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1880 bis 1914 | Das 19. Jahrhundert | bpb.de

Das 19. Jahrhundert Editorial 1800 bis 1850 1850 bis 1880 1880 bis 1914 Karten Literaturhinweise Impressum

1880 bis 1914

Prof. Dr. Jürgen Osterhammel Jürgen Osterhammel

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Zur Jahrhundertwende steigt in Europa der Wohlstand. Der weltweite Warenhandel erreicht seinen Höhepunkt, ebenso die interkontinentale Migration. Von beiden profitieren vor allem die USA, die zur größten Wirtschaftsmacht aufsteigen. Imperialismus, Sendungsbewusstsein und Rassismus sorgen für die Ausweitung des Kolonialismus, an dem sich nun auch die neue Großmacht Japan beteiligt. Auf internationaler Ebene fördert der Nationalismus staatliche Egoismen und wechselseitiges Misstrauen. Deutschland treibt er in die außenpolitische Isolation.

Auswanderer aus Österreich-Ungarn bei der Abreise in Triest auf einem Schiff der Austro-Americana (© Wikimedia)

Deutschland 1880-1914

Politik im Kaiserreich

Es ist nicht leicht, die Gesamtperiode des Kaiserreichs (1871-1914/18) durch eine eindeutige Zwischenzäsur zu teilen. In der politischen Geschichte bedeutete der Sturz Bismarcks 1890 einen Einschnitt. Auch die deutsche Außenpolitik veränderte danach ihren Charakter. In Wirtschaft und Gesellschaft hingegen waren die 1880er-Jahre insgesamt eine Übergangszeit: in vielerlei Hinsicht Deutschlands Eintritt in die „Moderne“. Die Reaktionen in den Künsten und Geisteswissenschaften auf diese Veränderungen fanden großenteils erst in den 1890er-Jahren statt.
Die Innenpolitik des Kaiserreichs wurde von Beginn an in ungewöhnlich hohem Maße von Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck bestimmt. Bismarck war zugleich von 1862 bis 1890 Ministerpräsident von Preußen und daher während dieses gesamten Zeitraums die prägende politische Persönlichkeit in Deutschland. Das Amt des Reichskanzlers war auf Bismarcks Politikverständnis zugeschnitten. Da der Reichskanzler nicht wie ein britischer Premierminister oder ein französischer Ministerpräsident unter der Dritten Republik (die seit 1875 „funktionierte“) von einer Mehrheit im Parlament abhängig war, hatte er von schlechten Wahlergebnissen keine unmittelbar fatalen Folgen für seine politische Karriere zu befürchten. Diese quasi-diktatorische Position hing aber am seidenen Faden des kaiserlichen Vertrauens. Kaiser Wilhelm I. hielt bis zu seinem Tod 1888 an Bismarck fest. Sein Enkel, der junge Kaiser Wilhelm II., entließ den „Eisernen Kanzler“ im Jahre 1890. Mit monarchischer Rückendeckung hatte der Reichskanzler einen immensen Handlungsspielraum. Dennoch musste er zusehen, sich eine Machtbasis in den Institutionen zu sichern. Im Reichstag brauchte er Mehrheiten für die Verabschiedung des Haushalts und der Gesetze. Mit den Einzelstaaten musste er in einem föderalen System den ständigen Ausgleich suchen. In Deutschland war eine in hohem Maße dynamische Gesellschaft entstanden, die sich nicht länger nach altpreußischer „Gutsherrenart“ regieren ließ. Im außerparlamentarischen Raum formierten sich erstmals Verbände und Interessengruppen, etwa der Industrie und der Großagrarier. Eine wichtige neue Macht war die Presse. Mit all seinen Künsten der Einschüchterung und Manipulation vermochte Bismarck sie doch nicht unter Kontrolle zu halten. Die Öffentlichkeit wurde für Politiker immer unberechenbarer. Im Kaiserreich hatte Politik erstmals mit den schwankenden Stimmungen der öffentlichen Meinung zu rechnen. Teils ließ sie sich instrumentalisieren und mobilisieren, teils trat sie von sich aus mit Forderungen an die Politik heran.

Ergebnisse der Reichstagswahlen von 1871 bis 1912 (Mandate und Stimmenanteile in %)

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichig.

Selbst ein Kanzler von solch autoritärem Habitus wie Bismarck bewegte sich daher in einem Umfeld unablässiger politischer Bewegung, die er nicht restlos dominieren konnte. Zum Zeitpunkt seiner Entlassung war die Unterstützung für Bismarck bereits prekär geworden. Keiner seiner Nachfolger erreichte die Statur des ersten Reichskanzlers. In dem Vierteljahrhundert zwischen Bismarcks Entlassung und dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurden die Machtverhältnisse in Deutschland komplizierter. Schwächeren Kanzlern stand ein allmählich erstarkender Reichstag gegenüber. Bei der Reichstagswahl 1890 vereinigte die SPD die meisten Wählerstimmen auf sich; 1912 wurde sie zur stärksten Kraft im Parlament. Ein unabhängiger Machtfaktor blieb das Militär, das nur dem kaiserlichen „Obersten Kriegsherrn“ unterstand. Nach seinen Siegen in den drei „Einigungskriegen“ zwischen 1864 und 1871 genoss es höchstes Prestige. Während der langen Friedenszeit nach 1871 hielt es seine Stellung durch die allgemeine Wehrpflicht aufrecht, die für die meisten Rekruten drei Jahre betrug und zu einem der wichtigsten Integrationsinstrumente der deutschen Gesellschaft wurde. Ein weiteres Machtzentrum war der Kaiserhof. Wilhelm II. hielt sich weniger diskret im Hintergrund als seine beiden Vorgänger. Obwohl keine allgemein verehrte Persönlichkeit wie sein Großvater Wilhelm I., war er in der Öffentlichkeit präsent und mischte sich immer wieder, oft mit bizarren Alleingängen, in die Politik ein. Man kann das politische System des Wilhelminismus (1890-1914) als ein konfliktreiches Zusammenspiel mehrerer Machtfaktoren charakterisieren, von denen keiner die eindeutige Oberhand gewann, auch nicht Kaiser oder Reichskanzler.
Zwei längerfristige Entwicklungen in der deutschen Politik fallen besonders ins Gewicht: die Mobilisierung durch Kampagnen sowie der langsame Aufbau des Interventionsstaates. Kampagnen gingen zumeist von der politischen Rechten aus. Sie vertrat einen im Ton immer schärfer werdenden Nationalismus. Nachdem 1871 die nationale Einheit erreicht und am Ende der 1870er-Jahre der institutionelle Aufbau des Reiches weitgehend abgeschlossen war, suchte sich der Nationalismus neue Ziele. Zunehmend trat die aggressive Abgrenzung nach außen in den Vordergrund. Deutschland, so hieß es, müsse sich einen „Platz an der Sonne“ ertrotzen und erkämpfen. Von diesem Geist war die Kampagne für den Aufbau einer deutschen Schlachtflotte getragen, die 1898 begann. Der wichtigste Initiator dieser Pläne, der Staatssekretär im Reichsmarineamt Admiral Al-fred von Tirpitz (1849-1930), konnte sein Ziel mit Hilfe breiter öffentlicher Begeisterung erreichen. Bis 1913 brachte es der „Flottenverein“ auf 1,1 Millionen Mitglieder; sein tatsächliches Unterstützungspotenzial war angesichts der enormen Bedeutung militärischer Werte in der deutschen Gesellschaft noch größer. Kriegervereine und nationalistische Agitationsverbände waren um die Jahrhundertwende keine ausschließlich deutsche Besonderheit. In Deutschland aber gab es einen „Radikalnationalismus, dem das Widerlager starker liberaler, demokratischer Gegenkräfte fehlte“ (Hans-Ulrich Wehler).
Weniger auffällig verlief der Ausbau des Interventionsstaates, bei dem Deutschland anderen europäischen Ländern vorauseilte. In der Tradition des reglementierenden Obrigkeitsstaates der Vormoderne reagierte der Staat mit neuen Mitteln auf die Herausforderungen der entstehenden Industriegesellschaft. Bereits unter Bismarck war zwischen 1883 und 1889 eine für große Teile der Arbeiterschaft verpflichtende Kranken-, Unfall- sowie Invaliditäts- und Altersversicherung eingeführt worden. Dieses Sozialversicherungssystem wurde bis zum Weltkrieg auf immer weitere Bevölkerungskreise ausgedehnt. Es bedeutete einen großen sozialen Fortschritt, auch wenn die Leistungen gering blieben, eine Arbeitslosenversicherung fehlte und die Rechtsstellung von Arbeitnehmern und Gewerkschaften kaum gesichert wurde. Während des gesamten Kaiserreichs stieg der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt („Staatsquote“) von etwa 3 Prozent kontinuierlich auf etwa 15 Prozent (heute ca. 46 Prozent). Nach der Verstaatlichung der anfangs oft privat gegründeten Eisenbahnen wurde der Staat (auf den Ebenen von Reich, Bundesstaaten und Kommunen) auch zu einem bedeutenden Eigentümer. Erstmals trat die öffentliche Hand als gewichtiger Faktor im Wirtschaftsleben auf.

QuellentextMilitarismus in Preußen

[...] Aus den Einigungskriegen ging die Armee, [...] mit einem Glorienschein hervor. Ihr Anteil an der Gründung des neuen Deutschlands wurde während der Kaiserzeit mit den Feierlichkeiten zum Sedanstag gewürdigt, der an den Sieg über Frankreich erinnerte. [...] Die militärischen Präsentationen in Form von Paraden, Marschkapellen und Manövern wurden penibel einstudiert. Militärangehörige bekamen bei fast allen öffentlichen Anlässen Ehrenplätze. Und militärische Bildung und Symbole drangen sogar in die Privatsphäre ein: Die [...] Uniform wurde, selbst an freien Tagen, voller Stolz getragen; militärische Insignien und Medaillen wurden als Andenken an verstorbene Angehörige aufbewahrt. Der Dienst als preußischer Reserveoffizier – um 1914 gab es rund 120 000 – war in die bürgerlichen Gesellschaft ein begehrtes Statussymbol [...]. Schulkinder in Garnisonsstädten sangen Kriegslieder und marschierten auf den Spielplätzen. Ehemalige Militärangehörige traten in Scharen in die rasch wachsenden Veteranenverbände und Militärvereine ein; bis 1913 zählte der Kyffhäuserbund, die zentrale Organisation der Veteranenverbände in Deutschland, gut 2,9 Millionen Mitglieder.
Mit anderen Worten, das Militär drang nach 1871 immer tiefer in das Alltagsleben ein. Was diese Tatsache konkret zu bedeuten hat, ist allerdings keineswegs so offensichtlich. Nach Ansicht einiger Historiker vertiefte die Militarisierung der preußisch-kaiserlichen Gesellschaft die Kluft zwischen Deutschland und den westeuropäischen Staaten, unterdrückte die kritischen und liberalen Energien der Zivilgesellschaft, bewahrte eine hierarchisch geordnete Gesellschaft und trichterte Millionen Deutschen politische Ansichten ein, die reaktionär, chauvinistisch und ultranationalistisch zu nennen waren. [...]
[Doch] darf man nicht außer Acht lassen, dass die deutsche Friedensbewegung damals einen so starken Zulauf hatte wie in keinem anderen Land. Am Sonntag, dem 20. August 1911, versammelten sich 100 000 Menschen zu einer Friedenskundgebung in Berlin, um gegen die riskante Politik der Großmächte während der Marokkokrise zu demonstrieren. Im Spätsommer kam es zu einer Welle ähnlicher Kundgebungen in Halle, Elberfeld, Barmen, Jena, Essen und anderen deutschen Städten. Den Höhepunkt bildete eine Mammutveranstaltung in Berlin am 3. September, als sich 250 000 Menschen im Treptower Park drängten. In den Jahren 1912/13 ebbte die Bewegung ein wenig ab, doch Ende Juli 1914, als der Krieg eindeutig bevorstand, wurden wiederum große Friedenskundgebungen in Düsseldorf und Berlin veranstaltet. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte keineswegs, wie für gewöhnlich behauptet wird, mit einhelliger Begeisterung auf den Krieg. Im Gegenteil: In den ersten Augusttagen 1914 war die Stimmung gedrückt, ambivalent und an manchen Orten ängstlich.
„Militarismus“ war überdies ein diffuses und intern gespaltenes Phänomen. Man muss klar unterscheiden zwischen den im Wesentlichen aristokratischen und konservativen Moralvorstellungen des preußischen Offizierskorps und den sehr unterschiedlichen Identitäten und Bindungen, die mit dem „Militarismus der kleinen Leute“ verknüpft waren. Der legendäre Standesdünkel der preußischen Offizierskaste und ihre Geringschätzung für zivile Wertvorstellungen und Normen waren ein Extrakt des alten Geistes der Exklusivität des ostelbischen Adelsstandes, vermischt mit der Abwehrhaltung [...] einer sozialen Gruppe, die auf ihre traditionelle Vorherrschaft nicht verzichten wollte. Im Gegensatz dazu waren die Moralvorstellungen vieler Veteranenvereine plebejisch und egalitär. [...] „Von unten“ betrachtet, war das Entscheidende am Militär nicht die Ehrerbietung zwischen den Rängen, sondern die Gleichheit unter den Männern, die gemeinsam Dienst taten.

Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang; 1600-1947. Übersetzung: Richard Barth / Norbert Juraschitz / Thomas Pfeiffer © 2007, Deutsche-Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, S. 684 ff.

QuellentextFlottenrüstung und deutsch-englische Konkurrenz

[...] Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst in einer undatierten Aufzeichnung, die vermutlich für einen Immediatvortrag beim Kaiser am 5. Januar 1896 vorgesehen war [...]:
Die Entwicklung des deutschen Handels bringt es mit sich, daß dadurch die Eifersucht anderer handeltreibender Völker erregt wird. Das ist zu bedauern, läßt sich aber nicht ändern. Nun haben wir uns bisher bemüht, mit allen Mächten die friedlichsten Beziehungen aufrecht zu erhalten, und dies ist uns auch gelungen. Das kann sich aber ändern, und es ist nicht zu leugnen, daß eine Verschlechterung dieser Beziehungen eintreten kann. Wollen wir uns nicht in allem fügen und auf die Rolle einer Weltmacht verzichten, so müssen wir geachtet sein. Auch das freundlichste Wort macht in internationalen Verhandlungen keinen Eindruck, wenn es nicht durch eine ausreichende Macht unterstützt wird. Dazu ist den Seemächten gegenüber eine Flotte nötig.

Aus: Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten aus der Reichskanzlerzeit, hrsg. von Karl Alexander von Müller, Stuttgart und Berlin 1931, S. 151 f.

[...] [I]n der Begründung zum 2. Flottengesetz [von 1900] hieß es:
Unter den gegebenen Umständen gibt es nur ein Mittel, um Deutschlands Handel und Kolonien zu schützen: Deutschland muß eine Flotte von solcher Stärke haben, daß selbst für die größte Flotte [gemeint war England – Anm. d. Red.] ein Krieg mit ihm ein solches Risiko in sich schließen würde, daß ihre eigene Überlegenheit gefährdet wäre. [...]

Aus: Walther Hubatsch, Der Kulminationspunkt der deutschen Marinepolitik im Jahre 1912, in: Historische Zeitschrift, Bd. 176, 1953, S. 72 f.

[...] Artikel der englischen Zeitung Saturday Review vom 11. September 1897 […] zum Gegensatz zwischen England und Deutschland [...]:
Auf die Länge beginnen auch in England die Leute einzusehen, daß es in Europa zwei große unversöhnliche, entgegengesetzte Mächte gibt, zwei große Nationen, welche die ganze Welt zu ihrer Domäne machen und von ihr den Handelstribut erheben möchten. England, mit seiner langen Geschichte erfolgreicher Aggression und der wunderbaren Überzeugung, daß es beim Verfolg seiner eigenen Interessen Licht unter den im Dunkeln wohnenden Völkern verbreite, und Deutschland, Fleisch vom selben Fleisch und Blut vom selben Blut, mit geringerer Willenskraft, aber vielleicht lebhafterer Intelligenz, wetteifern in jedem Winkel des Erdballs. ... Überall, wo die Flagge der Bibel und der Handel der Flagge gefolgt ist, liegt ein deutscher Handlungsreisender mit dem englischen Hausierer im Streit. [...]
Eine Million geringfügiger Streitigkeiten schließen sich zum größten Kriegsgrund zusammen, welchen die Welt je gesehen hat. Wenn morgen Deutschland ausgelöscht würde, gäbe es übermorgen keinen Engländer in der Welt, der nicht um so reicher geworden wäre. [...]

Aus: Saturday Review v. 11.9.1897, zit. nach: William L. Langer, The Diplomacy of Imperialism 1890-1902, New York 1935, S. 437

Bernhard von Bülow, [...] zu dieser Zeit [...] Außenminister [...] und später, von 1900 bis 1909 [...] Reichskanzler [...] 1916 in der Rückschau auf diesen Artikel [...]:
Im Herbste 1897, wenige Wochen nach meiner Übernahme der Geschäfte des Auswärtigen Amtes, brachte die „Saturday Review“ jenen berühmten Artikel, der in der Erklärung gipfelte, daß, wenn Deutschland morgen aus der Welt vertilgt würde, es übermorgen keinen Engländer gäbe, der nicht um so reicher sein würde, und der mit den Worten schloß: „Germaniam esse delendam“. Zwölf Jahre später erklärten anläßlich meines Rücktritts zwei große und nicht besonders deutschfreundliche englische Blätter, daß die Stellung Deutschlands eine größere und stärkere sei, als sie seit dem Rücktritt des Fürsten Bismarck je gewesen wäre.
[...] Während dieser Jahre haben wir durch den Bau unserer Flotte den vollen Übergang zur Weltpolitik vollzogen. Unser Aufstieg zur Weltpolitik ist geglückt. [...]

Aus: Fürst Bernhard von Bülow, Deutsche Politik, Berlin 1916, S. 129 f.
In: Manfred Görtemaker, Deutschland im 19. Jahrhundert, 5. durchgeseh. Aufl., Opladen: Leske+Budrich 1996, S. 362, mit freundlicher Genehmigung der Springer Science and Business Media



Deutschland in Weltpolitik und Weltwirtschaft

Dass 1871 mitten in Europa ein militärisch und wirtschaftlich starker, ein seinen kontinentalen Nachbarn überlegener großer Einheitsstaat entstand, bedeutete eine geopolitische Revolution. Die Mitte Europas war in der Geschichte immer staatlich fragmentiert gewesen. Die Gründung des Deutschen Reiches war gegen Österreich und Frankreich militärisch durchgesetzt und von den anderen beiden Großmächten, Russland und Großbritannien, hingenommen worden. An so etwas wie europäische Integration war zur damaligen Zeit nicht zu denken. Außenpolitik war nach dem Ende des Wiener Systems (siehe oben S. 16 ff.) Anfang der 1850er-Jahre mehr denn je ein Machtspiel zwischen souveränen Staaten, die sich gegenseitig belauerten und zwischen denen trotz der verwandtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Herrscherhäusern so etwas wie „Freundschaft“ keine Rolle spielte.
Bismarck betrieb während seiner gesamten Kanzlerschaft Außenpolitik als Chefsache. Auf diesem Gebiet genießt er auch bei seinen zahlreichen Kritikern nach wie vor ein hohes Maß an Anerkennung. Bismarck verband strategische Ziele mit taktischer Finesse. Er war kein zweiter Napoleon, der ein kontinentales Großreich errichten wollte. Den neuen Nationalstaat sah er als „saturiert“ an. Weitere Territorialgewinne auf Kosten der Nachbarn wurden nicht angestrebt. Zentral für Bismarcks außenpolitisches „System“ war die unterschiedliche Behandlung der unterlegenen Kriegsgegner. Österreich-Ungarn wurde zum wichtigsten Verbündeten des Deutschen Reiches, Frankreich hingegen, wegen der erzwungenen Abtretung von Elsass-Lothringen 1871 tief getroffen und unversöhnlich, blieb der Hauptgegner und musste um jeden Preis diplomatisch isoliert werden. Bismarck trieb ein raffiniertes Spiel der – teilweise geheim gehaltenen – Abkommen und Verträge, die jeweils eine ganz unterschiedliche Verbindlichkeit hatten. Mit Russland gab es eine relativ lose Verbindung, mit Großbritannien trotz dynastischer Nähe (Wilhelm II. war ein Enkel von Queen Victoria) überhaupt keine Bündnisbeziehungen.
Bismarck betrieb Außenpolitik über bloße Nachbarschaftspolitik hinaus. Auf dem Berliner Kongress (1878) und auf der Berliner Westafrika-Konferenz (1884/85) wirkte er als Vermittler zwischen den Großmächten. Dabei gelang es ihm, das Interesse der anderen Mächte von Mitteleuropa auf die außereuropäische (einschließlich balkanische) „Peripherie“ abzulenken und strukturell angelegte Spannungen – etwa zwischen Russland und Österreich auf dem Balkan oder zwischen Großbritannien und Frankreich in den Kolonien – unterhalb der Schwelle zum Kriegsausbruch am Köcheln zu halten. Am Ende der Bismarck-Ära wurde dies immer schwieriger; Opportunismus und kurzfristige Taktik gewannen die Oberhand.
Bismarcks kunstvolles Gleichgewichtssystem überdauerte seinen Schöpfer nur um kurze Zeit. Ungeschick seiner wilhelminischen Nachfolger und ihr lautstarkes nationalistisches Auftreten destabilisierten die Lage ebenso wie Verschiebungen in einem dynamischen internationalen System. Bis 1907 war eine völlig neue internationale Konstellation entstanden. Durch ein französisch-russisches Bündnis hatte sich Frankreich, das zur gleichen Zeit die russische Wirtschaft stark förderte, aus seiner Isolation befreit: Ein Albtraum Bismarcks war wahr geworden. Großbritannien und Frankreich hatten sich 1904 einander angenähert (Entente cordiale), Russland und Großbritannien 1907 ihre seit einem Jahrhundert schwelenden imperialen Konflikte in Asien durch eine Abgrenzung von Einflusszonen beigelegt. Dem Deutschen Reich blieben als Verbündete allein die beiden militärisch schwächsten unter den europäischen Großmächten: die Habsburgermonarchie und Italien; wegen des alten Gegensatzes zwischen Österreich und Italien war dies jedoch eine wenig tragfähige Partnerschaft. Das Hauptproblem lag darin, dass die deutsche Staatsführung, um die Jahrhundertwende zu einer auftrumpfenden „Weltpolitik“ übergehend, in einer solchen Isolation kein wirkliches Problem sah.
Schon Bismarck hatte seinen Horizont nicht auf Europa beschränkt. 1884/85 hatte er sich trotz einer zuvor deutlich geäußerten Geringschätzung von Kolonialabenteuern an der Aufteilung Afrikas beteiligt. Das Reich eignete sich mehrere Kolonien in Afrika an: Togo und Kamerun in Westafrika, Namibia (Südwestafrika) und große Teile des heutigen Tansania in Ostafrika. Dies war ein vergleichsweise kleiner und wirtschaftlich karger Kolonialbesitz. In der wilhelminischen Zeit kamen noch Neuguinea und Samoa als reine Prestigeobjekte hinzu sowie 1898 das Pachtgebiet Kiautschou (heute: Jiaozhou) um die Hafenstadt Tsingtau (heute: Qingdao), das zu einer „Musterkolonie“ der Reichsmarine werden sollte. Die wilhelminische „Weltpolitik“ seit den späten 1890er-Jahren sah ihr Ziel nicht in der Errichtung eines großen Kolonialreichs (für das es ohnehin nur noch wenige territoriale Möglichkeiten gegeben hätte), sondern in der informellen wirtschaftlichen Durchdringung überseeischer Gebiete. Dies geschah durch privates Unternehmertum mit staatlicher Unterstützung in Südamerika, China (jenseits der Grenzen der kleinen Kolonie) und im Osmanischen Reich (in Gestalt der Bagdad-Bahn). Deutschland benutzte dabei Methoden, die Großbritannien schon seit langer Zeit erfolgreich angewandt hatte. Zur Weltpolitik gehörten auch punktuelle Demonstrationen militärischer Stärke, etwa durch das Entsenden von Kanonenbooten oder durch die Beteiligung an der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China 1900/01 durch ein internationales Expeditionskorps.
Eine wirtschaftlich fundierte Weltpolitik war möglich, weil das Deutsche Reich auf vielfältige Weise in die Weltwirtschaft eingebunden war. Die intensivsten Handels- und Finanzkontakte bestanden dabei mit anderen europäischen Ländern sowie den USA, hatten also keine imperialistische Bedeutung. Wie groß das Gewicht des Exports für Deutschland bis 1913 geworden war, zeigt sich daran, dass er damals 12,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte, geringfügig weniger als bei Großbritannien (14,7 Prozent), deutlich mehr als bei Frankreich (6,0 Prozent), Österreich-Ungarn (5,2 Prozent) und den USA (4,1 Prozent). Als Kapitalexporteur stand Deutschland hinter Großbritannien ebenfalls an zweiter Stelle. Seine Handelshäuser und Großkonzerne bauten Geschäftsbeziehungen in alle Welt auf. Deutschland war nicht nur Nutznießer, sondern auch aktiver Mitgestalter der großen wirtschaftlichen Globalisierungswelle vor dem Ersten Weltkrieg. Dieses hohe Maß an wirtschaftlicher Integration steht nur scheinbar im Widerspruch zu einem immer lautstarker werdenden Nationalismus. Während sich Deutschland diplomatisch in die Isolation manövrierte, erreichte es ein beispiellos hohes Maß an Verflechtung in internationale Währungsströme und Kommunikationszusammenhänge, etwa den grenzüberschreitenden Postverkehr. „Die Globalisierung um 1900 und die Institution des Nationalstaats standen nicht in einem Konkurrenzverhältnis.“ (Sebastian Conrad)

