Sicherheit – ein komplexes Konzept
Sicherheit ist ein menschliches Urbedürfnis. Dieses im Rahmen einer umfassenden Sicherheitspolitik für seine Bevölkerung zu gewährleisten, ist eine Grundfunktion des modernen Staates. Dass sich die Erfüllung dieser Aufgabe zunehmend schwieriger gestaltet, liegt bereits im Begriff der Sicherheit selbst begründet. Dieser beschreibt keinen fassbaren Gegenstand, sondern ein facettenreiches Konzept, welches individuell-persönliche wie auch kollektive Dimensionen, etwa auf der nationalen bzw. gesellschaftlichen Ebene, aufweist.
Eine Definition von Sicherheit fällt daher schwer. Als Annäherung an dieses komplexe Konzept wird hier Sicherheit als ein Zustand aufgefasst, in welchem Individuen, Gesellschaften oder Staaten meinen, die wichtigsten Risiken und Bedrohungen so existenzieller Güter wie Leben, Gesundheit, Wohlstand, Lebensform oder politisch-kultureller Ordnung mit wirksamen Mitteln kontrollieren bzw. abwehren zu können.
Sicherheit ist also kein statischer Zustand, sondern ein dynamischen Veränderungen unterworfenes Konstrukt, das fortwährend diskutiert und politisch überprüft werden muss. Dies beginnt bei der Frage nach den drängendsten Sicherheitsbedrohungen: Sind es Gesundheitsgefahren, wirtschaftliche Probleme, der transnationale Terrorismus, Russlands Aggression gegen die Ukraine, der Klimawandel oder vielleicht außer Kontrolle geratene Finanz- und Wirtschaftsstrukturen, welche die sozioökonomische Stabilität ganzer Gesellschaften in Frage stellen können? Jede Antwort beruht auf letztlich subjektiven Einschätzungen und Bewertungen, die je nach geografisch, politisch, sozial oder religiös-kulturell geprägter Sichtweise sehr unterschiedlich ausfallen können.
Die kritische Auseinandersetzung mit Sicherheitsrisiken ist deshalb so grundlegend bedeutsam, weil die zur Abwehr einer Bedrohung eingesetzten (Macht-)Instrumente ihre Wirkungen auch auf ganz unterschiedlichen Feldern und Ebenen entfalten: Inwieweit dürfen – auf der innerstaatlichen Ebene – im Zuge der Terrorismusabwehr bürgerliche und Menschenrechte eingeschränkt werden, ohne dass die Prinzipien von Freiheit und Demokratie Schaden nehmen? Unter welchen Bedingungen und zu welchen Zielen ist ein – internationales – militärisches Vorgehen gegen Organisationen wie den "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak vorstellbar, ohne damit den Krieg und die Gewalt in der Region noch weiter zu befeuern? Wie kann Russland Einhalt geboten werden, ohne die europäische Energiesicherheit vor größere Herausforderungen zu stellen?
Sicherheitsfragen führen zumeist in Dilemma-Situationen, in denen es darauf ankommt, Risiken und zu schützende Güter abzuwägen, negative Nebenwirkungen möglichst zu minimieren und unter den beteiligten Akteuren einen größtmöglichen Konsens über das gemeinsame Vorgehen herzustellen. Eindeutige Antworten gibt es gerade in pluralistischen und demokratischen Gesellschaften nur äußerst selten.
Globalisierung als Gestaltungsfaktor internationaler Sicherheit
Neben dieser konzeptionellen Problematik gestalten sich staatliche und internationale Sicherheitspolitik auch deshalb immer schwieriger, weil sich die Entstehung von Risiken und Bedrohungen wie auch deren Bewältigung unter grundlegend veränderten Rahmenbedingungen vollzieht. Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts war die Staatenwelt durch gesicherte Grenzen und eine eingeschränkte bzw. kontrollierte Mobilität von Menschen und Gütern gekennzeichnet. So konnte sie noch die Vorstellung von getrennten Sphären der "inneren" und der "äußeren" Sicherheit aufrechterhalten. Im Inneren waren Verwaltung, Katastrophenschutz, Polizei und Justiz dafür zuständig, die allgemeinen Lebensrisiken der Bevölkerung abzusichern, nach außen hin waren dies vor allem Diplomatie und Militär, die etwa in Westeuropa eine Bedrohung durch militärische Angriffe seitens der Sowjetunion abwehren sollten.
