozialverband (Mesoebene)
Die sozialpolitischen Initiativen etwa schon bei Bismarck im 19. Jahrhundert hatten immer auch das Schicksal von Einzelnen als Teil sozialer Gruppen – Schichten oder Klassen – im Blick. Und zwar in doppelter Weise. Einmal wurde die Ursache sozialer Problemlagen in gesellschaftlich vorgeprägten Lebensgrundlagen gesehen, zugleich aber auch das soziale Umfeld mit in die Bearbeitung einbezogen. So war beispielsweise die Rentenleistung bei Bismarck mehr als eine Unterstützung der Familien gedacht, in denen ein invalider oder älterer Arbeitnehmer versorgt wurde.
Der Gesichtspunkt, dass die Entwicklung eines Menschen, vor allem eines jungen Menschen, von seinem unmittelbaren sozialen Umfeld stark mitgeprägt wird und auch veränderbar ist, ist inzwischen deutlicher ins Blickfeld sozialpolitischer Eingriffe getreten. Zur Chancengerechtigkeit gehört folglich nicht nur, dass Einzelpersonen Möglichkeiten zur Fortbildung eröffnet werden, etwa als Ausbildungsförderung (BAföG). Vielmehr zählt dazu auch die Förderung des sozialen Umfeldes in Gestalt der vorschulischen und schulischen Einrichtungen, aber auch der Vereine, der Selbsthilfegruppen. Hier sollen nicht nur finanzielle Mittel bereitgestellt werden, sondern auch Beratungs- und Betreuungsangebote und andere soziale Fördermöglichkeiten. Soziale Netzwerke und Unterstützungsangebote wie Hilfen zur Erziehung, Gesundheitsberatung, Ausstattung der Kindertagesstätten mit Personal und mit anderen Voraussetzungen sollen die individuelle Fortentwicklung der Nutznießer stärken.
In der deutschen sozialpolitischen Tradition dominieren nach wie vor die finanziellen Leistungen, vorwiegend orientiert an Leistungs- und solidarischer Gerechtigkeit. Mittlerweile wurden sie aber dahingehend ausgeweitet, dass derartige Maßnahmen nicht nur den Status quo in die Zukunft verlängern (Lebensstandardsicherung), sondern darauf ausgelegt werden, gesamtgesellschaftlich soziale Mobilität zu befördern. Das beispielsweise von Ralf Dahrendorf (1929–2009) in den 1960er-Jahren eingeforderte "Recht auf Bildung" und die in der Phase der sozialliberalen Koalition der 1970er-Jahre insgesamt angestrebte Erhöhung der Chancengleichheit in der Gesellschaft zielten zwar zunächst auf Verfahrensänderungen und die Beseitigung von schichtspezifischen Zugangsbeschränkungen zu Bildungsinstitutionen, verbanden dieses aber zugleich mit einem bestimmten normativen Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Der soziale Status wurde und wird als veränderbar betrachtet, wozu Sozialpolitik einen Beitrag leisten kann und soll. Der Einzelne bzw. die Einzelne und sein bzw. ihr soziales Umfeld müssen vorleistungsfrei Zugang zu neuen Entwicklungsmöglichkeiten bekommen. Nötig ist ein solidarisch handelndes Umfeld, das allerdings zugleich zielgruppenspezifisch Kriterien der Leistungsgerechtigkeit anwendet.
Gerechtigkeit zwischen den Generationen (Makroebene)
Sozialpolitik zielt außerdem auf einen Ausgleich der Lebenschancen zwischen den Generationen. So ist zum einen geregelt, dass das Recht der elterlichen Sorge das Einstehen für die Lebensbedarfe der Kinder einschließt. Umgekehrt haben nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) prinzipiell und nach dem Sozialhilferecht immerhin in abgeschwächter Form (hohe Freibeträge) Kinder für ihre Eltern dann unterstützend einzuspringen, wenn diese ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können (Familiensubsidiarität). Über diese unmittelbare zivil- und sozialrechtliche wechselseitige Haftung der Generationen in einer Familie hinaus gibt es eine breite Diskussion insbesondere beim Rentenrecht.
