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China – eine kommende Weltmacht?

Sven Bernhard Gareis

/ 14 Minuten zu lesen

China und die übrige Welt sind unauflöslich miteinander verflochten. Nach über drei Jahrzehnten ihres rasanten wirtschaftlichen Wachstums stellt sich zunehmend die Frage, welche Rolle die Volksrepublik im weltpolitischen Machtgefüge des 21. Jahrhunderts spielen wird.

China ist in den vergangenen Jahren zu einem Global Player geworden. Neben der wirtschaftlichen Stärke erhebt es auch außenpolitisch Anspruch auf eine größere Rolle im internationalen System. Skyline von Shanghai 2014 (© imago / McPhoto / Uwe Gernhöfer)

Kaum ein weltpolitischer Auftritt erregt gleichzeitig so viele Hoffnungen und Befürchtungen wie der der Volksrepublik China. Binnen dreier Jahrzehnte ist China von einem bitterarmen, krisengeschüttelten Entwicklungsland zu einer der führenden globalen Wirtschaftsmächte aufgestiegen. 2014 war die Volksrepublik mit einem Bruttoinlandsprodukt von rund 10,4 Billionen US-Dollar die zweitgrößte Volkswirtschaft hinter den USA und vor Japan sowie – dank ihres Außenhandelsvolumens von mehr als vier Billionen US-Dollar – ein entscheidender Motor der Weltwirtschaft. Seit Jahren tritt China weltweit als Nachfrager von Spitzentechnologie auf, kauft sich in zahlreiche Industrien und Geschäftsfelder ein und erschließt Absatzmärkte für seine eigenen, zunehmend hochwertigeren Produkte. Gerade Länder wie Deutschland profitieren stark von der engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China, die 2014 ein Volumen von mehr als 140 Milliarden Euro erreichte. Nicht erst mit der im Sommer 2014 verkündeten Gründung einer "Neuen Entwicklungsbank" zusammen mit den übrigen BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien und Südafrika, sondern auch im Rahmen der G 20 vergrößert China sein Gewicht in der internationalen Finanzarchitektur.

Zugleich verfolgt Peking seine Energie- und Rohstoffinteressen immer nachdrücklicher und sichert sich durch großzügige Entwicklungsbeihilfen und Investitionen wachsenden Einfluss sowohl in Asien wie auch in zahlreichen Ländern Afrikas und Lateinamerikas. China ist der größte Emittent von Gift- und Treibhausgasen und kämpft – wie die Bilder aus chinesischen Großstädten fortwährend belegen – mit gewaltigen Umweltproblemen als Folge seines lange rücksichtslosen Wachstums. Mit zunehmender Sorge blicken viele Staaten zudem auf die seit Jahren steigenden Militärausgaben der Volksrepublik (2014 rund 132 Mrd. US-Dollar) sowie auf die schwelenden Streitigkeiten zwischen China und Japan, Vietnam und den Philippinen über Inselgruppen im Ost- bzw. Südchinesischen Meer – die Auswirkungen möglicher Konfrontationen in dieser für die Weltwirtschaft so bedeutsamen Region würden auch in Europa deutlich zu spüren sein.

Ohne Zweifel, China und die übrige Welt sind – im Guten wie im Schlechten – eng und unauflöslich miteinander verflochten. Die Frage ist nicht länger ob, sondern wie sich Chinas Weg in den Kreis der führenden, die Weltpolitik weitgehend nach ihren Interessen und Vorstellungen gestaltenden Mächte vollziehen wird: in der Konfrontation mit den etablierten Großmächten des bestehenden internationalen Systems, wie dies vor allem die USA befürchten, oder als verlässlicher Partner in einer von China propagierten "harmonischen Weltordnung", die durch gegenseitige Achtung unterschiedlicher Kulturen, Kooperation und gegenseitigen Nutzen geprägt sein soll.

Ziele und Interessen Chinas


Zur Untersuchung der Außenpolitik eines Staates bietet sich immer zunächst ein Blick auf dessen grundlegende Ziele und Interessen an, die im Falle Chinas eng mit der Frage der inneren Entwicklung des Landes verbunden sind. Das von Deng Xiaoping ab 1979 eingeleitete Zeitalter der inneren Reformen ging von Beginn an einher mit der Öffnung der abgeschotteten Volksrepublik nach außen: Ohne ausländische Investitionen, Knowhow und Zugänge zu den internationalen Märkten wären die von Deng angestrebten Modernisierungen nicht möglich gewesen. Diese waren jedoch nach den verheerenden Wirren der Mao-Zeit dringend erforderlich, um die von der Kommunistischen Partei Chinas getragene politische Ordnung wie auch die territoriale Integrität Chinas aufrechtzuerhalten. Diese Leistung wird auch den gegenwärtigen und künftigen Führern der Volksrepublik abverlangt.