Globales Dorf
Diese klassische Unterscheidung hat unter den Vorzeichen der Globalisierung keinen Bestand mehr. In diesem weltumspannenden Prozess werden eine wachsende Zahl staatlicher und nicht staatlicher Akteure sowie politischer Handlungs- und Problemfelder immer enger miteinander vernetzt. Die Interaktionsbeziehungen zwischen den Akteuren beschleunigen sich rasant, und der räumliche Zusammenhang zwischen dem Eintritt eines Ereignisses und der Entfaltung seiner Wirkungen löst sich zunehmend auf. Dieser Globalisierungsprozess eröffnet Staaten und Gesellschaften ungeahnte Möglichkeiten: Schnellere Kommunikationskanäle und bessere Verkehrsverbindungen führen zu weltweit engeren Handelsbeziehungen und damit zumindest potenziell zu wachsendem Wohlstand, zu vermehrtem kulturellem Austausch und Verständigung. Der Zugang zu globalen Medien und frei verfügbare Informationen vergrößern den Einfluss der internationalen Zivilgesellschaft auf die politischen Prozesse, verbessern die öffentliche Kontrolle staatlichen Handelns und verhelfen kollektiven Gütern wie Menschenrechten, Umweltschutz oder sozialer Gerechtigkeit zu stärkerer globaler Aufmerksamkeit. Die Welt entwickelt sich zunehmend zu einem global village (so der kanadische Philosoph und Geisteswissenschaftler Herbert Marshall McLuhan 1968), dessen Einwohner immer enger aufeinander angewiesen sind.
Neue Risiken und Bedrohungen
Allerdings ist dieses globale Dorf kein romantischer Ort. Wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) bedeutet immer auch Verletzlichkeit, die für Freiheit und Wohlstand unentbehrlichen offenen Wege und Kanäle können auch von kriminellen oder terroristischen Vereinigungen genutzt werden. Zudem sind die Früchte des Globalisierungsprozesses ausgesprochen ungleich unter den Bewohnerinnen und Bewohnern des Weltdorfes verteilt. Die so entstandenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten haben auch eine spürbare Fragmentierung des Internationalen Systems entlang kultureller, religiöser oder ideologischer Bruchlinien bewirkt.
Anstelle einer alles überlagernden militärischen Bedrohung durch einen mächtigen Gegner sehen sich die Staaten heute zumeist mit einem ganzen Bündel direkter und indirekter Risiken konfrontiert, die sich zudem vielfach überlagern und zu immer komplizierteren Szenarien verknüpfen. Die Palette dieser Herausforderungen umfasst Kriege und zerfallende Staaten, den transnationalen Terrorismus und die organisierte Kriminalität, Migrations- und Fluchtbewegungen, die Ausbreitung von Krankheiten und nicht zuletzt Umwelt- und Klimaschäden. Hinzu kommt, dass Entwicklungen und Ereignisse in einem Teil der Welt immer rascher auch Staaten und Gesellschaften in vermeintlich weit entfernten Regionen betreffen. Krieg und Gewalt im Nahen und Mittleren Osten bringen nicht nur existenzielle Not und Vertreibung für die betroffenen Bevölkerungen, sondern ziehen auch zahlreiche Nachbarstaaten in Mitleidenschaft. Die fortbestehenden Entwicklungsdefizite in Teilen Afrikas führen in Verbindung mit der Unfähigkeit vieler Staaten, ihre Bevölkerungen vor den Übergriffen von Terrororganisationen oder Milizen zu schützen, zu Massenflucht und Wanderung in Richtung Europa. Die seit 2008 andauernde globale Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise zeigt, wie massiv und umfassend sich Fehlentwicklungen in einem Sektor dieses eng vernetzten globalen Systems auf praktisch alle anderen Handlungsfelder auswirken. Die immer schnelleren weltumspannenden Verkehrsverbindungen sorgen dafür, dass Infektionskrankheiten wie vor einigen Jahren die Lungenkrankheit SARS oder in jüngster Zeit das Ebola-Virus nicht auf einige lokale Herde begrenzt bleiben, sondern sich schnell auf andere Länder und Kontinente ausbreiten können. Neben der Gefahr regionaler oder gar weltweiter Krankheitsübertragung, sogenannten Pandemien, haben Infektionen mit hohem Verbreitungsgrad Auswirkungen in den Ursprungsländern und -regionen selbst. So werden etwa durch HIV/AIDS oder jüngst durch Ebola in Afrika gesellschaftliche und politische Strukturen zerstört und das wirtschaftliche und soziale Leben kommt zum Erliegen.