Der hier – aber nicht nur hier – festgelegte Generationenvertrag sieht vor, dass die jeweils aktiv Erwerbstätigen für die noch-nicht und die nicht-mehr Erwerbstätigen einzutreten haben – sei es durch direkte Leistungen (Kinder, Jugendliche etc.) oder durch indirekte Leistungen (Sozialversicherungsbeiträge). Problematisiert wird, ob hier nicht inzwischen eine verteilungspolitische Schieflage zu Lasten der nachwachsenden Generation eingetreten ist bzw. ob die Interessen der derzeitigen Alten und der derzeitig Erwerbstätigen und erst recht der später Erwerbstätigen gerechter aufeinander abgestimmt werden können. Diese Diskussion um die Generationengerechtigkeit ist allerdings in einem hohen Maße auch ideologisch besetzt, blendet sie doch unter dem Schlagwort des demografischen Wandels in mitunter verkürzender Weise die Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes und dessen Verteilung aus. Gleichwohl bleibt es ein Gebot der Gerechtigkeit, bei der Verteilung von Chancen und Risiken die Interessen der unterschiedlichen Generationen, sodann aber auch die bestehenden Verteilungsungleichgewichte innerhalb der jeweiligen Generationen im Blick zu behalten.
Die Gerechtigkeitsdiskussion hat zunehmend auch eine ökologische Dimension bekommen. Sie dreht sich um die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass künftigen Generationen die Möglichkeiten der jetzigen Generationen zur Lebensgestaltung in gleichem Ausmaß erhalten bleiben. In diesem Sinne gewinnen Aspekte des Umweltschutzes eine große sozialpolitische Bedeutung.
Gerechtigkeit unter europäischen und globalisierten Bedingungen
Der Raum sozialer Verteilungspolitik war bis in die 1990er-Jahre hinein ein nationaler Sozialstaat. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in der Europäischen Union wurde dieser Sozialstaat zunehmend sozialräumlich entgrenzt. Über die Europäische Union hinaus haben weitere soziale und ökonomische Veränderungen innerhalb Europas und weltweit Einfluss auf die soziale Lage, anstehende Verteilungsprozesse und deren Ergebnisse. Damit stehen Sozialstaatlichkeit und Sozialpolitik vor der Herausforderung, das ihnen obliegende Gerechtigkeitsgebot unter den Bedingungen wirtschaftlicher und politischer Entgrenzung zu erfüllen. Traditionelle nationale Politikansätze und ihr Bezug auf kommende soziale Interessen werden dadurch nicht hinfällig, sie bedürfen aber einer Abstimmung, was in diesen transnationalen Sozialräumen als sozial gerecht akzeptiert bzw. gefordert wird.
Der Dritte Weg: Anthony Giddens
Anthony Giddens (*1939), ein britischer Soziologe, sucht nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit seiner sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und angesichts der nunmehr in den westlichen Wirtschaftsnationen vorherrschend gewordenen marktradikalen Vorstellungen nach einer Neujustierung der Sozialpolitik. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich programmatische Konzepte von einem "Dritten Weg" stets zwischen Bolschewismus und Kapitalismus positioniert. Der Wegfall des einen, des sowjetischen Pols führt Giddens zur Neubestimmung eines "Dritten Weges". Er soll zwischen tradierten sozialdemokratischen Konzepten von einer umfassenden Wohlstandssicherung und dem "Neoliberalismus" mit seinen "neue[n] Risiken und Unsicherheiten" verlaufen. Dabei wird unter diesem – sicher unscharfen – Begriff die Befürwortung eines freien Marktes, die Deregulierung des Kapitalverkehrs und ein weitgehender Verzicht auf staatliche Steuerung verstanden. In seinem Konzept von einem "Dritten Weg" hält Giddens an der zentralen Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit fest. Er befürwortet die Gewährung von sozialem Ausgleich, die er als "Umverteilung der Chancen" versteht.