Das Reich der Mitte zusammenzuhalten, bildet gewissermaßen den Kern jenes traditionellen "Mandats des Himmels", durch welches seit jeher politische Herrschaft in China legitimiert wird, und das Prinzip, dem auch die modernen Führer der Volksrepublik verpflichtet bleiben. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Dai Bingguo, der bis 2013 amtierende Staatsrat und außenpolitische Vordenker unter dem früheren Parteichef Hu Jintao, die Kerninteressen Chinas wie folgt formulierte: erstens, der Fortbestand des politischen Systems und die Wahrung nationaler Sicherheit; zweitens, die nationale Souveränität und territoriale Integrität; drittens, die stabile Entwicklung der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft.

Der zentrale Referenzpunkt im strategischen Denken der Volksrepublik ist also China selbst – gleichwohl verweist diese Interessendefinition auch auf externe Bedingungsfaktoren: Um seine innere Entwicklung weiter fördern zu können, braucht China dauerhaft ein stabiles und wohlwollendes Umfeld. Dies gilt zunächst für seine regionale Umgebung, wo China immer wieder bemüht ist, Sorgen seiner Nachbarn vor einem allzu dominanten Auftreten durch die Vorteile wirtschaftlicher Kooperation zu zerstreuen. Als Folge seiner rasant voranschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung mit praktisch allen Regionen der Welt hat China aber auch Interessen von zunehmend globaler Reichweite entwickelt. Für sein maßgeblich von der industriellen Produktion und dem Export der dort hergestellten Güter getragenes Wachstum spielen Zugänge zu jeder Form von Ressourcen und Energie eine ebenso entscheidende Rolle wie gesicherte Handelswege. Die Vermeidung gefährlicher Konflikte bzw. gegen die Volksrepublik gerichteter Allianzen steht daher an der Spitze der außenpolitischen Interessenagenda Chinas.

Vor allem aber geht es auch um Chinas Platz in der Welt. Seinem Selbstbild nach ist China das Jahrtausende alte "Reich der Mitte" (zhongguo), das von den Opiumkriegen der 1830er-Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg einen dramatischen Niedergang, ein "Jahrhundert der Schande", erleiden musste. Mit der Gründung der Volksrepublik betrat 1949 ein "Neues China" die Bühne der Weltpolitik. Hier will es nach den Entwicklungserfolgen der letzten Jahrzehnte nun als ein Spieler in der obersten Liga des internationalen Systems und auf Augenhöhe mit den übrigen großen Mächten respektiert werden – ein Anspruch, den die Volksrepublik zunehmend selbstbewusster einfordert.

Innenpolitische Zwänge


Trotz aller offenkundigen Erfolge steht China jedoch weiterhin vor einer Reihe innenpolitischer Herausforderungen, die auch sein außenpolitisches Handeln maßgeblich beeinflussen. So hält der fernöstliche Staat zwar Rang zwei der größten Volkswirtschaften der Welt – doch müssen sich diesen Erfolg fast 1,4 Milliarden Menschen teilen. Auf dem UNO-Index der menschlichen Entwicklung (HDI) erreicht China 2014 Platz 91 von 187 erfassten Ländern und rangiert damit hinsichtlich der Lebensqualität und sozio-ökonomischen Lage seiner Einwohnerschaft nur im globalen Mittelfeld. Hinzu kommt, dass die chinesische Gesellschaft vielfach gespalten ist. Zwar gelang es, die bitterste Armut und den Hunger zu überwinden, zugleich entstanden jedoch gravierende Wohlstandsgefälle zwischen Stadt- und Landbevölkerung bzw. den reichen Küstenprovinzen und den armen Regionen im Landesinneren und im Westen Chinas. Die wachsenden Städte mit ihren Arbeitsmöglichkeiten im Bausektor und der Industrie zogen nicht nur rund 200 Millionen ehemalige Bauern als Wanderarbeiter in oft äußerst prekären Beschäftigungen an, sondern schufen auch eine wachsende soziale Unzufriedenheit. Diese entlädt sich zusammen mit dem Ärger über korrupte Kader und Behörden sowie rücksichtslose Arbeitgeber immer wieder in zehntausenden von Aufständen und Unruhen pro Jahr.