Medien bringen Kriege und Katastrophen in Echtzeit ins Bewusstsein der globalen Öffentlichkeit und können so politischen Handlungsdruck in den Hauptstädten und in internationalen Organisationen wie NATO oder UNO auslösen. Es handelt sich um den sogenannten CNN-Effekt, einen Mechanismus, der seine Bezeichnung der Berichterstattung des gleichnamigen US-Nachrichtensenders aus dem kriegsgeschüttelten Somalia zu Beginn der 1990er-Jahre verdankt: Drastische und emotionale Bilder mobilisieren in vielen Staaten die öffentliche Meinung zugunsten internationaler Interventionen und Maßnahmen. Neben die professionellen Nachrichtensender sind längst auch Individuen und Gruppen getreten, die mit Smartphones und Digitalkameras Bilder und Augenzeugenberichte in kürzester Zeit verfügbar machen. Dies verspricht zwar zunächst Authentizität – da mit den modernen Kommunikationsmedien wie Facebook und Twitter jedoch jedermann zum Kriegsberichterstatter in eigener Sache werden kann, wird gerade angesichts der oft weitreichenden Konsequenzen solcher Informationen die Frage nach deren Herkunft und Zuverlässigkeit immer wichtiger.
Erosion staatlicher Souveränität
Die Globalisierung hat auch entscheidenden Einfluss auf die internationale Politik. Dabei wird deutlich, dass die Spielräume einzelner, auch sehr mächtiger Staaten, die Chancen des Globalisierungsprozesses zu nutzen und seine Risiken zu reduzieren, immer enger werden. Dies drückt sich auch in einer fortschreitenden Erosion staatlicher Souveränität aus: Staaten und Regierungen können immer weniger die Folgen und Wirkungen kontrollieren, die äußere Entwicklungen in ihre Territorien hineintragen. Selbst innenpolitisches Handeln kann sich so nicht mehr ausschließlich auf das eigene Staatsgebiet konzentrieren, sondern muss grenzüberschreitende Erfordernisse im Blick behalten.
Da das internationale System aber auch unter den Vorzeichen der Globalisierung bislang keine zentralen politischen Steuerungsmechanismen hervorgebracht hat, obliegt es weiterhin den Staaten, geeignete Strategien für die eigene Sicherheitsvorsorge zu entwickeln. Vor allem aber müssen sie international zusammenarbeiten, um eine globale Sicherheitsordnung zu schaffen und um einem zunehmend breiteren Spektrum schwieriger Problemfelder gerecht zu werden.
Reaktionsmöglichkeiten
Die modernen Risiken sind komplex in ihren Ursachen, Entwicklungen und Wirkungen. Es bedarf daher komplexer Strukturen und Instrumentarien sowohl auf der einzelstaatlichen wie auf der internationalen Ebene, um Herausforderungen angemessen zu analysieren, ihre Ursachen zu bestimmen, Gefährdungspotenziale abzuschätzen und die geeigneten Mittel zu ihrer Bewältigung einzusetzen.