Sozialprodukt und Bevölkerung in Deutschland

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.

QuellentextAnfänge deutscher Kolonialpolitik nach 1871

[...] Kanzler Otto von Bismarck [...] am 5. Dezember 1888 [...]:
[...] Die englische Interessensphäre geht bis zu den Quellen des Nils, [...] aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland, und hier ... liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika.

Aus: Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 8: Gespräche, hrsg. und bearb. von Willi Andres, Berlin 1926, S. 646

[...] Am 28. März 1884 wurde in Berlin die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ gegründet, [...]. In einem von dem Afrika-Forscher Carl Peters verfaßten Aufruf appellierte sie im April 1884 an die Öffentlichkeit [...]:
Die deutsche Nation ist bei der Verteilung der Erde, wie sie vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis auf unsere Tage hin stattgefunden hat, leer ausgegangen. Alle übrigen Kulturvölker Europas besitzen auch außerhalb unseres Erdteils Stätten, wo ihre Sprache und Art feste Wurzel fassen und sich entfalten kann. Der deutsche Auswanderer, sobald er die Grenzen des Reiches hinter sich gelassen hat, ist ein Fremdling auf ausländischem Grund und Boden. Das Deutsche Reich, groß und stark durch die mit Blut errungene Einheit, steht da als die führende Macht auf dem Kontinent von Europa: seine Söhne in der Fremde müssen sich überall Nationen einfügen, welche der unsrigen entweder gleichgültig oder geradezu feindlich gegenüberstehen. [...]
In dieser, für den Nationalstolz so schmerzlichen Tatsache liegt ein ungeheurer wirtschaftlicher Nachteil für unser Volk! Diese Kraftmasse strömt meistens unmittelbar in das Lager unserer wirtschaftlichen Konkurrenten ab und vermehrt die Stärke unserer Gegner. Der deutsche Import von Produkten tropischer Zonen geht von ausländischen Niederlassungen aus, wodurch jährlich viele Millionen deutschen Kapitals an fremde Nationen verlorengehen! Der deutsche Export ist abhängig von der Willkür fremdländischer Zollpolitik. Ein unter allen Umständen sicherer Absatzmarkt fehlt unserer Industrie, weil eigene Kolonien unserem Volke fehlen. [...]

Aus: Hermann Krätschell, Carl Peters 1856 bis 1918. Ein Beitrag zur Publizistik des imperialistischen Nationalismus in Deutschland, Berlin 1959, S. 16 f.

Unter dem Eindruck dieses Appells fand am 26. Juni 1884 eine Debatte des Deutschen Reichstages statt, in der sich Bismarck gezwungen sah, seine Vor-stellungen zur Kolonialfrage ausführlich darzulegen [...]:
[...] Ich wiederhole, daß ich gegen Kolonien [...], die als Unterlage ein Stück Land schaffen und dann Auswanderer herbeizuziehen suchen, Beamte anstellen und Garnisonen errichten –, daß ich meine frühere Abneigung gegen diese Art Kolonisation, die für andere Länder nützlich sein mag, für uns aber nicht ausführbar ist, heute noch nicht aufgegeben habe ...
Etwas ganz anderes ist die Frage, ob es zweckmäßig, und zweitens, ob es die Pflicht des Deutschen Reiches ist, denjenigen seiner Untertanen, die solchen Unternehmungen im Vertrauen auf des Reiches Schutz sich hingeben, diesen Reichsschutz zu gewähren und ihnen gewisse Beihilfen in ihren Kolonialbestrebungen zu leisten [...] Und das bejahe ich, allerdings mit weniger Sicherheit vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit – ich kann nicht voraussehen, was daraus wird –, aber mit unbedingter Sicherheit vom Standpunkte der staatlichen Pflicht. (Sehr richtig! rechts.) [...]
Meine von Seiner Majestät dem Kaiser gebilligte Absicht ist, die Verantwortlichkeit für die materielle Entwicklung der Kolonie ebenso wie ihr Entstehen der Tätigkeit und dem Unternehmensgeiste unserer seefahrenden und handeltreibenden Mitbürger zu überlassen [...], und [...] den Interessenten der Kolonie zugleich das Regieren derselben im wesentlichen [zu] überlassen und ihnen nur die Möglichkeit europäischer Jurisdiktion für Europäer und desjenigen Schutzes zu gewähren, den wir ohne stehende Garnison dort leisten können ...
[...]

Aus: Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 12: Reden 1878-1885, bearb. von Wilhelm Schüßler, Berlin 1929, S. 479 ff.
In: Manfred Görtemaker, Deutschland im 19. Jahrhundert, 5. durchgeseh. Aufl., Opladen: Leske+Budrich 1996, S. 345 ff., mit freundlicher Genehmigung der Springer Science and Business Media



Lebensverhältnisse und Milieus

Dass die deutsche Wirtschaft am Ende der 1870er-Jahre einen Konjunktureinbruch erlebte und sich seither durch die Höhen und Tiefen des Wirtschaftszyklus bewegte, änderte nichts am langfristigen Aufwärtstrend. Die Wirtschaftsleistung insgesamt wuchs und ebenso, für die Wohlstandsentwicklung entscheidend, die Produktivität der Arbeit pro Stunde und dementsprechend das Realeinkommen pro Kopf. Dieser materielle Fortschritt war für eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Alltagsleben spürbar. Die langfristige Tendenz der Urbanisierung beschleunigte sich. Hatten 1871 erst 4,8 Prozent der Bevölkerung in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern gelebt, so waren es 1910 schon 21,3 Prozent. Dies war aber keine „Wasserkopfurbanisierung“, denn Mittelstädte legten auf Kosten des ländlichen Raumes mit ähnlicher Rate zu.
Das wirtschaftliche Wachstum wurde zusätzlich zu den weiterhin dynamischen Leitsektoren Eisen/Stahl und Maschinenbau durch neue Branchen vorangetrieben. In der Elektro- und Chemieindustrie befand sich Deutschland von Anfang an weltweit in der Spitzengruppe. Viele der wichtigsten wissenschaftlichen und technologischen Innovationen stammten aus Deutschland. Manche Historiker sprechen hier von einer „Zweiten Industriellen Revolution“, die gleichzeitig auch anderswo, besonders in den USA, vor sich ging. Zu ihr gehörte auch die zunehmende Bedeutung von „Großbetrieben“, statistisch definiert als Firmen mit mehr als 50 Beschäftigten, sowie „Riesenbetrieben“, die über 1000 Beschäftigte aufwiesen. Diese Betriebe, als Produktionseinheiten verstanden, bildeten wiederum oft nur Teile großer Konzerne (etwa in der Stahl-, Elektro- oder Chemiebranche), die nach Marktbeherrschung strebten und über Zweighäuser international tätig waren. Auf dem Kapitalmarkt gewannen Großbanken eine immer stärkere Stellung. Durch stabile Preisabsprachen in Gestalt von „Kartellen“ wurde auf manchen Märkten das „freie Spiel der Kräfte“ außer Kraft gesetzt. Schon zeitgenössische Kritiker sprachen hier – übertreibend, aber nicht falsch – vom Übergang vom „Wettbewerbskapitalismus“ zum „Monopolkapitalismus“ oder „organisierten Kapitalismus“.
Wirtschaftliche Dynamik und die Zunahme der Bevölkerung gingen mit sozialer Differenzierung einher. Spätestens für diese Periode ist es unmöglich, pauschal von einer homogenen „Arbeiterschaft“ zu sprechen. Die Verdoppelung der Reallöhne gewerblicher Arbeiter zwischen 1871 und 1913 kam nicht allen Lohnarbeitern gleichermaßen zugute. Am oberen Ende der Skala genoss eine fachlich qualifizierte, in relativ sicherer Beschäftigung stehende Facharbeiterschaft den Lebensstandard des Kleinbürgertums. Am unteren Ende lebten Millionen von Angelernten und Ungelernten an der Armutsgrenze. Charakteristisch blieb selbst in besser gestellten Arbeiterhaushalten, dass das Familienoberhaupt in vielen Fällen das nötige Einkommen nicht allein erwirtschaften konnte. Frauen und – allerdings immer seltener – Kinder mussten hinzuverdienen. Auch in anderer Hinsicht war die Lebenserfahrung der unteren Schichten gemischt. Einen großen Fortschritt bedeutete die Verminderung der tatsächlich geleisteten Wochenarbeitszeit zwischen etwa 1860 und 1910 von 85 auf 55 Stunden; seit 1908 war der Zehnstundentag als gesetzliche Norm festgelegt. Gleichzeitig scheint aber in vielen Branchen die Technisierung der Arbeit die physische Belastung für den Einzelnen gesteigert zu haben. Einer solchen Erschöpfung durch den Maschinenrhythmus stand wiederum eine langfristige Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung gegenüber.
Der Wirtschaftsaufschwung führte nicht nur zu Wanderungen von den Dörfern in die Städte. Die unangenehmsten Arbeiten wurden zunehmend Immigranten zugewiesen, die aus dem zum Zarenreich gehörenden Teil Polens, aus Österreich-Ungarn oder aus Italien stammten. Viele von ihnen wurden auch als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt. Vor 1914 zählten rund sieben Prozent der Arbeiterschaft im Deutschen Reich zu diesen „Gastarbeitern“ der ersten Stunde. Auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 wurden der Selbstorganisation des Proletariats Hindernisse in den Weg gelegt. Trotzdem bildete sich in Deutschland eine politisch aufmerksame und selbstbewusste Arbeiterschaft heraus, die besser organisiert war als überall sonst auf dem europäischen Kontinent und die der herrschenden Ordnung keineswegs in kompromissloser Feindseligkeit gegenüberstand. Zwar erwartete man das Ende des Kapitalismus, richtete sich aber in ihm ein, solange es ihn gab.
Eine neue soziale Gruppe von unsicherem Status und Selbstgefühl waren die Angestellten. Hinsichtlich ihrer Entlohnung vom Facharbeiter nicht allzu weit entfernt, betrachteten sich diese „Handlungsgehilfen“, Buchhalter oder Sekretärinnen, die sich die Hände nicht schmutzig machen mussten und in bürgerlicher Kleidung auftraten (daher in Amerika white-collar workers genannt), als etwas Besseres. Dieser „neue Mittelstand“, der die Angestellten sowohl in den Kontoren der Wirtschaft als auch auf den Ämtern des staatlichen und kommunalen Verwaltungsdienstes umfasste, machte kurz vor dem Ersten Weltkrieg etwa sieben Prozent der Erwerbstätigen aus. Damals gab es neben zwei Millionen Angestellten 14 Millionen Lohnarbeiter.
Das schnelle Anwachsen der Zahl der weiblichen wie männlichen Angestellten ist ein Indiz für die Ausdehnung der verwaltenden Staatstätigkeit. Dass nun ein Heer von Verkäufern entstand, geht wiederum auf das Auftreten von Warenhäusern in den großen Städten zurück. Denn das Kaiserreich sah auch die Anfänge einer massenhaften Konsumkultur. Kaufhäuser präsentierten ein Universum der Warenwelt, wie es bis dahin niemals unter einem Dach zusammengefasst worden war. Sie vertrieben fabrikmäßig hergestellte Konfektionsware, die in Konkurrenz zu den Erzeugnissen von Handwerksbetrieben trat. In „Kolonialwarenläden“ wurden als besondere Attraktionen Konsumgüter aus Übersee feilgeboten. Sie trugen das Exotische in deutsche Wohnstuben hinein, wie es in den Großstädten auch in zoologischen Gärten, Völkerschauen mit lebenden „Wilden“ und ethnologischen Museen zu bestaunen war. In bürgerlichen Salons wurde der Orient, repräsentiert durch den „Perserteppich“, nun geradezu zu einer Mode. Deutschland, obwohl nur eine nachrangige Kolonialmacht, konsumierte die große weite Welt.