QuellentextSoziale Proteste – eine Herausforderung für die Politik

[…] Jedes Jahr kommt es in China zu rund 100.000 Massenprotesten. Die häufigste Ursache sind Streitigkeiten um Landnutzungsrechte. Die Verpachtung von Land ist inzwischen eine der wichtigsten Einnahmequellen für Lokalregierungen. Diese haben die Macht, im Namen des "öffentlichen Interesses" Landbesitz von Bauern zu beschlagnahmen und die Höhe der Entschädigungszahlungen selbst festzulegen. Auch die Stadtbewohner haben keine Scheu mehr vor Konflikten, um ihre Interessen gegen staatliche Eingriffe zu verteidigen. Sie protestierten gegen geplante Chemiefabriken oder Müllverbrennungsanlagen, die neben ihren neu erworbenen Eigentumswohnungen entstehen sollen. Durch soziale Medien ist Chinas neue Mittelschicht innerhalb kurzer Zeit in der Lage, Demonstrationen mit zehntausenden Teilnehmern zu organisieren.

Die zweithäufigste Ursache für Proteste sind Arbeitskonflikte. Besonders in südlichen Provinzen gelingt es der besser gebildeten zweiten Generation von Wanderarbeitern immer wieder, Fabrikchefs durch Streiks unter Druck zu setzen. Eigens bestimmte Vertreter verhandeln an den staatlichen Gewerkschaften vorbei über bessere Arbeitsbedingungen. Lokale Regierungen wollen um jeden Preis soziale Stabilität wiederherstellen: Mal versuchen sie Proteste zu schlichten, mal setzen sie Polizei gegen streikende Arbeiter ein.

Seit den neunziger Jahren hat sich dank des höheren Bildungsniveaus und vermehrten Privateigentums ein neues, bislang nie da gewesenes Rechtsbewusstsein in der chinesischen Gesellschaft entwickelt. Immer mehr Bürger fordern Schutz- und Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Diese Proteste verfolgen in der Regel konkrete Interessen und keine abstrakten politischen Ziele. Aber sie setzen die politische Führung unter Druck, sind sie doch Ausdruck von Unzufriedenheit, und sie fordern die Legitimität der Kommunistischen Partei heraus, die inzwischen nur noch auf Wohlstandsversprechen gebaut ist. Sollte Chinas Wirtschaft ernsthaft ins Wanken geraten, drohen die sozialen Proteste außer Kontrolle zu geraten.

Zhu Yi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei MERICS (Mercator Institute for China Studies).

Zhu Yi, "Problemzonen eines Riesenreichs – Soziale Proteste", in: Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 115 f.


Das rasante wirtschaftliche Wachstum ging in den zurückliegenden Jahrzehnten zudem mit einem massiven Raubbau an der Umwelt einher, dessen Folgen die Lebensbedingungen der Menschen zunehmend beeinträchtigen. Zudem ist die chinesische Führung mit demografischen Herausforderungen wie einer alternden Gesellschaft als Folge der Ein-Kind-Politik und den daraus resultierenden Problemen wie unzureichender Altersvorsorge konfrontiert. In den autonomen Gebieten Xinjiang und Tibet verlangen benachteiligte Minderheiten immer nachdrücklicher die Berücksichtigung ihrer Interessen.

Die seit dem 16. Parteitag 2002 versprochene Herausbildung einer Gesellschaft von bescheidenem, aber einigermaßen gerecht verteiltem Wohlstand bleibt somit auch weiterhin ein anspruchsvolles Unterfangen. Die Umsetzung dieses Versprechens erfordert nämlich ein dauerhaftes Wachstum von mindestens sieben Prozent im Jahr sowie einen Strukturwandel hin zu umweltverträglicheren Wirtschafts- und Produktionsformen. Auch der gegenwärtigen Führungsgeneration um Staats- und Parteichef Xi Jinping ist klar, dass China diesen Herausforderungen nicht allein, sondern nur in der fortgesetzten und engen Verflechtung mit der Welt begegnen kann.