Erweiterter Sicherheitsbegriff
Die vorrangige Verantwortung für die Sicherheitsvorsorge bleibt auch unter den Vorzeichen der Globalisierung bei den Staaten und Regierungen. Ihr langjährig vorherrschendes Verständnis nationaler Sicherheit als militärischer Bedrohungsabwehr wurde allerdings in den vergangenen zwei Jahrzehnten weitgehend durch einen "erweiterten Sicherheitsbegriff" ergänzt, der die oben aufgezeigte Vielzahl neuer Risiken erfasst. In Deutschland geschieht dies seit 2006 unter dem Schlagwort der "Vernetzten Sicherheit", in anderen Ländern unter dem des Whole of Government Approach. Gemeinsam ist ihnen das Anliegen, alle mit der öffentlichen Sicherheitsvorsorge befassten staatlichen (und teils auch zivilgesellschaftlichen) Einrichtungen sowie deren spezifische Instrumente und Fähigkeiten so miteinander zu verbinden, dass komplexe Risiken wirksam kontrolliert und bewältigt werden können – getreu dem Motto: Komplexe Probleme verlangen komplexe Antworten.
Gemeinsam ist den meisten Staaten aber auch die Herausforderung, die je unterschiedlichen Rechtsvorschriften, vor allem aber auch die institutionellen Kulturen und die aus ihnen resultierenden Wahrnehmungen von Sicherheitsproblemen und den Mitteln zu deren Bewältigung zu harmonisieren. Geheimdienste arbeiten anders als die Polizei, das Militär anders als Zivilschutzagenturen. Hinzu kommen bürokratische Hindernisse, Zuständigkeitskonflikte, Kämpfe um Ressourcen und häufig auch das Fehlen einer Instanz, die dieses Zusammenspiel so unterschiedlicher Kräfte koordinieren soll. Bereits auf der nationalen Ebene fällt es schwer, ein schlüssiges Bild von Sicherheitsrisiken und den Erfordernissen zu ihrer Bewältigung zu entwerfen.
Multilaterale Kooperation
Wenn die drängendsten Sicherheitsrisiken nicht nur grenzüberschreitender, sondern zunehmend globaler Natur sind, müssen die Staaten entsprechende Formen und Foren zur Zusammenarbeit finden. Unter dem Begriff "Multilateralismus" hat sich ein Handlungsmuster der internationalen Politik herausgebildet, nach welchem Staaten ihre nationalen Politiken auf der Grundlage gemeinsamer Regeln und Prinzipien wie Gewaltfreiheit oder Gleichberechtigung miteinander koordinieren. Dabei gehen sie auch von gemeinsamen Wertvorstellungen aus, etwa bei den Menschenrechten, im Umweltschutz oder bei sozioökonomischen Standards. Im Gegensatz zum Unilateralismus, nach welchem insbesondere die mächtigeren Staaten ihre partikularen Anliegen im Alleingang durchsetzen wollen, sind für multilaterale Ansätze die gemeinsamen Interessen der beteiligten Staaten entscheidend. Hinter diese müssen dann im Falle des Falles auch kurzfristige nationale Gewinnerwartungen zurücktreten. Ein funktionierender oder effektiver Multilateralismus beweist sich zudem darin, dass kollektive Maßnahmen und deren Ergebnisse zumindest von den meisten Beteiligten auch akzeptiert werden. Indem es willkürliches Handeln einzelner Staaten zulasten anderer reduziert, stellt ein multilaterales Vorgehen in einer von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt eine wesentliche Quelle der Legitimation politischen Handelns dar. Dies ist gerade auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik entscheidend, in dem einseitig formulierte Sicherheitsinteressen immer wieder zu Kriegen und dramatischen Folgen auch für zunächst unbeteiligte Staaten und Gesellschaften führen.