QuellentextNervosität

„Die gesittete Menschheit wurde von ihren neuen Erfindungen und Fortschritten überrumpelt. [...] Unseren Vätern ist keine Zeit gelassen worden. Gleichsam von einem Tag auf den anderen, ohne Vorbereitung, mit mörderischer Plötzlichkeit mussten sie den behaglichen Gleichschritt des früheren Daseins mit dem Sturmlauf des modernen Lebens vertauschen, und das hielten ihr Herz und ihre Lunge nicht aus.“ So Max Nordau – Arzt, glühender Zionist und radikaler Zivilisationskritiker – in seinem Bestseller „Entartung“ (1892). [...]
[...] Es gibt, in Europa wie in den USA, Anhaltspunkte für zuvor unbekannte nervliche Belastungen [...].
Nervositätsursachen sieht George Miller Beard, der US-amerikanische Pionier der modernen Neurologie, vor allem in der unumgänglichen Anpassung an technische Innovationen, im Zwang zur Spezialisierung, in der Taschenuhr und der von ihr verkörperten Pünktlichkeitsdiktatur, in der Beschleunigung des Geschäftslebens durch die Telegrafie, in der nervenschädigenden Wirkung des Lärms und, nicht zuletzt, in der Elektrizität. Edisons elektrisches Licht sei „die bestmögliche Illustration der Wirkungen der modernen Zivilisation auf das Nervensystem“. [...]
Allerdings: Dass die Verlängerung des Tages durch das elektrische Licht den menschlichen Biorhythmus beeinflusst, sei heute erwiesen, so Joachim Radkau. Es gebe Grund zu der Annahme, dass die Umstellung von Gaslicht auf die Glühlampe Ende des 19. Jahrhunderts von Stresserscheinungen begleitet gewesen sei, [...].
[...] Vielstimmig verständigt sich die Gesellschaft über das Schicksal der Nerven im Prozess der ‚elektrischen Moderne‘. Radikale Ablehnung technischer Neuerungen bis zu pathologischer Technik-Phobie einerseits, forcierte Technikbegeisterung andererseits führen, im Ansturm der Innovationen, zu Überspanntheiten und Überempfindlichkeiten. [...] Um 1880 ist es [...] en vogue, für alle erdenklichen gesellschaftlichen und politischen Phänomene die Elektrizität und ihre vermuteten Auswirkungen zur Rechenschaft zu ziehen. Selbst die vielfach beklagte Rastlosigkeit des Kaisers wird unter diesem Aspekt untersucht. [...]
Vielleicht aber hat nicht die Elektrizität selbst, sondern die ökonomische Form ihrer Einführung [...] in bereits hochentwickelten Industriegesellschaften die Menschheit „überrumpelt“. [...] [A]ls Arbeiter in den Fabriken, als Angestellte in den Büros, [sind die Menschen mit] bisher unbekannten Anforderungen konfrontiert. Ihre Arbeitskraft, ihre Aufmerksamkeit, ihr Nervensystem, ja ihre ganz psycho-physische Existenz muss sich anpassen an die Bedingungen einer neuen ‚elektrifizierten‘ Welt. [...]
Die Leidenserfahrungen derer, die als schlecht bezahlte Heloten an der Front der technischen Vernetzung arbeiten (etwa der deutschen Eisenbahner oder der amerikanischen telephone operators mit ihren Magengeschwüren), sind allenfalls zu erahnen. Sie strömen in die Arztpraxen und Heilstätten, und ihre Krankenakten können heute als Forschungsmaterial für eine Archäologie der zweiten industriellen Revolution herangezogen werden. Das Problem für den Historiker besteht freilich darin, dass die Patienten in ihren Anamnesen nicht über ‚Beschleunigung‘, Technik‘ oder ‚Mechanisierung‘ klagen, sondern schier endlose Geschichten über ihre Verdauung, ihre Schlafstörungen oder ihre Impotenzängste erzählen. [...] „Zwischen den Zeilen“ einer Krankenakte erkennt Joachim Radkau „deutlich das neue Berlin der Jahrhundertwende, das Berlin der Presse und der Börse, des Tempos und der nach Aufträgen jagenden Handlungsreisenden: eine Millionenstadt, deren strapazierende Wirkung auf die Nerven keineswegs nur in der Phantasie reaktionärromantischer Kulturkritiker existierte.“
Tatsache ist, dass die Zahl der Patienten, die sich selbst als ‚nervös‘ bezeichnen oder von ihren Ärzten diagnostiziert werden, zwischen 1870 und 1914 rasant zunimmt. Sie stammen aus allen Klassen und Schichten, beschäftigen in Deutschland die Bürokratien der unter Bismarck geschaffenen Kranken- und Unfallversicherung und lösen kontroverse Debatten unter den medizinischen Kapazitäten aus. Statistisches Quellenmaterial ist äußerst rar; immerhin belegen Zahlen der Reichsversicherungsbehörden von 1902, dass von über 150 000 Patienten, die Zahlungen aus der Unfallversicherung erhalten, mehr als 14 000 unter nicht näher spezifizierten nervösen Störungen leiden.
Der Nervositätsdiskurs freilich ist dezidiert ein Reservat gehobener Schichten, überwiegend des Bildungsbürgertums und zahlreicher Intellektueller, unter ihnen wiederum der musisch Begabten und künstlerisch Tätigen, die mit Hilfe von Selbstdiagnosen nicht zuletzt ihr Unbehagen an den Oberflächenphänomenen der Modernisierung abarbeiten. [...]

Klaus Kreimeier, Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos, © Paul Zsolnay Verlag Wien 2011, S. 84 ff.



Die Einheit deutscher Kultur

Bei einem Überblick über die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts auf Österreich zu verzichten, wäre für die Zeit des Deutschen Bundes problematisch; für die Zeit danach ist es unter Historikern üblich geworden. Kulturgeschichtlich lässt es sich allerdings nicht rechtfertigen.
Nach dem Sieg der „kleindeutschen“ Nationslösung auf dem Schlachtfeld von Königgrätz 1866 reformierte sich die Habsburgermonarchie. Sie gab sich eine neue Verfassungsform. Das Habsburgerreich, in dem die Sprachgruppe der Deutschen 1910 weniger als ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachte, wurde dezentraler organisiert. Das Ziel einer gesamtstaatlichen Dominanz der deutschsprachigen Minderheit war endgültig unrealistisch geworden. Anders als die zum Nationalstaat erweiterte Hohenzollernmonarchie schlug die Habsburgermonarchie nicht den Weg zu einer stärkeren Integration ein. Auf eine Germanisierung der nicht-deutschen Reichsteile (die auch kaum hätte realisiert werden können) wurde verzichtet. Es gab noch nicht einmal ein gesamtstaatliches Parlament.
In bewusster Abgrenzung zu Deutschland bildete sich im späten Habsburgerreich eine Art von Sondermentalität heraus. Man pflegte einen Stolz auf die habsburgischen Traditionen und den multikulturellen Kosmopolitismus des Reiches und verspürte auch unter Deutsch-Österreichern kaum einen Drang zur politischen Vereinigung mit dem Norden. In der Literatur wurde ein gewisser morbider Ton der Dekadenz und des Untergangs vernehmbar. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch die andere Seite dieses Bildes: die Nähe zwischen Deutschland und Österreich. Sie war zunächst eine politische Nähe, denn die Donaumonarchie blieb bis zum bitteren Ende ein Juniorpartner des Deutschen Reiches. In der Julikrise, die 1914 in den Ersten Weltkrieg mündete, spielten Militär und Politik in Österreich eine besonders aggressive und verhängnisvolle Rolle.
Noch auffälliger ist eine Einheit der deutschsprachigen Kultur, die erst nach der Gründung der Republik Österreich 1918 in den Hintergrund trat. Wien blieb eines der großen Zentren der deutschen Kultur, vielleicht noch strahlender als die anderen großen Zentren: Berlin, München, Leipzig oder Zürich. Österreich, Deutschland und die Deutschschweiz bildeten einen gemeinsamen kulturellen Markt. Bücher, die dort irgendwo veröffentlicht wurden, waren überall zu bekommen. Österreichische Künstler wurden an deutschen Theatern oder Opernhäusern engagiert, Professoren aus Deutschland nach Wien oder Prag berufen. In diesem kulturellen Betrieb spielte Wien eine Sonderrolle. Es bildete mehr noch als Berlin oder München eine kulturelle Insel in einer stark ländlich geprägten Umgebung. Auch war es die einzige Großstadt im Habsburgerreich mit einem zahlenmäßig umfangreichen, an Kultur interessierten Bürgertum, in dem jüdische Familien eine ungewöhnlich große Rolle spielten. Wien hatte eine glorreiche Tradition zu bewahren, vor allem in der Musik. Diese Tradition Haydns und Mozarts, Beethovens und Schuberts wurde nicht einfach nur gepflegt. Sie wurde auf dem höchstmöglichen Niveau des Komponierens weitergeführt, vor allem bei dem aus Hamburg stammenden, seit 1875 dauerhaft in Wien ansässigen Johannes Brahms (1833-1897) und dem in Mähren geborenen Gustav Mahler (1860-1911), der zwischen 1897 und 1907 als Hofoperndirektor eine zentrale Stellung im Wiener Kulturleben innehatte. Der jüngere Arnold Schönberg (1874-1951) konnte kurz vor der Jahrhundertwende als Komponist in der Metropole Fuß fassen. Mit seinem Schülerkreis wurde er schon vor dem Ersten Weltkrieg zu einem radikalen Erneuerer der musikalischen Sprache. Das Wien der Jahrhundertwende war auch in anderer Hinsicht die Kulturhauptstadt Europas. Hier entwickelte der Nervenarzt Sigmund Freud (1856-1939) die Psychoanalyse. Auch in der Philosophie (wo die Ansätze der Vorkriegszeit in den 1920er-Jahren ausreiften) und der Malerei genoss Wien einen europaweiten Ruf. Vielseitig begabte Schriftsteller wie der Lyriker und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) oder der Essayist und Satiriker Karl Kraus (1874-1936) gehörten zu den wichtigsten Vertretern der deutschsprachigen Literatur der Epoche.
Es ist ein Paradox, dass zu einer Zeit des aufschäumenden öffentlichen Nationalismus die Kultur im Deutschen Reich kaum nationalistisch geprägt war. Versuche, eine „deutsche“ Musik und bildende Kunst zu schaffen, führten nicht weit. Selbst der 1883 verstorbene Richard Wagner, ein Mann von nationalistischer und antisemitischer Gesinnung, eignete sich nicht als Rollenmodell, da seine Musik in ganz Europa Bewunderung fand. Die deutschen Dichter und Schriftsteller sahen sich selbst in gesamteuropäischen Zusammenhängen. Der wissenschaftliche Austausch über Grenzen hinweg war intensiv, trotz einer gewissen Rivalität zwischen den Wissenschaftskulturen. Deutsch stand als Wissenschaftssprache gleichberechtigt neben Französisch und Englisch. All dies verhielt sich widersprüchlich zur politischen Lage auf einem Kontinent, auf dem industrialisierte Großmächte gegeneinander rüsteten.