Mit Blick auf den Rang Chinas in der Welt bleiben aber auch die Erfahrungen des Niedergangs von der Hochzivilisation zur Halbkolonie im 19. und 20. Jahrhundert im kollektiven Gedächtnis der Volksrepublik weiterhin sehr präsent. Mehr als ein Jahrhundert lang war China Invasionen und Landnahmen externer Mächte ausgeliefert, ohne diesen etwas wirksam entgegensetzen zu können. Im Gegenteil, nach chinesischer Lesart sorgten interne Gegensätze, insbesondere der Kampf gegen die im Niedergang befindliche mandschurische Qing-Dynastie, für jene innere Schwäche, die China zum Spielball externer Kräfte machte. In der langen historischen Erfahrung Chinas stehen eine stabile innere Ordnung und außenpolitisches Gewicht in einem engen Zusammenhang: Herrscht im Inneren Chaos, sind Angriffe von außen nicht fern, umgekehrt gewährleistet innere Stärke den besten Schutz nach außen.

Die gerade durch Xi Jinping demonstrierte Stärke nach außen dient somit auch der Festigung des Ansehens der politischen Führung im Inneren – vor allem unter den Vorzeichen eines seit Jahren in China anschwellenden Nationalismus. Dieser wurde und wird von den verschiedenen Führungsgenerationen durchaus angespornt und gepflegt, um nach dem Wegfall der kommunistischen Ideologie eine neue soziale Klammer für die chinesische Gesellschaft zu bilden, er erweist sich oft aber auch als ein zweischneidiges Schwert: Wo (vor allem aus wirtschaftlichen Gründen) pragmatische Geschmeidigkeit erforderlich wäre, etwa in den Territorialdisputen mit Japan um die Diaoyu/SenkakuInseln sowie mit den Anrainern in der Südchinesischen See um die Paracel- und Spratley-Inseln, bringt die Rücksichtnahme auf nationalistische Aufwallungen im Lande häufig politische Verhaltensweisen hervor, die – etwa bei der 2013 ausgerufenen Luftidentifikationszone im Ostchinesischen Meer – von den internationalen Partnern im besten Falle als robust, häufig genug aber auch als aggressiv wahrgenommen werden. Die chinesische Führung erscheint dabei immer wieder auch als eine Getriebene der von ihr selbst gerufenen nationalistischen Geister, die ihre eigenen Handlungsspielräume einschränken.

Maximen der Außenpolitik


Auch wenn sich Chinas Außenpolitik keineswegs einheitlich gestaltet und die Akteure in Diplomatie, Militär, Sicherheit, Wirtschaft und Kultur oft ganz eigene und mitunter gar widersprüchliche Ziele verfolgen, lassen sich doch einige handlungsleitende Maximen im auswärtigen Auftritt Pekings bestimmen. So blieb die Volksrepublik nach den sprunghaften Kurswechseln der Mao-Jahre auch dann noch ein abwartender und eher passiver Akteur, als sich das Land ab 1979 zu reformieren und zu öffnen begann. Deng Xiaoping hatte mit seinen Modernisierungen ein zuvor nie gekanntes Experiment in Gang gesetzt, dessen Verlauf und Ausgang zahllose Unwägbarkeiten und Risiken barg. In dieser Lage sollte China "seine Zeit abwarten" und "keine Führungsrolle beanspruchen", um mögliche Vorbehalte gegenüber China zu entkräften und günstige Rahmenbedingungen für seine weitere Entwicklung zu fördern. Diesen Ansatz, der wegen der ihm innewohnenden Intransparenz zum festen Bestandteil westlicher China-Threat-Vorstellungen gehört, hat die Volksrepublik jedoch nach und nach zugunsten einer aktiveren und insgesamt sehr pragmatischen Außenpolitik aufgegeben.

In seiner Außenpolitik orientiert sich China formal an der traditionellen Leitlinie der 1954 verkündeten Fünf Prinzipien der Friedlichen Koexistenz:

  • Achtung der Souveränität und territorialen Integrität

  • gegenseitiger Nichtangriff

  • gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten

  • Gleichberechtigung und gegenseitiger Nutzen

  • friedliche Koexistenz trotz unterschiedlicher Systeme.