Wichtige Foren, in denen multilaterale Sicherheitspolitik gestaltet wird, sind internationale Organisationen. Diese basieren in der Regel auf einem völkerrechtlichen Vertragswerk mit bindenden Normen und formalisierten Verfahren der Entscheidungsfindung. Zudem verfügen sie oft über einen institutionellen Apparat, welcher der jeweiligen Organisation ein mehr oder minder hohes Maß an eigenen operativen Fähigkeiten im internationalen System verleiht. Die wichtigste dieser Organisationen auf der globalen Ebene bilden die Vereinten Nationen (UNO) mit ihrem Sicherheitsrat, der Friedensbedrohungen feststellen und sanktionieren kann. Zudem gibt es kaum ein internationales Problem, für das die UNO nicht Zuständigkeiten besäße und – zumindest in Ansätzen – auch Lösungswege aufzeigen könnte. Aber auch im Verteidigungsbündnis NATO, in der EU und in regionalen Staatenzusammenschlüssen wie der Afrikanischen Union (AU) oder der Gemeinschaft südostasiatischer Staaten (ASEAN) gibt es Mechanismen und Verfahren, um gemeinsame Risiken festzustellen und Strategien zu ihrer Bewältigung zu entwickeln. Allerdings sind internationale Organisationen immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass sich nicht alle Mitglieder an die vereinbarten Regeln halten und einzelne immer wieder versuchen, ihre Interessen auf Kosten der anderen durchzusetzen. Auch die verlässliche Mitwirkung an gemeinsamen Beschlüssen und Maßnahmen lässt oft zu wünschen übrig. Internationale Organisationen können die Mitgliedstaaten und deren Verantwortung für die internationale Sicherheit nicht ersetzen. Sie können aber helfen, einzelstaatliche Willkür zu reduzieren und nach kollektiven Lösungsansätzen zu suchen.
QuellentextWorum geht es beim Ringen um die neue Weltordnung?
Dass sich der Fokus der großen Mächte auf die Lenkung und Überwachung der Flüsse von Kapital, Information und anderen Gütern verschieben würde, diese Tendenz ist für das 21. Jahrhundert seit Längerem prognostiziert worden. Man hatte freilich damit gerechnet, dass sich die Verschiebung der weltpolitischen Gewichte weitgehend auf dem Feld der Wirtschaft abspielen und kriegerischen Auseinandersetzungen nur eine marginale Rolle zukommen würde. Das dürfte eine allzu optimistische Prognose gewesen sein.
Der Krieg im Osten der Ukraine könnte stattdessen für eine Rückkehr des Krieges in das Ringen um die weltpolitische Ordnung sprechen; in ihm geht es noch einmal um die Verfügung über Territorien. […]
Zurzeit setzen […] [die Europäer] darauf, dass der Gebrauch militärischer Macht durch den Einsatz wirtschaftlicher Macht blockiert werden könne. Das Problem ist freilich, dass diese beiden Machtsorten unterschiedlichen Zeitregimen unterliegen: Militärische Macht zeitigt kurzfristige Effekte, wirtschaftliche Macht entfaltet ihre Wirkung über längere Zeiträume. Militärische Macht verhindert eher, als dass sie gestaltet; wirtschaftliche Macht kann Entwicklungen gestalten, aber einen Gegenspieler nicht kurzfristig ausschalten. […]
[…] Die Messlatte […] [der] herkömmlichen Landimperien war das kontrollierte Territorium. Im Vergleich dazu ist das imperiale Projekt der USA auf die Kontrolle von Strömen angelegt: Strömen von Kapital und Informationen, Gütern und Dienstleistungen, Rohstoffen und Personen. Nicht um die Inbesitznahme eines strategisch wichtigen Stücks Boden geht es dabei, sondern um die Kontrolle und Steuerung eines Gesamtzusammenhangs.
Globale Überwachungs- und Spähprogramme sowie Flugzeugträger und Kampfdrohnen sind dafür wichtiger als Panzer und Raketenwerfer. Insofern sind einige der Kriege und Konflikte, die uns zurzeit beschäftigen, auch Auseinandersetzungen um die Frage, welche Art von Ordnung im 21. Jahrhundert dominant sein wird: die Kontrolle von Territorien und die Verfügung über Grenzen oder die Kontrolle und Beeinflussung des Fluiden und sich permanent Verändernden. Mit der Alternative zwischen der Kontrolle des Festen und des Fluiden als Grundlage der Weltordnung ist auch die Reichweite der je geltend gemachten Werte und Normen verbunden: Wer sich auf Territorien beschränkt, kann seine Normansprüche räumlich begrenzen; wer aufs Fluide setzt, muss auf universellen Werten bestehen […].