Europa 1880-1914

Wirtschaftliche Dynamik und gesellschaftliche Differenzierung

Viele der allgemeinen Tendenzen, die sich in Deutschland erkennen lassen, charakterisieren die Entwicklung des europäischen Kontinents insgesamt. Sie waren regional unterschiedlich ausgeprägt. Während der letzten drei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg wurden sämtliche Länder Europas in eine wirtschaftliche Wachstumsdynamik hineingezogen, die in der Geschichte ohne Beispiel war. Die statistisch erfassbaren Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf der Bevölkerung waren in Deutschland, der Schweiz, Frankreich und den skandinavischen Ländern am höchsten. Großbritannien fiel gegenüber dieser Gruppe ein wenig zurück; wegen seines hohen Ausgangsniveaus machte sich dies in der Praxis allerdings kaum bemerkbar. Die Schlusslichter waren Italien, Spanien, Portugal und die Balkanländer. Der gesamte europäische Süden hatte also Mühe, den Anschluss an den wirtschaftlichen Fortschritt des Nordens zu finden. In großen Teilen dieser Länder, etwa Süditalien und ganz Spanien außerhalb Kataloniens und des Baskenlandes, war von Industrialisierung kaum etwas zu spüren. Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigen lag bei 60 Prozent und mehr, während er in den entwickelten Ökonomien des Nordens inzwischen auf weniger als 30 Prozent gesunken war, in Großbritannien sogar auf unter 10 Prozent. Aus unterschiedlichen Gründen war die Landwirtschaft im Süden wenig produktiv. Dort, wo ein Agrarsystem kleinbäuerlicher Einzelwirtschaft vorherrschte, diente die Produktion vorwiegend der Selbstversorgung und nur zu einem kleinen Teil dem Erlös von Gewinnen auf dem Markt. Großbetriebliche Landwirtschaft konnte (etwa in England, Osteuropa oder in den USA) durchaus beträchtliche Wachstumsraten erzielen. Sie konnte aber auch eine bloße Rentenwirtschaft sein, bei der der Großgrundbesitzer von seinen Pächtern hohe Abgaben kassierte, ohne sich um die Verbesserung des Betriebs zu kümmern. Dies war in den wirtschaftlich rückständigen Regionen des Südens oft der Fall.
Ein ökonomischer Aufsteiger war das Zarenreich. Seine Wirtschaft war sehr lange fast ausschließlich agrarisch gewesen. Um 1860 lag das Volkseinkommen im russischen Teil des Imperiums bei etwa einem Viertel des britischen. Auch kurz vor dem Ersten Weltkrieg war Russland noch primär ein Agrarland, wo drei Viertel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Das Bevölkerungswachstum war außergewöhnlich hoch, so dass sich die Einkommen pro Kopf der Bevölkerung gegenüber 1860 nicht dramatisch gesteigert hatten. Es waren aber in und um Moskau, im russisch beherrschten Polen und im ukrainischen Donez-Becken kleine, leistungsfähige Industrie- und Bergbau-Enklaven entstanden. Seit den 1880er-Jahren trieb die russische Regierung die Industrialisierung energisch voran, holte ausländisches Kapital ins Land und finanzierte damit den Ausbau der Eisenbahnen; so wurde zwischen 1891 und 1916 die Transsibirische Eisenbahn gebaut, die der wirtschaftlichen Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens dienen sollte. Als Ergebnis dieser Anstrengungen war Russland am Vorabend des Ersten Weltkriegs hinter Deutschland und Großbritannien und weit vor Frankreich zur drittgrößten Wirtschaftsmacht Europas geworden.
Vor dem Ersten Weltkrieg waren in Europa bereits die Anfänge von Entwicklungen erkennbar, die sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts verstärken sollten. Dazu gehörte der Ausbau des „tertiären Sektors“, also der Bereich von Dienstleistungen aller Art. Die Niederlande zum Beispiel verzichteten (anders als Belgien) auf eine starke Industrie und knüpften an ihre alten Handelstraditionen an. Ansonsten stand Europa im Bann der Industrie. Sie wurde allgemein als Symbol des Fortschritts und Motor des Wohlstands angesehen. Eine weitere neue Tendenz war die Nutzung von Erdöl in Ergänzung zur Kohle. 1886 wurden die ersten Automobile konstruiert, wenige Jahre später begann die fabrikmäßige Produktion des neuen Fahrzeugs. 1914 rollten bereits zwei Millionen Automobile auf Europas Straßen. Die technischen Grundlagen für das Motorflugzeug wurden kurz nach der Jahrhundertwende gelegt. Bereits 1912 richtete das britische Militär ein Fliegerkorps ein. Gleichzeitig kamen die ersten mit Öl betriebenen Schiffe zum Einsatz. Erst nach dem Krieg wurde die Motorenindustrie zu einer zentralen Triebkraft der Industrialisierung.
Dort, wo die europäische Wirtschaft bereits übermächtig von der Industrie geprägt wurde und wo die Arbeiterschaft vielfach das extreme Elend der Frühindustrialisierung hinter sich ließ, war man dennoch von einer spannungsarmen und komfortablen „Industriegesellschaft“, wie sie sich in Westeuropa in den 1950er-Jahren herausbilden sollte, weit entfernt. Vor allem drei soziale Krisenfelder blieben. Erstens war die Wohnsituation der handarbeitenden Bevölkerung nur dort erträglich, wo ausnahmsweise patriarchalisch denkende Unternehmer eigene Arbeitersiedlungen bauten (wie Krupp in Essen oder Ernst Abbe in Jena) – selbstverständlich auch eine Möglichkeit, Kontrolle über die Arbeiterschaft auszuüben. Sonst waren überall in Europa Arbeiterwohnungen überbelegt, schlecht ausgestattet und ungesund. Selbst wenn die schlimmsten Slums beseitigt wurden, traten an ihre Stelle keine staatlichen Programme des „sozialen Wohnungsbaus“. Zweitens folgten viele europäische Länder nicht einmal den deutschen Ansätzen einer Sozialversicherung. Gegen Arbeitslosigkeit gab es keine materielle Absicherung. Ein Unfall oder eine schwere Erkrankung des Brotverdieners konnte weiterhin für die Familie eine Katastrophe bedeuten. Massenhafte Altersarmut, vor allem in den Städten, blieb vor 1914 ein ungelöstes Problem. Drittens waren vor allem verheiratete Frauen in einfachen Verhältnissen einer extremen Belastung ausgesetzt. Bei nach wie vor hohen Kinderzahlen (und hoher Kindersterblichkeit), einer nur ganz rudimentären Mechanisierung der Hausarbeit und der Notwendigkeit, durch Nebenerwerb das Familienbudget aufzubessern, führten sie oft ein Leben, in dem an Feierabend und Ferien nicht zu denken war. Nur im gehobenen Bürgertum und in der Aristokratie wurde die Zeit um 1900 ihrem Namen als Belle Époque gerecht. Ein Spaziergang durch ein beliebiges Villenviertel einer deutschen Stadt zeigt, dass die Jahre unmittelbar nach 1900 die große Boomperiode des luxuriösen Wohnungsbaus waren. Damals wurde die Oberschicht um eine weitere Gruppe ergänzt: Manager oder „leitende Angestellte“ großer Firmen, denen das Unternehmen selbst nicht gehörte, deren hohe Gehälter ihnen aber den Lebensstil des wohlhabenden Wirtschaftsbürgertums ermöglichten.

Zeittafel - Soziale Frage (Auswahl)

Neue politische Orientierungen

Der schnelle gesellschaftliche Wandel und die Ausbreitung europäischer Herrschaft über die Erde ließen auch Mentalitäten, Weltsichten und Versuche, die Gegenwart theoretisch zu fassen, nicht unberührt. Eine neue Wissenschaft, die Soziologie, wie sie in Frankreich Émile Durkheim und in Deutschland Max Weber (1864-1920) und Georg Simmel (1858-1918) begründeten, unternahm eine systematische Analyse der „modernen“ Gesellschaft und ihrer historischen Voraussetzungen. Durkheim fragte danach, was eine Gesellschaft zusammenhält. Weber interessierte sich universalhistorisch für den Zusammenhang zwischen Weltbildern, Institutionen und Formen menschlichen Handelns. Simmel war ein feinfühliger Diagnostiker des menschlichen Zusammenlebens in den großen Städten der Gegenwart. Die Ökonomie wurde um die Jahrhundertwende zu einer Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten des Marktes, von wirtschaftlichem Gleichgewicht und seiner Dynamisierung zu Wachstum. Die Historiker hatten mit der nationalen Entwicklung der einzelnen europäischen Staaten ihr großes Thema gefunden, erweiterten ihren Blick aber zunehmend von der Politik auf die Kultur. Die neue Wissenschaft der Ethnologie oder Völkerkunde befasste sich mit den „Naturvölkern“ oder „Primitiven“, die man in den eigenen Kolonien studieren konnte.
Wissen wurde nicht länger nur angehäuft und systematisiert wie in einer früheren Zeit des „Positivismus“. Es wurde zunehmend auch kritisch nutzbar gemacht. Nach dem Tod von Karl Marx 1883 wurde seine Kritik des Kapitalismus zur herrschenden Lehre der europäischen Arbeiterbewegung. Dabei machten sich Richtungsunterschiede bemerkbar, die schon im Denken von Marx angelegt waren. Während die eine Strömung sich auf die Prognose eines unvermeidlichen Zusammenbruchs des Kapitalismus aus dem Wirken seiner eigenen Widersprüche heraus verließ, griffen andere Marxisten auf die Lehre des Meisters vom Klassenkampf zurück. Nach ihrer Sicht musste das Ende des Kapitalismus durch revolutionäre Aktion beschleunigt werden. Die nationalen sozialistischen Bewegungen, auch im Innern uneins, unterschieden sich zunehmend nach dieser gewissermaßen geschichtsphilosophischen Haltung. In Spanien entstand eine große Nähe zwischen Sozialismus und Anarchismus, einer Lehre, die jeder Staatlichkeit misstraute. In Frankreich behauptete sich ein eher unpolitischer Sozialismus, der weniger die nationale Machtübernahme als die Organisation des Wirtschaftslebens in egalitären Genossenschaften anstrebte. Erst recht pragmatisch eingestellt war die britische Arbeiterbewegung, die keine Utopien verfolgte, sondern konkrete Verbesserungen der materiellen Situation der arbeitenden Bevölkerung im Auge hatte. Die deutsche Sozialdemokratie hielt lange an einem rhetorischen Marxismus fest, der mit seinem verbalen Radikalismus in einem gewissen Gegensatz zur allmählichen Annäherung der Arbeiterbewegung an die wilhelminische Ordnung stand. Unter dem Etikett des „Revisionismus“ vollzogen aber große Teile der Sozialdemokratie eine pragmatische Wende weg von revolutionären Zielen und hin zu Reformen innerhalb des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems.
Ganz anders stellte sich die Lage dort dar, wo linke politische Bewegungen polizeistaatlich unterdrückt wurden und nur im Untergrund oder aus dem Exil wirken konnten. Hier war eine Radikalisierung der Ziele und Methoden unvermeidlich. Das wichtigste Beispiel dafür war das Zarenreich. Die 1883 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands spaltete sich auf einem Exilparteitag, der 1903 in Brüssel stattfand. Die Mehrheitsgruppe (wörtlich „Bolschewiki“), in der Vladimir Iljitsch Uljanov, genannt „Lenin“ (1870-1924), die dominierende Figur war, votierte für den gewaltsamen Sturz der Zarenherrschaft durch eine Kaderpartei von kampferprobten „Berufsrevolutionären“. Dies war eine Weiterentwicklung des Marxismus, die in der westeuropäischen Linken nur geringe Resonanz fand. Sozialismus und Sozialdemokratie gehörten am Vorabend des Weltkriegs zur politischen Szenerie von Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich. Wie sich nach Kriegsausbruch 1914 zeigen sollte, stellten viele Sozialisten ihr patriotisches Pflichtgefühl über das lange propagierte Ideal der internationalen Brüderlichkeit.
Nationalismus unterschiedlicher Schärfe war überhaupt ein verbindendes Element unter den verschiedenen politischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Liberalismus war vielerorts, besonders ausgeprägt in Deutschland, zu einem nationalen Liberalismus geworden, der durch bürgerliche Reformen den Nationalstaat zu stärken beabsichtigte. Seine herrschaftskritische Spitze hatte er weitgehend verloren. Auch die Liberalen – und sogar viele Sozialisten – waren Verteidiger des Imperialismus. Sie fanden es selbstverständlich, dass der „weiße Mann“ zur Herrschaft über die „farbige Welt“ berufen sei und dass eine solche Herrschaft auch ein Glück für die Kolonisierten darstelle, die auf diese Weise „zivilisiert“ würden. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums ging es nun nicht länger wie bei früheren Formen konservativen Denkens um die Verteidigung von Kirche, Monarchie und Grundbesitzerinteressen. Neue Strömungen kamen auf, die einen „integralen“ oder „völkischen“ Nationalismus propagierten. Die eigene Nation einschließlich der Angehörigen außerhalb der Landesgrenzen wurde „rassisch“ über alle anderen Völker gestellt. Minderheiten wie Juden oder Einwanderer aus dem Ausland sollten aus diesem Nationalverband ausgeschlossen bleiben.
Nun wurde Antisemitismus zu einem tragenden Bestandteil rechtskonservativer Weltbilder. Am wenigsten war dies in Großbritannien der Fall. Auf dem Kontinent hingegen kam seit den 1860er-Jahren eine antisemitische Literatur in Umlauf, die an ältere anti-jüdische Stereotype anknüpfte, aber den Juden nicht länger ihren Mangel an Anpassung an ihre christliche Umwelt vorwarf, sondern im Gegenteil ihre erfolgreiche Integration in die Gesellschaft. In pseudowissenschaftlichen Verschwörungsfantasien wurden Juden zu gut getarnten „inneren Feinden“ stilisiert, die auch durch die christliche Taufe nichts von ihrer „Fremdheit“ verlören. In Frankreich trugen in der Dreyfus-Affäre (1896-99) die Gegner des Antisemitismus einen juristischen und moralischen Sieg von großer Tragweite davon. Kein vergleichbarer Skandal stoppte den Antisemitismus in Deutschland. Allerdings gewann er vor 1914 noch keinen wirklich gewichtigen Einfluss auf die Politik des Reiches. Er blieb eine allgegenwärtige diskriminierende Stimmung. Ein besonders radikales antisemitisches Milieu braute sich in Österreich zusammen. Die gewalttätigste Judenfeindschaft entwickelte sich jedoch seit den 1880er-Jahren im Zarenreich, wo mehrere Wellen von Pogromen stattfanden.
Um 1900 war die Stimmung in Europa widersprüchlich. Einerseits nährten der zunehmende Wohlstand und die schnelle Veränderung städtischer wie ländlicher Lebenswelten Fortschrittsoptimismus und Technikbegeisterung. Andererseits hatten Kritiker seit dem Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) auf die Schattenseiten des Fortschritts hingewiesen. In ganz Europa machte sich ein Kulturpessimismus breit: ein Schwelgen in Dekadenz und Niedergang, apokalyptische Zukunftsvisionen vom „Ende der Zivilisation“ und die „sozialdarwinistische“ Idee, im Kampf der Nationen, Völker und „Rassen“ würden die Schwächeren zugrundegehen.