Sie haben insbesondere die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten zum Gegenstand und tragen damit Chinas hoher Wertschätzung nationaler Souveränität Rechnung. In der Praxis ist China zur Zusammenarbeit mit jedem Partner bereit, ungeachtet seiner ideologischen, politischen, religiösen oder anderweitig weltanschaulichen Orientierung. Die einzige nicht verhandelbare Voraussetzung ist das von der Volksrepublik eisern behauptete "Ein-China-Prinzip", wonach Tibet und Xinjiang ebenso zum chinesischen Staatsverband gehören wie das de facto unabhängige Taiwan.

Anders als etwa die USA verfolgt China aber keine politische Mission, verlangt von keinem Staat die Übernahme seiner politischen Prinzipien. So verschafft sich Peking gerade in vielen Entwicklungsländern politische Vorteile gegenüber der westlichen Staatenwelt, die ihre Entwicklungszusammenarbeit oft mit Forderungen an die gute Regierungsführung ihrer Partner verbinden. Dabei bevorzugt China grundsätzlich bilaterale Formen der Zusammenarbeit, um seine wirtschaftliche und politische Überlegenheit wirksam ausspielen zu können. Gegenüber größeren Mächten oder Staatengruppen wiederum setzt es auf einen selektiven Multilateralismus, etwa gegenüber der ASEAN oder in der mit Russland und vier zentralasiatischen Staaten gebildeten Shanghai Cooperation Organization (SCO). Die UNO ist für die chinesische Außenpolitik insofern sehr bedeutsam, als China dort auf Augenhöhe mit den USA vertreten ist. Zugleich kann sich die Volksrepublik dort als verlässliche Großmacht profilieren und ihr Engagement für den Weltfrieden auch damit unterstreichen, dass sie rund 2200 Friedensschützer in zehn UN-Blauhelmmissionen entsendet.

Gleichwohl bleibt China auf dem Gebiet der internationalen Sicherheitspolitik ein eher zurückhaltender Akteur. Die hohe Wertschätzung staatlicher Souveränität macht es Peking schwer, im Sicherheitsrat für Sanktionen oder gar die Anwendung von Gewalt zu stimmen, um Bürgerkriegen oder schweren Menschenrechtsverletzungen entgegenzutreten. Diese Haltung gerät jedoch zunehmend mit Chinas Selbstbild einer verantwortungsvollen Macht in Konflikt. In Fällen wie dem Sudan, Nordkorea, Iran oder Libyen hat China dann schließlich doch immer auch Zwangsmaßnahmen mitgetragen, nachdem es zuvor jedoch gemeinsam mit Russland ebenso oft für deren Abmilderung gesorgt hatte. Zu einem aktiven Gestalter der internationalen Sicherheitspolitik ist China bislang nicht geworden; die politische Führung sucht immer noch nach Wegen, die traditionellen Prinzipien der Nichteinmischung mit den neuen Anforderungen an eine globale Ordnungsmacht in Übereinstimmung zu bringen.

Begrenzte militärische Macht


Als das härteste Instrument eines Staates, um seine politischen Interessen durchzusetzen, gilt gemeinhin das Militär. Mit mehr als zwei Millionen Soldaten verfügt die Volksrepublik über die weltweit größten Streitkräfte, deren ständig steigendes Budget (2014 rund 132 Mrd. US-Dollar) und umfangreiches Modernisierungsprogramm seit einigen Jahren Gegenstand einer intensiven internationalen Diskussion sind. Nach Aussage seiner seit fast 20 Jahren veröffentlichten Weißbücher ist die chinesische Sicherheitspolitik strikt defensiv ausgerichtet. Allerdings führen Projekte wie das Flugzeugträgerprogramm, die Entwicklung moderner Anti-Schiffswaffen, der Aufbau einer konventionellen wie nuklearen U-Boot-Flotte, die In-Dienst-Stellung moderner Interkontinentalraketen und nicht zuletzt auch die Weltraumaktivitäten bei den USA wie auch den asiatischen Nachbarn zu Sorgen über mögliche hegemoniale Bestrebungen Chinas.