Rechte könnten nicht ohne Verpflichtungen eingeräumt werden, die Gewährung etwa von Arbeitslosenunterstützung müsse an die Verpflichtung zu aktiver Arbeitssuche gebunden werden. Der von Giddens angestrebte Sozialstaat will ausdrücklich alle Bürgerinnen und Bürger in das Gemeinwesen integrieren. Für sozial Ausgegrenzte fordert er mehr als die traditionelle Hilfe, nämlich "gemeinschaftsorientierte Initiativen" in Gestalt von Netzwerken gegenseitiger Unterstützung, die zur Selbsthilfe ermächtigen und soziales Kapital schaffen. Diese lokalen Aktivitäten gelte es staatlich zu unterstützen. Auch über die Bekämpfung von Armut hinaus solle der Sozialstaat an Stelle direkter Zahlungen stärker in "menschliches Kapital" investieren. Statt reaktive Wohlstandssicherung zu betreiben, gelte es, "positive Wohlfahrt" zu befördern, die von Begriffen wie Selbstbestimmung, aktive Gesundheitsvorsorge, lebensbegleitende Bildung, Wohlergehen und (Eigen-)Initiative geprägt sei.
Der Sozialstaat soll die Bürgerinnen und Bürger stärker "aktivieren", statt nur auf deren soziale Probleme zu reagieren. Angesichts globalisierter Märkte und Bewegungen müssten sich die Nationen und die Demokratie kosmopolitisch ausrichten, zugleich müssten neben den institutionalisierten, verfassungsrechtlich festgelegten Formen des Regierens neue etabliert werden – zwischen den Staaten, in den Staaten und unter Einbeziehung der zunehmenden Zahl nichtstaatlicher Organisationen mit ihren zum Teil ebenfalls internationalen Verflechtungen – also ein politisches Zusammenwirken, EU-weit und global, das inzwischen unter den Begriff Governance gefasst wird.
Giddens hat den Diskurs vom "aktivierenden Sozialstaat" angestoßen. Leistungsgerechtigkeit und Solidarität werden als Grundprinzipien des Sozialen nicht aufgegeben, aber tendenziell wird das Gewicht zu Lasten von Solidarität in Richtung Leistung verschoben.
Ökonomie für den Menschen: Amartya Sen und Martha C. Nussbaum
Um die Durchsetzung des Grundprinzips der "Freiheit" und die Sicherstellung von "Chancengerechtigkeit" geht es den beiden Theoretikern Amartya Sen und Martha C. Nussbaum. Sie fragen, wie "Freiheit" in einer sich zunehmend globalisierenden Welt für alle sichergestellt werden kann.
Sinn des menschlichen Zusammenlebens ist nach Amartya Sen (*1933), geboren in West-Bengalen (heute: Bangladesch) und 1998 Nobelpreisträger für Ökonomie, die "Entwicklung als Freiheit": "Entwicklung fordert, die Hauptursachen von Unfreiheit zu beseitigen: Armut wie auch Despotismus, fehlende wirtschaftliche Chancen wie auch systematischen Notstand, die Vernachlässigung öffentlicher Einrichtungen wie auch die Intoleranz oder die erstickende Kontrolle seitens autoritärer Staaten."
Was Menschen positiv erreichen könnten, hängt nach Sen von guter Gesundheit, Schulbildung, der Förderung und Pflege von Initiativen ab. Freier wirtschaftlicher Austausch könne das Wirtschaftswachstum zwar kräftig ankurbeln, doch gebe es durchaus Bereiche, die der staatlichen Kontrolle bedürften. Er begreift Armut nicht vorrangig als ein Defizit an Markteinkommen, wenngleich dieser Umstand große Auswirkungen auf die Lebensführung habe. Armut bezeichne, so Sen in seiner 2000 auf Deutsch erschienenen "Ökonomie für den Menschen", vielmehr einen "Mangel an Verwirklichungschancen". Das Beispiel Arbeitslosigkeit zeige, dass deren Folgen weit über die unmittelbaren Einkommenseinbußen hinausgingen, sondern mehr noch psychische Beeinträchtigungen, den Verlust an Arbeitsmotivation und Selbstvertrauen nach sich zögen, körperliche Erkrankungen und negative Rückwirkungen auf die Familienleben bewirken könnten. Soziale Ausgrenzung, ethnische Spannungen und eine ungleiche Behandlung der Geschlechter seien die Folge von Armut. Eine konkrete Umsetzung dieser Einsicht bietet das Konzept der Mikro-Kredite von Muhammad Yunus (*1940). Durch kleine Geldbeträge soll in den Ländern des globalen Südens (der "Dritten Welt") der/die Einzelne in die Lage versetzt werden, sich im handwerklichen Bereich eine eigene Existenz aufzubauen.