QuellentextAntisemitismus in der Kaiserzeit

Die Gründerjahre des Kaiserreichs waren begleitet von einer neuen Welle des Antisemitismus. Der Schock des Börsenkrachs von 1873 saß tief; bei der Suche nach den Verantwortlichen verfiel man auf die Juden, die als „Handlanger des internationalen Finanzkapitals“ galten. Sie wurden zu Sündenböcken gemacht für alle nachteiligen Folgen, die mit dem beschleunigten gesellschaftlichen und kulturellen Wandel verbunden waren. Vom älteren, religiös motivierten Judenhass unterschied sich der „moderne“ Antisemitismus dadurch, dass er der jüdischen Minderheit bestimmte, als unveränderbar geltende rassische Attribute zuschrieb, die sie angeblich zu einem „Fremdkörper“ in der gerade geeinten deutschen Nation machten. Die Juden seien und blieben „ein Volk im Volke, ein Staat im Staat, ein Stamm für sich unter einer fremden Rasse“, erklärte der Hofprediger Adolf Stoecker auf einer Versammlung im September 1879. Führen sie fort, „die Kapitalskraft wie die Macht der Presse zum Ruin der Nation zu verwenden“, so sei „eine Katastrophe zuletzt unausbleiblich“.
[...] Noch unheilvoller war die Wirkung des Historikers Heinrich von Treitschke. [...] [E]r prägte in diesem Zusammenhang jenen Satz, der zur Parole aller Antisemiten in Deutschland werden sollte. „Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf ... ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück.“ Treitschke trug entscheidend dazu bei, den Antisemitismus im Bildungsbürgertum gesellschaftsfähig zu machen. Besonders unter Studenten waren judenfeindliche Einstellungen verbreitet.
Seit Ende der siebziger Jahre gab es im Kaiserreich mehrere Parteien und Organisationen, die den Antisemitismus auf ihre Fahne schrieben. Zu ihren wichtigsten Programmpunkten gehörten die Aufhebung der Judenemanzipation, also der rechtlichen Gleichstellung der Juden, das Verbot jeglicher Zuwanderung von Juden aus Osteuropa sowie die Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Berufen, in denen Juden nach Ansicht der Antisemiten überrepräsentiert waren. Auf der politischen Bühne spielten die radikalen Antisemitenparteien kaum eine Rolle; ihr Einfluss war seit den neunziger Jahren rückläufig. Dennoch sorgte ihre Agitation dafür, die angebliche „Judenfrage“ im öffentlichen Bewusstsein wach zu halten.
Obwohl die rechtliche Gleichstellung der Juden im Kaiserreich niemals ernsthaft gefährdet war, kam es doch zu zahlreichen Diskriminierungen. „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden“, bemerkte Walther Rathenau, der Chef der AEG, 1911, „gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und dass kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“ Besonders drastisch trat die Zurücksetzung im Offizierskorps zutage. Es gab unter den Offizieren im preußischen Heer nicht einen einzigen Juden, und auch von dem begehrten Erwerb des Reserveoffiziers-Patents blieben Juden seit den achtziger Jahren ausgeschlossen.
Ein offener oder unterschwelliger Antisemitismus prägte auch den alltäglichen Umgang mit Juden. Auf Postkarten, in Karikaturen und Versen wurden ihnen bestimmte als „typisch jüdisch“ geltende Merkmale, etwa die Hakennase, zugeschrieben. Ebenso wurden jüdische Nachnamen wie Cohn oder Itzig zur Zielscheibe bösartiger Spottlust. [...]
Allerdings gab es von Anfang an auch Versuche von jüdischer wie von nichtjüdischer Seite, den Antisemitismus zu bekämpfen. An der Berliner Universität trat besonders der Althistoriker Theodor Mommsen den Angriffen Treitschkes entgegen. 1890 riefen liberale Politiker und Gelehrte einen „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ ins Leben, drei Jahre später folgte die Gründung des „Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der die Pflicht zur Selbstverteidigung verband mit dem Bekenntnis: „Ja, wir sind jüdischen Glaubens, und wir sind gerade so gut und gerade so schlecht wie alle anderen deutschen Staatsbürger.“ Doch blieb die aufklärerische Wirkung der beiden Abwehrorganisationen begrenzt. [...]

Das Gift des Antisemitismus. In: Deutsche Geschichte 1: Wie wir wurden, was wir sind. Das 19. Jh. 1789-1918, S. 226-228. Erarb. v. Dr. Volker Ullrich © Ernst Klett Verlag GmbH Stuttgart, 2012



Probleme nationaler und imperialer Integration

In der Zeit zwischen den 1880er-Jahren und dem Beginn des Ersten Weltkriegs erreichten eine ganze Reihe europäischer Staaten einen neuartigen Grad an innerer Einheitlichkeit. Manche internen Konflikte entschärften sich. Alle europäischen Gesellschaften waren Klassengesellschaften mit strukturellen Gegensätzen zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Diese Gegensätze hatten sich aber dort, wo wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Modernisierung wirksam wurden, abgeschwächt. Der einstweilen letzte gewaltsame Aufstand mit revolutionärer Stoßrichtung war 1871 in Paris nach drei Monaten niedergeschlagen worden. Die einzig andere größere Revolution des Zeitalters fand 1905 in Russland statt. Sie erreichte begrenzte Ziele, vor allem gewisse verfassungspolitische Zugeständnisse des Zaren, die 1907 weitgehend wieder zurückgenommen wurden. Die Abwesenheit von Revolutionen ist ein sehr grobes Kriterium für den Grad sozialer und politischer Harmonie. Sie lässt aber den Schluss zu, dass die politischen Systeme zumindest in der Mitte Europas flexibel genug waren, um jene Teile der Gesellschaft, die mit der wirtschaftlichen Entwicklung an Zahl und Bedeutung zunahmen, in den politischen Prozess einzubeziehen.
Die Kluft zwischen den christlichen Konfessionen, die das frühneuzeitliche Europa innergesellschaftlich wie zwischenstaatlich entzweit hatte, war schmaler geworden, ohne verschwunden zu sein. Auf dem Balkan bildeten Katholizismus, Orthodoxie und Islam zwar ein explosives Gemisch, und in Irland trafen der katholische Glaube der Iren und der protestantische Anglikanismus der englischen Oberschicht schroff aufeinander. Doch Religion wurde seltener zum Anlass für blutige Kämpfe. Religiöse Minderheiten, auch die Juden, waren vielfach nicht nur geduldet, sondern mit vollen Staatsbürgerrechten ausgestattet worden.
Eine andere Trennlinie gewann an Bedeutung: die zwischen aggressiv auftretenden Kirchen und einem Staat, der beanspruchte, über den Religionen zu stehen. Die Katholische Kirche blieb eine respektable Macht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in Europa 90 Millionen Protestanten neben 173 Millionen Katholiken. Die übernational organisierte Katholische Kirche, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts straffer als zuvor auf den Heiligen Stuhl hin zentralisiert worden war, konnte sich ihrer Gläubigen weitgehend sicher sein. Sie nutzte ihre Macht, um den wachsenden Kompetenzansprüchen der Regierungen entgegenzutreten. Die Streitpunkte waren überall ähnlich: Zivilehe, kirchliches Ehesakrament, staatlicher oder kirchlicher Einfluss auf das Schulwesen, staatliche Beaufsichtigung der Klerikerausbildung und Mitwirkung bei der Besetzung geistlicher Ämter, Fragen der Besteuerung von kirchlichem Immobilienbesitz. 1864 hatte Papst Pius IX. (1792-1878) in seinem Syllabus errorum die gesamte moderne Zivilisation frontal angegriffen. 1870 war das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündet worden. In einer Epoche des ansteigenden Nationalismus musste die Kirche als fremde Macht erscheinen, die, von Rom aus gesteuert, ihre Mitglieder teilweise der staatlichen Souveränität zu entziehen versuchte. In dieser Lage gab es nicht nur in Deutschland „Kulturkämpfe“. Selbst in rein katholischen Ländern, etwa Spanien und Portugal, verlor die Kirche wegen ihrer extrem konservativen Haltung an Zuspruch und Einfluss. Im republikanischen Frankreich und im Königreich Italien, das gegen den Widerstand und auf Kosten des Kirchenstaates geeinigt worden war, verhinderte die Tatsache einer großen katholischen Bevölkerungsmehrheit nicht den Dauerkonflikt zwischen Kirche und „laizistischem“ Staat. Religion blieb also ein politisches Thema.
Auf der anderen Seite der Bilanz stehen Integrationskräfte wie die Ausweitung der Elementarschulbildung, die Expansion nationaler Öffentlichkeiten durch die Massenpresse und die Erleichterung erschwinglichen Reisens durch die Eisenbahn. Es war eine weltgeschichtliche Neuerung, dass erstmals auf einem ganzen Kontinent die allgemeine Schulpflicht und ein kostenloses Elementarschulwesen zumindest in der Theorie eingeführt wurden. In den skandinavischen Ländern, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Österreich war um 1910 der Analphabetismus bis auf kleine Reste verschwunden. Südeuropa (wozu im italienischen Fall nur der Süden des Stiefels gerechnet werden kann) blieb dahinter weit zurück. Primarschulen dienten dem Zweck, Staatsbürger mit elementaren Kulturtechniken und mit Qualifikationen für die Arbeitswelt auszustatten. Sie dienten auch dadurch der nationalen Integration, dass sie eine einheitliche Nationalsprache vermittelten. Selbst in dem kulturell ungewöhnlich einheitlichen Frankreich war erst gegen Ende des Jahrhunderts das Hochfranzösisch als allgemeines Verständigungsmedium durchgesetzt.
Die Herrscher von Imperien erkannten, dass Kommunikation dem Zusammenhalt ihrer Reiche zugute kam. Andererseits leisteten die Untertanen gegen eine solche Homogenisierungspolitik nicht selten Widerstand. In Irland, das seit 1801 zum Vereinigten Königreich gehörte, aber in vieler Hinsicht quasi-kolonial dominiert wurde, pflegten Nationalisten das Gälische und die keltische Kultur. Auf die Einführung russischsprachiger Elementarschulen in Polen reagierten die Katholische Kirche und die „Zivilgesellschaft“ mit dem Aufbau einer „Untergrundwelt“ von illegalen polnischen Schulen, die etwa ein Drittel der polnischen Familien erfasste und der vor allem Bauern ihre Lese- und Schreibkenntnisse verdankten.
Während die Nationalstaaten trotz aller Schwierigkeiten ihren inneren Zusammenhalt stärken konnten, hatten die politischen Zentren in den drei östlichen Vielvölkerreichen mit steigenden Integrationsproblemen zu kämpfen. Das Osmanische Reich befand sich seit etwa 1700 auf dem territorialen Rückzug. Um 1900 kontrollierte der Sultan nur noch Kleinasien, Armenien, Mesopotamien, die Levante, die Ostküste des Roten Meeres und den südlichen Balkan. Bis 1914 waren die Gebiete auf dem europäischen Kontinent bis auf Istanbul und sein Hinterland verloren. Die Habsburgermonarchie bewahrte ihre Grenzen, ja, erweiterte sie 1908 durch die Annexion Bosniens; das Zarenreich dehnte sich in Asien weiter aus. Dennoch befanden sich alle drei in einem ähnlichen imperialen Dilemma. In der modernen Welt genügte es nicht mehr, ein großes Reich durch die Loyalität regionaler Führungsschichten zum Kaiser in der Hauptstadt zusammenzuhalten. Eisenbahnbau, Industrialisierung (wie begrenzt auch immer) und die Ideologie des Nationalismus, die auf politischer Autonomie für einzelne Sprachgruppen beharrte, kamen destabilisierend hinzu. Je energischer eine imperiale Zentralregierung durch Reformen, die übrigens oft mit Steuererhöhungen verbunden waren, ihr Reich modernisieren und damit überlebensfähig machen wollte, desto größer wurden die Widerstände in den Provinzen und inneren Kolonien.