Dennoch ist das chinesische Militär auf absehbare Zeit als Mittel weitreichender Machtprojektion kaum geeignet – mutmaßlich strebt China dies auch nicht an. Trotz erheblicher Steigerungen liegt der Verteidigungshaushalt seit Jahren konstant zwischen 1,5 und 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, auch sind selbst die modernsten Elemente der chinesischen Streitkräfte den US-amerikanischen, aber auch den japanischen und taiwanischen Fähigkeiten qualitativ und auch quantitativ deutlich unterlegen. Zudem ist Chinas Wirtschaft von langen und verletzlichen Handelswegen durch den Indischen Ozean und die Malakka-Straße abhängig. Diese wären im Falle einer Konflikteskalation durch die chinesischen Streitkräfte nicht zu schützen, aber von den USA und deren Verbündeten rasch zu blockieren. Die von China in Bangladesch, Pakistan, Sri Lanka oder Djibouti (mit-)gebauten Häfen sind in erster Linie Versorgungspunkte, keine strategischen Militärbasen. China hat zudem keine Verbündeten, die gegebenenfalls an seiner Seite in einen bewaffneten Konflikt ziehen würden, und verfügt über keinerlei praktische Erfahrungen in der Führung komplexer militärischer Operationen.

Chinas militärische Optionen bleiben daher neben den konstruktiven Engagements im Rahmen der internationalen Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika und den Beteiligungen an UN-Blauhelmeinsätzen im Wesentlichen auf die innerchinesische Agenda, die Außengrenzen sowie auf die Taiwanfrage und allenfalls noch auf die Inseldispute beschränkt. Auch wenn China gerade in Bezug auf letztere Felder durchaus beachtliche Fähigkeiten zur Abweisung möglicher US-amerikanischer Interventionen geschaffen hat – als wirksames Mittel zur überregionalen Machtprojektion dürfte die Volksrepublik auch künftig mehr auf ihre wirtschaftliche als ihre militärische Kraft setzen.

Außenpolitische Handlungsfelder


In seinen Außenbeziehungen tritt China sowohl auf der regionalen wie auch auf der globalen Ebene vor allem als Wirtschafts- und Handelsmacht auf. Sein Außenhandelsvolumen von mehr als vier Billionen US-Dollar entsprach 2014 mehr als 40 Prozent des chinesischen BIPs. Der hohe Anteil der Exporte (2,34 Billionen US-Dollar) unterstreicht die Abhängigkeit Chinas von seinen Abnehmerstaaten. Zugleich ist China mit Einfuhren im Wert von fast zwei Billionen US-Dollar ein großer Nachfragemarkt für Energie und Rohstoffe, aber auch für europäische und nicht zuletzt deutsche Spitzentechnologie.

Regional ist China in einer Reihe wichtiger, aber eher loser Abkommen und Organisationen vertreten, etwa in der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Asiatisch-Pazifischen Wirtschafts-Kooperation (APEC), den diversen Formaten um die Association of South-East Asian Nations (ASEAN) wie das ASEAN Regional Forum (ARF) oder ASEAN+1 (ASEAN + China) bzw. ASEAN+3 (China, Japan und Südkorea) und schließlich der 2010 gestarteten China-ASEAN Free Trade Area (CAFTA). Diese vornehmlich wirtschaftlichen Zusammenschlüsse bilden eine Art Ausgleich für das weitgehende Fehlen regionaler Foren zur Sicherheitskooperation, in denen etwa die territorialen Dispute verhandelt werden könnten, die China mit einigen seiner vierzehn Nachbarn weiterhin austrägt.

Mit Afrika hat China im Jahr 2000 das Forum on China-Africa Cooperation (FOCAC) ins Leben gerufen, das mit bislang vier im dreijährigen Rhythmus stattfindenden Ministerkonferenzen den Rahmen für eine – in der Praxis dann wiederum stark bilateral geprägte – Kooperation mit praktisch allen afrikanischen Staaten bildet. Während in den USA und Europa, aber auch in Afrika selbst mitunter von einem neuen Kolonialismus chinesischer Prägung gesprochen wird, verweist China auf sein – durchaus beachtliches – Engagement in der afrikanischen Entwicklungszusammenarbeit.

Mit der Europäischen Union (EU) unterhält die Volksrepublik seit 2004 eine "strategische Partnerschaft", trifft sich jährlich zu gemeinsamen Gipfeln mit den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten und unterhält einen Menschenrechtsdialog mit der Union. Allerdings nimmt China die EU nur sehr eingeschränkt als einen wirklichen Akteur im internationalen System wahr und nutzt die vielfältigen Bruchlinien zwischen den europäischen Staaten zum Aufbau von für China günstigen bilateralen Beziehungen mit einzelnen Mitgliedstaaten. Zu einigen von ihnen (etwa zu Deutschland und Frankreich) unterhält China eigene strategische Partnerschaften; im deutschen Fall wurde diese 2010 um das Instrument gemeinsamer Regierungskonsultationen erweitert, die zuletzt im Oktober 2014 in Berlin stattfanden.