Sen betont die Effizienz des Marktes, sieht aber – im Gegensatz zu von Hayek und Friedman – auch kritische Elemente. So findet nach seiner Ansicht der Markt dort seine Begrenzung, wo es um öffentliche Güter gehe, die allen unentgeltlich zur Verfügung stehen. Amartya Sen sieht eine neue Herausforderung darin, weltweite marktwirtschaftliche Strukturen und nationale wie internationale Politik so miteinander zu verknüpfen, dass dadurch auch die Verwirklichungschancen jedes bzw. jeder Einzelnen verbessert würden. Anders als von Hayek und Friedman verbindet er den Freiheitsbegriff mit einem ausdifferenzierten Verständnis von Gerechtigkeit. Sen führt den Diskurs über Chancengerechtigkeit auf die globale Weltebene, doch bleibt offen, wie wettbewerbsfreudige Märkte, die den Menschen Verwirklichungschancen bieten, angesichts der derzeit weltweiten und regional herrschenden Macht- und Wirtschaftsstrukturen entstehen und garantiert werden können.
Hier wird die Sozialphilosophin Martha C. Nussbaum (*1947), die im Ansatz mit Sen übereinstimmt, konkreter. Sie wendet sich ausdrücklich gegen ein schwach ausgebautes Wohlfahrtssystem und fordert stattdessen ein fest institutionalisiertes: "Das heißt, dass die Politik nicht einfach abwartet und schaut, wer zu den Zukurzgekommenen gehört und nur mit institutioneller Unterstützung zurechtkommt, und diesen Menschen dann aus ihrer misslichen Lage heraushilft. Stattdessen besteht das Ziel darin, ein umfassendes Unterstützungssystem zu schaffen, das allen Bürgern ein ganzes Leben lang eine gute Lebensführung ermöglicht." Sodann konkretisiert Nussbaum: "Erforderlich sind ein umfassendes Gesundheitssystem, gesunde Luft und gesundes Wasser, Sicherheit für Leben und Besitz und der Schutz der Entscheidungsfreiheit der Bürger in Bezug auf wichtige Aspekte ihrer medizinischen Behandlung. Erforderlich sind ausreichende Ernährung und eine angemessene Unterkunft, und diese Dinge sind so zu gestalten, dass die Bürger ihre Ernährung und ihre Unterkunft nach ihrer eigenen praktischen Vernunft regeln können." (Gerechtigkeit oder: Das gute Leben, Berlin 1999, S. 62/65)
Unter Bezug auf frühe Aussagen von Karl Marx wendet sich Nussbaum ausdrücklich gegen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen. Zugleich fordert sie, dass Güter und Einrichtungen vor allem für Erziehung und Bildung als Voraussetzung eines menschenangemessenen Lebens zur Verfügung gestellt werden. Sie strebt insgesamt eine Synthese zwischen dem Befähigungskonzept von Amartya Sen und der aristotelischen Vorstellung von einem "gelingenden Leben" an. Das Konzept eines "gelingenden Lebens" beschreibt nach Aristoteles eine Art der Lebensführung, die auf Authentizität, Selbstverwirklichung und intrinsischer (aus eigenem Antrieb kommender) Handlungsmotivation basiert. Abstrakt gesprochen will sie die eigenständige, individuelle Persönlichkeit und die Politik in einem Konzept des "Guten" zusammenführen. "Gutes" meint hier das, was die klassische Staatsethik mit dem lateinischen Begriff des summum bonum (wörtl.: das höchste Gute) bezeichnet: die oberste Norm, das anzustrebende Staatsziel, denen andere Teilziele nachgeordnet werden.