[…] Allerdings ringen […] [in den USA] beide geopolitischen Schulen noch miteinander um die Vorherrschaft, die der Territorien und die des Fluiden. […]
In deren Logik sind Herausforderungen wie die durch Al-Kaida, Boko Haram in Teilen Afrikas sowie jetzt durch die IS-Milizen in Syrien und im Irak viel gefährlicher und folgenreicher als das aus dieser Sicht antiquierte Vorgehen Putins; Al-Kaida, der IS und ihresgleichen sind Konkurrenten um die Kontrolle des Fluiden: Sie sind für die USA gefährlich, weil sie analogen Denk- und Handlungsmodellen folgen.
Fasst man die Entwicklung des Dschihadismus vom ersten Afghanistankrieg (dem der Mudschahedin gegen die Rote Armee) bis zu den jüngsten Kämpfen in Syrien und im Nordirak zusammen, so haben wir es mit einem neuen Typus der "internationalen Brigaden" zu tun, die sich mal hier, mal dort konzentrieren, Territorien erobern und zeitweilig kontrollieren, deren Existenz aber nicht an der Gebietskontrolle hängt, sondern die sich jederzeit ins Fluide auflösen können, um dann an anderer Stelle erneut feste Gestalt anzunehmen. Folgenreich verwundbar sind diese neuen Gewaltakteure für die USA nur dort, wo sie eine territoriale Gestalt angenommen, sich also verkörperlicht haben, denn nur dann lassen sie sich mit militärischen Mitteln attackieren. […]
Ansonsten führen […] [die USA] einen permanenten Krieg gegen diese Organisationen mit Kampfdrohnen. Schon jetzt ist dies ein tendenziell global angelegter Krieg, der eher einer Polizeiaktion als dem klassischen Duell ähnelt. […]
Das, was wir als Krieg bezeichnen, stellt sich inzwischen vielgestaltiger dar als noch vor Jahrzehnten. Die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg oder zwischen Staaten- und Bürgerkrieg haben ihre orientierende Kraft verloren. Sie sind analytisch nicht bedeutungslos, aber die Mehrzahl der Kriege, mit denen wir es heute zu tun haben, sind Hybride zwischen diesen Unterscheidungen oder sind Neuformatierungen der Gewalt, die sich diesen Begriffen entziehen.
Über kurz oder lang wird das auch für das Kriegsvölkerrecht Folgen haben. Das Insistieren auf einer Rechtsordnung, die durch die Erfahrung der beiden Weltkriege geprägt ist, wird für die Regulation und Begrenzung der Gewalt in den neuen Weltordnungskonflikten nicht mehr genügen. Das Ringen um die neue Weltordnung ist darum auch ein Ringen um die Regeln, die dabei zu beachten und einzuhalten sind. […]
Herfried Münkler, "Soldat ohne Staat", in: DIE ZEIT Nr. 39 vom 18. September 2014
QuellentextStresstest für die globale Sicherheitsarchitektur
[…] [W]as sind […] die "Spielregeln des 21. Jahrhunderts"? Sind sie […] klar definiert? Und haben sie sich so beträchtlich gegenüber früheren Zeiten verändert – oder haben wir es mit Kontinuitäten aus verschiedenen Epochen zu tun?
Als der Kalte Krieg mit dem Fall der Mauer für beendet erklärt wurde, herrschte im Westen Siegestaumel. Francis Fukuyama diagnostizierte das "Ende der Geschichte" und den endgültigen Sieg der liberalen Demokratie. Tatsächlich waren die neunziger Jahre durch eine Welle der Demokratisierung hauptsächlich in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes gekennzeichnet. Die USA erlebten ihren unipolaren Moment als "Hyperpower" ohne wirkliche Konkurrenz, der sie zum Versuch verleitete, durch "regime change" auch eine Demokratisierung des Iraks und womöglich des gesamten Nahen und Mittleren Ostens und Afghanistans herbeizuführen. Noch die späteren Aufstände in vielen arabischen Ländern wurden zunächst als eine Art arabisches 1989 interpretiert, das die arabischen Diktaturen ähnlich den zentraleuropäischen Staaten auf den Weg der Demokratie bringen würde. Endlich, glaubte man, habe auch in der arabischen Welt der mühsame, aber letztlich unvermeidliche Aufbruch in eine Epoche der Demokratie und Entwicklung begonnen. Allerdings: Weder war, wie wir heute wissen, die Demokratisierung per regime change und Nation-Building im Irak und in Afghanistan sonderlich erfolgreich. Noch erwiesen sich die arabischen Aufstände als Beginn eines demokratischen Frühlings. […]
Das vergangene Jahrzehnt ist gekennzeichnet durch den Aufstieg von Mächten, die dem westlichen liberalen System nichts abgewinnen können. Als wirtschaftlich erfolgreiche autoritäre Macht setzt China das Modell "Demokratie mit Marktwirtschaft" unter Druck, weil seine weniger komplexen Entscheidungsstrukturen schnellere und flexiblere Reaktionen erlauben, als dies in einer konsens-basierten westlichen Ordnung möglich ist.