Mächtekonflikte und Rüstungswettlauf

Der Krieg, der mit der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 in Sarajevo sein auslösendes Moment fand und der ab dem 4. August ein Krieg war, an dem sich erstmals seit 100 Jahren sämtliche europäischen Großmächte beteiligten, brach in Europa aus. Koloniale Spannungen in Asien und Afrika spielten in seiner unmittelbaren Entstehungsgeschichte keine ausschlaggebende Rolle. Der Krieg war deshalb von Anfang an ein „Welt“-Krieg, weil das British Empire als Ganzes in ihn involviert war, Großbritannien also mit der Unterstützung durch die an Ressourcen reichen Dominions rechnen konnte. Indem Japan, das Osmanische Reich und 1917 schließlich auch die USA in ihn eintraten, wurde der Krieg Schritt für Schritt immer globaler. Seine Ursachen lagen in Europa. Sie können hier nur angedeutet werden.
Die seit jeher strittige „Kriegsschuldfrage“ lässt sich extrem vereinfacht so beantworten: Keine der Großmächte war „unschuldig“, und die Bereitschaft, einen gesamteuropäischen Krieg zu riskieren, war in Wien und Berlin besonders groß. Nur wenige Menschen in Europa ahnten vor dem Sommer 1914, wie fürchterlich ein allgemeiner europäischer Krieg werden würde. Andererseits wiegten sich nur Träumer in der Illusion, er würde sich bereits nach wenigen Wochen oder Monaten beenden lassen. Der Krieg war nicht unvermeidlich. Vieles sprach sogar kurz vor 1914 noch dafür, dass er ausbleiben könnte. Zwar gab es keine vereinbarte Weltfriedensordnung, keine politische Weltorganisation (wie sie erstmals 1919 mit dem Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen, entstehen sollte) und keine funktionierenden Mechanismen der Konfliktschlichtung. Doch es war den politischen und erst recht den wirtschaftlichen Eliten in allen europäischen Großmächten klar, dass die Fortsetzung von Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichem Wandel Frieden voraussetzte. Seit 1871, als der letzte größere Krieg in Europa endete, hatte sich das internationale System als relativ wandlungsfähig und flexibel erwiesen. Krisen waren immer wieder durch Kompromisse gelöst worden. Wo lagen die Elemente der Destabilisierung?

  • Erstens bestanden, durch ein Klima des allgegenwärtigen Nationalismus gefördert, Misstrauen und Verfeindung fort, etwa im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, wo beide Seiten den anderen als „Erbfeind“ sahen, oder im Dauerkonflikt zwischen Österreich-Ungarn und dem Zarenreich. Chancen zu einer aktiven Vertrauensbildung, etwa im deutsch-britischen Verhältnis, blieben ungenutzt. Instrumente der Krisenprävention waren kaum entwickelt.

  • Zweitens hatte die Industrialisierung auch das Militär erfasst. Die technische und industrielle Entwicklung setzte einen Rüstungswettlauf in Gang. Nach der allgemein herrschenden Auffassung benötigte ein Staat, um seine Interessen zu schützen, ein möglichst großes, mit möglichst moderner Artillerie ausgestattetes Heer (nur Großbritannien glaubte, auf eine solche Riesenarmee verzichten zu können). Zusätzlich zum Wettrüsten auf dem Lande provozierte das Deutsche Reich durch seinen Schlachtflottenbau eine Rüstungseskalation zur See, die es trotz eines enormen finanziellen Einsatzes gegenüber der dominierenden Seemacht Großbritannien nicht gewinnen konnte.

  • Drittens unterlag das Militär nicht überall einer verlässlichen demokratischen Kontrolle. In Frankreich und Großbritannien war dies weitgehend der Fall. In Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland bildete das Militär indes eine von der zivilen Politik kaum zu bändigende unabhängige Macht. Es fand Unterstützung durch einen öffentlichen Militarismus, der, obwohl unterschiedlich stark ausgeprägt, in keinem der europäischen Länder fehlte. Frieden wurde damals in Europa als moralischer und politischer Wert nicht sehr hoch geschätzt. Die Friedensbewegung (der Pazifismus), prominent vertreten durch Bertha von Suttner (1843-1914), hatte so gut wie keinen Einfluss auf die aktuelle Politik.

  • Viertens pflegten vor allem das Militär und seine Propagandisten die Vorstellung, aufgrund der industriellen und rüstungstechnologischen Dynamik würde sich die machtpolitische Position des eigenen Staates in näherer Zukunft verschlechtern. Chancen seien daher zu nutzen, so lange noch Zeit sei. Dies begünstigte ein Denken in Kategorien des Präventivkriegs, wie es in der deutschen Militärführung besonders stark ausgeprägt war. Nach dem Selbstverständnis der Beteiligten war eine solche Haltung defensiv, also „Vorwärtsverteidigung“. Das Präventivdenken konstruierte Zeitzwänge und begünstigte die Gefahr, unkontrollierbare Dominoeffekte auszulösen, wie es dann mit einer schnellen Kette von Mobilmachungen ab dem 28. Juli 1914 auch geschehen sollte. Es hing eng zusammen mit der paranoiden Vorstellung, von Gegnern „eingekreist“ zu sein oder sich durch einen „Befreiungsschlag“ neuen Handlungsspielraum schaffen zu müssen.

  • Fünftens verbreitete sich in den Jahren vor Kriegsbeginn in der europäischen Öffentlichkeit eine eigentümliche Stimmung, die man „heroischen Fatalismus“ nennen könnte: die Überzeugung, dass in einer immer komplizierter werdenden Welt durch Krieg eine gewisse Klärung und Vereinfachung der Verhältnisse herbeizuführen sei. Besonders auf der politischen Rechten wurden manche des langweiligen zivilen Lebens müde und sehnten sich nach neuen Gelegenheiten zu heldischer Bewährung. Diese Einstellung war keineswegs allgemein verbreitet; man sollte sie nicht zu einem „kollektiven Traum vom Krieg“ hochstilisieren. Immerhin jedoch machte sie Krieg denkbar. Als ab 1911 eine Reihe von Entscheidungen fielen, die den Krieg realistischer machten, fehlte in den maßgebenden Führungszirkeln – letztlich wurde über den Krieg in kleinsten Gruppen an den Staatsspitzen entschieden – und in der Öffentlichkeit die moralische Kraft zum Widerstand. Die neu auftretende Massenpresse wirkte selten als Stimme mäßigender Vernunft. Viel eher heizte sie aggressive Emotionen noch weiter auf.

  • Dieser heroische Fatalismus fand, sechstens, einen besonderen Nährboden in Vorstellungen von einem „Rassenkampf“, die über einen konventionellen Nationalismus hinausgingen. Französische und russische Politiker fürchteten einen expansiven „Pangermanismus“, deutsche und österreichische Staatsmänner sahen einen erstarkenden „Panslawismus“ am Horizont (und vermuteten russische Unterstützung hinter der Provokation Österreichs durch Serbien 1914); sogar ein „Panturkismus“ wurde zuweilen als Drohung empfunden. Die öffentlichen Verkünder solcher Visionen in den verschiedenen Ländern spielten sich gegenseitig in die Hände und heizten damit ein mentales Klima an, das Krieg zunehmend denkbar machte.
    Siebtens hatte der Krieg einen konkreten Entstehungsraum, den Balkan. Hier mischten sich mehrere Faktoren, die das internationale System an die Grenze seiner Belastbarkeit trieben: der aggressive Nationalismus der kleinen Balkanvölker; die allseitige Furcht, der beschleunigte Zerfall des Osmanischen Reiches würde ein Machtvakuum schaffen, von dem andere Großmächte profitieren könnten; schließlich die Angst der habsburgischen Führung, der Zerfall, ja die Zerstörung des Osmanischen Reiches nehme das kommende Schicksal Österreich-Ungarns vorweg.