Auch hier geht es nicht lediglich um die Überwindung von Armut, sondern um ein umfassendes Verständnis von sozialer Teilhabe – und zwar in allen Bereichen des Lebens. Dabei sollen Güter nicht bloß zugeteilt werden, Menschen sollen vielmehr befähigt werden, bestimmte menschliche Tätigkeiten selbst auszuüben. Staatliche Aufgabe sei es, "den Übergang von einer Fähigkeitsstufe zu einer anderen zu ermöglichen". (ebenda, S. 87)
Gerechtigkeit durch Sozialpolitik – (k)ein Fazit
Ist der Mensch – anthropologisch betrachtet – nun ein Wesen, das sich auf Grund rationaler Entscheidungen selbst seinen Weg durchs Leben bahnt, bahnen kann, bahnen wird – also ein homo oeconomicus –, oder ist er ein Wesen, das in hohem Maße fremd bestimmt wird und deshalb auch externer Unterstützung bedarf, um sich entsprechend seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu entwickeln, entwickeln zu können – also ein homo sociologicus? Sozialpolitik kann hier keine einseitige und eindeutige Entscheidung treffen. Die in ihr zu Worte kommenden Personen, soziale Gruppen und Schichten argumentieren interessebedingt mal stärker im Rahmen der einen oder der anderen Annahme bzw. suchen nach Synthesen, die immer zeitlich bedingt und damit Änderungen unterworfen sind. Sozialpolitik ist nie nur "gerecht" oder "ungerecht", sie verknüpft Defizite, die sie wahrnimmt, oder Teilziele, die sie anstrebt, mit umfassenden Konzepten von Gesellschaft, für die u. a. Begriffe wie Leistungsgesellschaft, solidarische oder subsidiäre Gesellschaft stehen. Ralf Dahrendorf hat schon in den 1960er-Jahren in seiner Schrift "Gesellschaft und Demokratie" gefordert, eine Gesellschaft bedürfe eines festen Bodens und eines schützenden Daches. Aber wie fest ist der Boden, wie dicht das schützende Dach? Wie groß ist die Spanne zwischen Dach und Fußboden? Und gibt es Möglichkeiten, innerhalb dieses Hauses aufzusteigen, bzw. wie groß ist die Gefahr abzusteigen oder gar unten zu bleiben? Darum geht es bei dem unter dem Diktum der Gerechtigkeit geführten, interessebedingten Streit um Zielsetzungen und konkrete Einzelmaßnahmen in der Sozialpolitik.
QuellentextGleichheit ist nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit
[…] Frankfurter Rundschau: Sie beschäftigen sich auch mit der "Legitimation von Ungleichheit", so heißt eines Ihrer Projekte. Was legitimiert denn eine ungerechte Gesellschaft?
Stefan Liebig: Die Frage ist dabei nicht, was eine ungerechte Gesellschaft legitimiert, sondern wie Ungleichheiten legitimiert werden. Ungleichheit und Gerechtigkeit sind zwei unterschiedliche Dinge. Die werden zwar immer in einem Atemzug genannt, weil man davon ausgeht, dass Gleichheit gerecht ist. Das ist aber nicht immer richtig. Denn auch Gleichheit kann ungerecht sein. Etwa dann, wenn diejenigen, die sich für etwas ganz besonders engagieren, viel Mühe aufwenden und Entsagungen in Kauf nehmen, am Ende die gleichen Belohnungen erhalten, wie diejenigen, die überhaupt nichts getan haben. In dem Fall werden gleiche Belohnungen als höchst ungerecht wahrgenommen. Es gibt – und auch hier finden wir zahlreiche Beispiele aus der Geschichte – viele Versuche, Gleichheit in einer Gesellschaft herzustellen, die eben am Ende nur Ungerechtigkeiten produziert haben. Denken sie an die chinesische Kulturrevolution oder auch das, was in den sozialistischen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschehen ist. […]
Ich glaube, dass wir Menschen sowieso Egoisten sind. Auch unser Engagement für Gerechtigkeit ist mit dem Wunsch verbunden, uns dadurch Vorteile zu verschaffen. Entweder weil wir dadurch materielle Zugewinne erwarten können, weil wir in einer Welt leben möchten, in der unsere Anstrengungen auch belohnt werden und andere sich nicht auf unsere Kosten bereichern sollen, oder weil wir für unser Engagement für die Gemeinschaft von anderen Anerkennung erhalten wollen. […]
FR: In Deutschland konzentriert sich der Wohlstand immer stärker in den Händen weniger, das ist mittlerweile Allgemeinwissen. Widerstand dagegen gibt es aber kaum, können Sie das erklären?