Wladimir Putin stellt sich sein Russland als Kernland einer "konservativen Revolution" vor, als ideologischen Gegenpol zu den westlichen Werten des Liberalismus, der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Integration auf der Grundlage freier Entscheidungen. Mit China, Russland und dem politischen Islam sind in den vergangenen Jahrzehnten drei ideologische Herausforderer herangewachsen, die das westliche Modell nicht nur nicht teilen, sondern unter Berufung auf eine eigene, glorreiche Geschichte unter Druck setzen. Ist Geschichte also wirklich nur etwas Vergangenes, heute nicht mehr Gültiges?
"Für Amerikaner mag Geschichte oder Geografie nicht von allzu großer Bedeutung sein", schrieb Aaron Miller jüngst in Foreign Policy. Aber andere Nationen knüpften ihre politische Identität "an nationale Ehre und Würde, an Relikte einer längst vergessenen Welt. Man muss nur Iraner, Palästinenser, Ägypter, Israelis, Türken oder Russen fragen, ob sie unsere fortschrittliche Welt so wunderbar finden wie wir." Wie zur Antwort schrieb der russische Autor Viktor Jerofejew in der FAZ: "Wer sagt denn, dass wir in Russland uns um die Zeitrechnung scheren? Wir leben im 21. Jahrhundert und im 17. Jahrhundert gleichzeitig."
Vielleicht ist das 21. Jahrhundert dem 19. Jahrhundert ähnlicher, als wir uns eingestehen. Niemand hätte noch im Sommer 1913 geglaubt, dass ein Krieg diese wirtschaftlich so dicht wie noch nie verknüpfte Welt "entknüpfen" und in eine Katastrophe stürzen könnte. Doch gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten waren eben kein Bollwerk gegen Nationalismus, kein Schutz vor einem unstillbaren Durst nach Heroismus, keine Absicherung gegen die Verstrickungen von Geschichte und Identitätspolitik. Nun verfügte das 19. Jahrhundert nicht über die supranationalen Institutionen des 20. und 21. Jahrhunderts. Aber können wir heute sicher sein, dass unsere Sicherheitsarchitektur trägt?
Wir haben keine Antwort auf die Frage, wie wir mit Akteuren umzugehen haben, die die Verknüpfung der Globalisierung nutzen, aber sich nicht an Regeln halten, die weitgehend vom Westen aufgestellt wurden – oder die aus nationalistischen Motiven heraus sich mit Bedacht "entknüpfen". Es ist nicht ausgemacht, ob es nicht allein der Westen ist, der im 21. Jahrhundert lebt.
Shimon Stein und Sylke Tempel, "Helden brauchen keine Regeln", in: DIE ZEIT Nr. 24 vom 5. Juni 2014
Fazit
Internationale Sicherheit bleibt ein schwieriges Politikfeld, das hohe Anforderungen an alle beteiligten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure stellt. Nationale Egoismen und Interessen sind weiterhin dominante Orientierungsmarken für die Politik von Staaten, sie sind aber den Erfordernissen einer globalisierten Welt immer weniger angemessen. Das globale Dorf, das trotz seiner vielen Unterschiede stetig enger zusammenwächst, kann den Bedrohungen seiner Sicherheit letztlich nur gemeinsam entgegentreten.