Eine hohe wechselseitige Abhängigkeit charakterisiert auch das Verhältnis zu den USA, der wichtigsten Referenzgröße chinesischer Außenpolitik. Die USA sind mit Importen von mehr als 500 Milliarden US-Dollar (2013) der wichtigste Einzelkunde chinesischer Produkte noch vor der EU. Seine riesigen Handelsüberschüsse mit den USA legt China immer wieder in US-Anleihen an. Damit finanziert die Volksrepublik die US-Budgetdefizite mit und sorgt zugleich für eine Liquidität des US-Bankensektors, der dann Kredite an die US-Verbraucherinnen und Verbraucher gewährt, damit diese wiederum chinesische Produkte kaufen können. Trotz dieser engen Verflechtung begegnen beide Länder einander mit unverhohlenem Misstrauen hinsichtlich der jeweiligen strategischen Interessen. Die USA sehen in der Volksrepublik die einzige wirkliche Herausforderung für ihre globale Vormachtstellung, umgekehrt fürchtet China, die USA könnten seinen weiteren Aufstieg durch eine containment-Politik abbremsen.

QuellentextInselstreit im Südchinesischen Meer

Das "Riff zum feurigen Kreuz" hat – wenn man von oben schaut – eher die Form eines Schiffes. Genauer betrachtet: die eines Flugzeugträgers. Fiery Cross Reef dürfte eigentlich auch nicht mehr als Riff bezeichnet werden, denn die Ansammlung von Untiefen und Felsen ist in nur neun Monaten zu einer kompakten Insel-Masse zusammengewachsen. Dank der vielen Schwimmbagger, die permanent Sand aus der Tiefe holen und an den richtigen Stellen aufhäufen.

Bereits im November 2014 war klar, dass die chinesische Regierung als Betreiber dieser Großbaustelle ein ambitioniertes Ziel verfolgt: Die Insel muss mindestens drei Kilometer lang werden – groß genug, um eine Landebahn für die größten und schwersten Flugzeuge der Welt zu schaffen. […]

Seit Monaten verfolgen Experten […], wie immer neue Bauprojekte aus den Wassern des Pazifischen Ozeans emporsteigen. […] [H]inter der Mehrzahl der Bauprojekte im Südchinesischen Meer steckt China. Das Mischief Riff wächst seit Monaten zu einer beeindruckenden Landmasse heran, am Subi Riff entsteht ebenfalls eine Landebahn […]. Im Südchinesischen Meer hat die nächste Phase eines groß angelegten Manövers um Macht und Einfluss begonnen. […]

Die Auseinandersetzung um Besitz und Recht wird zwischen den Anrainern schon seit Jahrzehnten geführt. Meist unter dem Vorwand wissenschaftlicher Forschung oder des Naturschutzes wurden Inselchen besetzt, mit zum Teil abenteuerlichen Methoden befestigt oder bewohnbar gemacht. Sogenannte Forscher oder Grenzbeamte sitzen fast schon wörtlich genommen auf Pfählen im Südpazifik. […]. Legendär die Besetzungsaktionen vor allem der Chinesen, etwa die des Mischief Riffes 1995.

Hintergrund dieser Übungen: ein Wettlauf um Souveränitäts-Ansprüche. Seit den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts überbieten sich die Anrainer des Südchinesischen Meeres mit Besitz-Bekundungen, jede völkerrechtlich relevante Eingabe wird mit einer Gegen-Demarche beantwortet, jeder Anspruch mit einem Protest erwidert.

Ziel dieser zunächst juristischen Scharmützel war es, keine völkerrechtlich relevanten Gewohnheiten oder Ansprüche entstehen zu lassen. Das meiste wird hingenommen, aber nichts darf geduldet werden. "Es reicht, wenn die (Philippinen) gegen Chinas Kontrolle über die Inseln protestieren", sagte der Völkerrechtsprofessor Stefan Talmon in einem Radiointerview, "allein das Wort Protest reicht, um die Erstarkung des chinesischen Anspruchs zu verhindern". Tatsächlich blieb der Konflikt bis auf kleinere Scharmützel friedlich.