Liebig: Seit 2005 fragen wir regelmäßig 10.000 bis 15.000 Menschen, wie gerecht sie ihr Erwerbseinkommen empfinden. Es zeigt sich, dass zwei Drittel konstant ihr Einkommen als gerecht einschätzen. Die Daten zeigen, dass der Glaube, dass die Einkommen ungerecht sind, eher von einer Minderheit wahrgenommen wird. Wir haben auch Daten über die vergangenen 30 Jahre zu der Frage, ob man in Deutschland ein gutes Leben führen kann. Die Meinung verändert sich im Prinzip nicht: 1984 sagten 91 Prozent, dass man in Deutschland gut leben kann. 2008 waren es 88 Prozent. Andererseits glauben auch heute mehr Menschen, dass die Unterschiede in Deutschland wachsen. Doch das schlägt auf die Gesamtmeinung nicht durch. Meiner Meinung nach liegt darin auch der Schlüssel für die Diskussion. Wenn die Mehrheit denkt, dass ihr Leben eigentlich gut so ist, wie es ist, dann können solche eher an abstrakten Themen orientierten Bewegungen wenig mobilisieren.
FR: Jeder möchte ein Leben in Wohlstand, aber Sie sagen, das Thema sei zu abstrakt, um die Menschen anzusprechen?
Liebig: Ja, aber Wohlstand bedeutet ja nicht Gleichheit! Eine gleiche Gesellschaft muss nicht – und das wissen wir ja nun heute besser als vor 100 Jahren – allen ausreichend Wohlstand gewähren. Und ich bezweifele auch, dass die Menschen Gleichheit wollen. […] Ich bin überzeugt, dass die Vorstellung, dass eine Gesellschaft gleich sein soll, sicher nicht das ist, was viele Menschen sich vorstellen. Hierbei spielt das Bedürfnis nach Einzigartigkeit eine große Rolle, sich von anderen zu unterscheiden und der Wunsch nach Status. Status bedeutet nun einmal, dass es ein "höher" und "niedriger" – eben Ungleichheit – gibt. Es scheint eine menschliche Disposition zu sein. Individualität ist wichtig und die drückt sich auch darin aus, dass der eine mehr hat und der andere weniger. Ein gewisses Ausmaß an Ungleichheit ist durchaus gewünscht, Extreme dagegen nicht. Und wenn sie die Ungleichheitsstrukturen in Deutschland mit denen in anderen Regionen der Welt vergleichen, dann muss man sagen, dass wir hier auf einer Insel der Seligen sind. Armut in Bangladesch ist eine ganz andere Armut als hier. Bevor wir also beständig Ungleichheiten als ungerecht bezeichnen und dabei Gleichheit im Kopf haben, sollten wir eher darüber reden, welche Ungleichheiten wir wollen, welche unvermeidbar sind und welche eigentlich gerecht sind.
Stefan Liebig ist seit Oktober 2008 Professor für Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Er ist seit 2007 Forschungsprofessor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die empirische Gerechtigkeitsforschung.
"Wir sollten drüber reden, welche Ungleichheit wir wollen", Interview von Viktor Funk mit Stefan Liebig, in: Frankfurter Rundschau vom 18. September 2014
Jg. 1973, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. 2007 bis 2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, seit 2011 in gleicher Funktion an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum. Fachliche Schwerpunkte: Armutspolitik im politischen Mehrebenensystem und politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: E-Mail Link: benz@efh-bochum.de
Jg. 1945, lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik – darunter Armuts- und Reichtumsforschung – und Sozialethik. Kontakt: E-Mail Link: Ernst-Ulrich.Huster@t-online.de
Jg. 1982, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Arbeit Münster e. V. im Landesmodellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“. Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Fachliche Schwerpunkte: Theorie der „sozialen“ Vererbung von Armut, Inklusionsstrategien und Soziale Ausgrenzung in Deutschland. Kontakt: E-Mail Link: Johannes.D.Schuette@gmail.com
Jg. 1966, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler, lehrt seit 2007 Sozialpolitik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel an der Fakultät Soziale Arbeit. Fachliche Schwerpunkte: allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland und Europa, politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit und Entwicklung sozialer Dienste.