China, das mit einer durch neun Striche gezeichneten Linie ("the nine dash line") fast 90 Prozent des Südchinesischen Meeres für sich reklamiert, trifft jetzt aber immer häufiger auf den erbitterten Widerstand Vietnams, der Philippinen, Taiwans und Malaysias – und im Hintergrund der USA. Entweder es geht um seismografische Messungen, Fischfang-Rechte, Öl und Gas – und nun um die offensichtlich militärische Nutzung der Atolle […].

Wer die Luft kontrolliert, kontrolliert die See, wer die Inseln besetzt, der kann Radar, Schiffsabwehr-Raketen und anderes militärisches Gerät installieren. Das Südchinesische Meer ist einer der wichtigsten Schifffahrtswege für den globalen Handel, Indiens Aufstieg in der Welt und Japans Anbindung an die europäischen Märkte hängen davon ab, dass die Routen frei und sicher befahrbar sind.

Die USA, pazifische Schutzmacht der Philippinen und neuerdings auch Vietnams, sprechen das Problem unverblümt an. Der neue Verteidigungsminister Ashton Carter warnte auf seiner ersten Ostasienreise, dass die Baumaßnahmen die Spannungen zwischen Washington und Peking anheizten. […]

Die Regierung in Peking gibt sich derweil ungerührt und beharrt auf ihrer Meinung, wonach die Territorien seit jeher von China kontrolliert würden. Gespräche werden angeboten – aber nicht wirklich ernsthaft geführt. Der Staatenverbund Asean wollte einen Verhaltenskodex ausarbeiten, aber die Verhandlungen dazu kommen nicht voran. […]

Stefan Kornelius, "Besetzt im Namen der Wissenschaft", in: Süddeutsche Zeitung vom 20. April 2015

Fazit


Insgesamt kann festgehalten werden, dass China seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik sein wirtschaftliches und politisches Gewicht in der Welt deutlich vergrößert hat. Gleichwohl dürfte Peking auf die weitere Sicht aber vor allem eine globale Wirtschaftsmacht bleiben, die ihr wachsendes Gewicht zunehmend auch in politischen Einfluss umsetzen wird. Insbesondere im militärischen Bereich und bezüglich umfassender Gestaltungsmöglichkeiten im internationalen System wird China dagegen noch lange vom Status einer etwa mit den USA zu vergleichenden Weltmacht entfernt bleiben. Zweifellos aber hat China das Potenzial, eine prägende Rolle in den internationalen Beziehungen zu spielen und wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auch alles daransetzen, dies zu erreichen. Staats- und Parteichef Xi Jinping hat mit seinem 2013 vorgestellten "chinesischen Traum" deutlich gemacht, dass China eine seiner Bedeutung entsprechende Position in der Welt einnehmen will. Es steht also zu erwarten, dass die Volksrepublik ihre Interessen auch künftig beharrlich und ebenso mit größerer Härte vertreten wird. Zugleich aber ist China angesichts seiner inneren Schwächen und äußerlichen Verwundbarkeiten daran interessiert, gefährliche Konfrontationen, insbesondere mit den USA, zu vermeiden.

Auch wenn China zuerst auf sich selbst und seine innere Entwicklung fixiert bleibt, steht es doch in einer engen Wechselbeziehung mit seiner internationalen Umgebung. Diese verändert einerseits China, andererseits aber verändert China auch die Welt. Kein globales Problem ist mehr ohne Peking zu lösen; ihre fortdauernde Angewiesenheit auf eine stabile Weltordnung verlangt von der Volksrepublik zudem schon aus Eigeninteresse einen zumindest grundlegenden Set internationaler Normen zu befolgen. China ist ein schwieriger, zugleich aber unverzichtbarer Partner der etablierten Mächte bei der Gestaltung einer stabilen internationalen Ordnung.

Fussnoten

Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis ist seit 2011 Deutscher Stellvertretender Dekan am George C. Marshall European Center for Security Studies in Garmisch-Partenkirchen. Seit 2007 lehrt er Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster mit den Schwerpunkten Internationale Organisationen, deutsche und europäische Sicherheitspolitik und Politik Chinas. Er hat das vorliegende Heft konzipiert und seine Erstellung koordiniert. Kontakt: E-Mail Link: svengareis@web.de