Rüstungsausgaben 1905-1913

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Truppenstärken der europäischen Armeen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges

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Die Welt 1880-1914

Massenauswanderung und Globalisierungsschub

Der Erste Weltkrieg war weniger eine logische Konsequenz aus dem Globalisierungsschub, der ihm vorausging, als vielmehr ein katastrophaler Einbruch in diese Entwicklung, die dann auch für längere Zeit zum Stillstand kam. Unter „Globalisierung“ versteht man die gleichzeitige Zunahme von Interaktionsdichte und Interaktionsgeschwindigkeit über große Entfernungen hinweg, letztlich in planetarischem Umfang. Seit seinem Beginn im 16. Jahrhundert ist dieser Globalisierungsprozess durch eine Reihe von Schüben vorangebracht worden. Ein besonders wichtiger fand in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg statt. Von den technologischen Grundlagen in Verkehr und Telegrafie war bereits die Rede. In welchen anderen Formen zeigte sich die verstärkte Globalisierung um die Jahrhundertwende?
Besonders auffällig ist die immense Zunahme der interkontinentalen Migration. Kollektive Wanderungen – auch Zwangswanderungen wie der atlantische Sklavenhandel – gehören zum Bild der gesamten Neuzeit. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichten sie quantitativ eine neue Dimension. Große Wanderungen zu Lande fanden im Zarenreich statt. Dort war 1861 die Bindung der Bauern an die „Scholle“ aufgehoben worden. Innerhalb der folgenden zehn Jahre strömten rund 13 Millionen Landbewohner in die Großstädte und Bergbaugebiete Russlands, wo in diesen Jahren die Industrialisierung begann. Umfangreicher und auffälliger waren die Atlantiküberquerungen.
Die europäische Auswanderung in die Neue Welt hatte in den 1820er-Jahren bedeutend zugenommen. Während des gesamten Zeitraums zwischen circa 1820 und 1930 (als die Weltwirtschaftskrise die Migrationsströme abbrechen ließ) überquerten 50 bis 55 Millionen Menschen den Atlantik, die meisten von ihnen, um sich in Amerika permanent anzusiedeln. Während desselben Zeitraums verließen ungefähr 42 bis 48 Millionen Inder und Südchinesen ihre dicht bevölkerten Heimatländer und suchten Arbeit in Südostasien (die Inder in Burma, die Chinesen in Indonesien), Afrika, der Karibik oder dem Westen der USA. Diese beiden Migrationssysteme, das atlantische und das asiatische, wurden in ähnlicher Weise von zwei Hauptfaktoren angetrieben: (1) der Flucht der Menschen vor Elend und – ganz besonders im Falle der jüdischen Auswanderer aus dem Zarenreich – vor Verfolgung sowie (2) den Beschäftigungsanreizen, die von boomenden Hochlohnsektoren in Übersee ausgingen.
Die Wirtschaft der USA schien für Immigranten aus Europa (besonders viele kamen nach 1870 aus Deutschland, Ost- und Südeuropa) unbegrenzt aufnahmefähig zu sein, während die USA, Kanada und Australien zu dieser Zeit Asiaten, vor allem Chinesen, durch scharfe Einwanderungsgesetze abzuwehren begannen. Die USA boten Verdienstmöglichkeiten in allen Bereichen ihrer Wirtschaft. In anderen wichtigen Einwanderungsländern wie Argentinien, Uruguay und Brasilien konzentrierten sich europäische Einwanderer in der Landwirtschaft. Enger war der Beschäftigungsspielraum für Inder und Chinesen. Sie wurden für die harte körperliche Arbeit auf Plantagen eingesetzt, die nun in vielen Gegenden der Tropen zur Gewinnung von Exportprodukten entstanden. Chinesen spielten auch eine große Rolle beim Eisenbahnbau im Westen der USA. Die beiden Migrationssysteme unterschieden sich vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen war im asiatischen System der Anteil derjenigen größer, die nach einigen Jahren in ihre Heimatländer zurückkehrten. Zum anderen war die transatlantische Migration mittlerweile vollkommen „frei“, während beim sogenannten Kulihandel ein höheres Maß an Zwang ausgeübt wurde und die Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter sich von der mittlerweile verbotenen Sklaverei nicht grundlegend unterschieden.
Die großen Wanderungen, von denen der Hauptteil nach 1880 erfolgte, führten dazu, dass riesige landwirtschaftliche Flächen neu erschlossen wurden und einige der dynamischesten Sektoren der Weltwirtschaft, zum Beispiel die Industrie der USA und die tropische Plantagenwirtschaft, jenen Zustrom an Arbeitskräften erhielten, der ihnen Wachstum garantierte. Dort, wo die Immigranten dauerhaft in ihren Gastländern blieben, stellten sich Probleme der ethnischen Integration, die ganz unterschiedlich gelöst wurden. Manchmal lebten Einwanderergruppen (durchaus auch aus freien Stücken) in geschlossenen Gemeinschaften unter sich (z. B. in „Chinatowns“ oder in „Little Italies“ innerhalb verschiedener amerikanischer Großstädte). Manchmal zeigte, vor allem in der zweiten Generation, der berühmte Schmelztiegel-Effekt seine Wirkung. In den USA war er insgesamt stärker als die Trennung (Segregation) der Immigranten nach Herkunftsgemeinschaften. Der absolute Höhepunkt der transatlantischen Migration wurde im Jahrzehnt zwischen 1901 und 1910 erreicht, als sich über 13 Millionen Europäer in der Neuen Welt niederließen. Solche Zahlen waren nur möglich, weil mittlerweile die Schifffahrtstarife drastisch gefallen waren und die großen Reedereien spezielle Kapazitäten für die Bewältigung des riesigen Auswandererverkehrs aufgebaut hatten.
Zu derselben Zeit erreichte auch der weltweite Warenhandel einen Höhepunkt seines Volumens und seines Werts. In welchem Maße mittlerweile ein eng verdichteter weltwirtschaftlicher Zusammenhang entstanden war, zeigte sich daran, dass sich Preisverschiebungen auf einem regionalen Teilmarkt unverzüglich auf Märkten am anderen Ende der Welt auswirkten. Die Preise glichen sich also im globalen Maßstab aneinander an. Geografisch war der Welthandel selbstverständlich ungleich verteilt. 1913 betrug Europas Anteil am Weltaußenhandel knapp zwei Drittel. Auf Asien entfielen 11 Prozent, auf Lateinamerika 7,6 Prozent, auf Afrika nur 3,7 Prozent des grenzüberschreitenden Handels. Die Kolonien bestritten also nur einen relativ kleinen Teil des internationalen Warenverkehrs. Sie exportierten zumeist landwirtschaftliche Rohstoffe sowie Mineralien (besonders wichtig: Gold und Diamanten aus Südafrika). Umgekehrt waren sie Absatzmärkte für die Erzeugnisse der europäischen und nordamerikanischen Industrie. Obwohl die USA mittlerweile zum größten Industrieproduzenten geworden waren, lagen sie auch noch im landwirtschaftlichen Export an der Spitze. Zur Ernährung der Weltbevölkerung trugen Weizenexporte aus den USA, Kanada und Argentinien entscheidend bei. Burma und Vietnam wiederum dienten als Reiskammern für große Teile Asiens.
Dass der Nordatlantik die Achse der Weltwirtschaft bildete, zeigte sich auch an den Kapitalströmen. Europäisches Kapital wurde vor allem in den USA angelegt. Es ist aber erstaunlich, wie global das Weltfinanzsystem vor dem Ersten Weltkrieg geworden war. Für europäische Sparer war es völlig normal, über ihre Banken und den weltweit führenden Londoner Kapitalmarkt ihre Ersparnisse in argentinischen Eisenbahnaktien, chinesischen Staatsanleihen oder südafrikanischen Bergbaubeteiligungen anzulegen. Das war mittlerweile leicht zu organisieren, und die Hochkonjunktur in Verbindung mit dem kolonialen Zugriff auf abhängige Ökonomien und Regierungen sicherte eine verlässliche Dividende.

Einwanderer in die USA von 1820 bis 1961

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Die Aufteilung Afrikas

Die erstaunlichste Veränderung der politischen Landkarte nach 1880 erfolgte durch die koloniale Besetzung Afrikas. Zwischen 1881 und 1890 geriet der größte Teil des riesigen Kontinents unter europäische Kontrolle. Mit der Verwandlung des Königreichs Marokko in ein französisches Protektorat wurde diese Aufteilung Afrikas 1912 faktisch abgeschlossen. Nur Äthiopien, das 1896 einer italienischen Armee eine militärische Niederlage zugefügt hatte, und Liberia in Westafrika, seit 1847 als Zufluchtsort von Afro-Amerikanern eine unabhängige Republik, blieben von europäischer Herrschaft frei. Standen vor 1880 nur Algerien als französische Besitzung und Südafrika sowie die Stadt Lagos in Nigeria als britische Kolonien unter fremder Herrschaft (die Präsenz der Portugiesen in Angola und Mosambik war überaus lückenhaft und schwach), so regierten dort zehn Jahre später überall europäische Gouverneure.
Das vorkoloniale Afrika war nicht in fest umrissenen Territorien organisiert. Es bestand aus Hunderten oder gar Tausenden politischen Einheiten, die sich weniger aus der Beherrschung von Raum als aus der Kontrolle von Fürsten und Häuptlingen über Anhänger und Untertanen definierten. Diese kaleidoskopartige politische Landschaft wurde innerhalb weniger Jahre zu etwa 40 Gebietseinheiten reduziert und eingefroren. Ihre Grenzen, die zum Teil in der Dekolonisation nach 1956 übernommen wurden und heute noch Gültigkeit haben, wurden von den Kolonialmächten ohne Beteiligung der Einheimischen willkürlich festgesetzt.
Was interessierte die Europäer an Afrika? Der Kontinent war zu arm und zu dünn besiedelt, um als Absatzmarkt für die Produkte der europäischen Industrie in Frage zu kommen. Nach dem Ende des Sklavenhandels waren Güter wie Palmöl auch ohne Kolonisierung in den internatio-nalen Handel gelangt. Der Zugriff auf andere Ressourcen war durchaus ein Motiv der Europäer, doch besetzten sie auch riesige Landflächen, in denen nichts zu holen war. Als stärkste Beweggründe bleiben die Suche nach nationalem Prestigegewinn durch Kolonienerwerb, der Glaube, das „primitive“ Afrika sei ohnehin zur Spielwiese der zivilisatorisch überlegenen Europäer bestimmt, sowie eine schiere Kettenreaktion. Sobald eine Kolonialmacht begonnen hatte, ihre Position in Afrika zu verbessern, fürchteten die anderen, ins Hintertreffen zu geraten. Es war mehr ein chaotisches Wettrennen um Vorteile als eine wohlüberlegte Verteilung der Beute.
Diese Kettenreaktion hatte 1881 am militärstrategisch wichtigen Südrand des Mittelmeeres begonnen. Frankreich erklärte ein Protektorat über Tunesien. 1882 nutzte Großbritannien das Aufkommen einer nationalistischen Bewegung, um Ägypten zu unterwerfen, ein Land, das sich zuvor durch unbedachte Modernisierungsprogramme in Frankreich und Großbritannien hoch verschuldet hatte. Großbritannien erleichterte die internationale Billigung seines ägyptischen Coups, indem es den Ambitionen seiner Rivalen im restlichen Afrika keine Hindernisse in den Weg legte. Bismarck seinerseits förderte die Ablenkung des außenpolitischen Interesses weg von Mitteleuropa und eignete sich nebenbei „Schutzgebiete“ für Deutschland an. Ein besonders aggressiver Akteur war der belgische König Leopold II. (1835-1909, r. ab 1865), der sich von den Großmächten das riesige Kongo-Becken als Privatkolonie zuteilen ließ. In diesem „Kongo-Freistaat“ wurde eine extrem brutale Raubwirtschaft eingeführt. Die Proteste in der internationalen Öffentlichkeit gegen diese „Kongo-Gräuel“ wurden so stark, dass der belgische Staat 1908 dem eigenen König die Kolonie abnahm.
Große Teile Afrikas wurden durch Eroberungskriege unterworfen, bei denen den Europäern der Monopolbesitz des Maschinengewehrs und der Seuchenschutz durch Chinin zugute kamen. Nach der Eroberungsphase setzte in der Regel ein zweites Stadium ein, in dem unter friedlicheren Bedingungen die wirtschaftliche Ausbeutung systematisch organisiert wurde. Dabei spielten geografische Unterschiede eine große Rolle. Einige Teile Afrikas, wie zum Beispiel das Hochland von Kenia, eigneten sich klimatisch für Viehzucht und die Besiedlung durch Weiße. Anderswo stand die Anlage tropischer Plantagen im Vordergrund. Die Entdeckung großer Goldvorkommen in Südafrika (besonders im Transvaal) 1886 machte diesen Landstrich in der Sicht der Ausländer zum wirtschaftlich wertvollsten Teil des Kontinents. Mit Ausnahme Algeriens und Südafrikas wurde Afrika nie zum Ziel einer nennenswerten europäischen Auswanderung. Kolonialherrschaft durfte nur wenig kosten, zumal dann, wenn die jeweilige Kolonie ökonomisch unergiebig war. Deshalb wurden große Teile Afrikas – und dies in sämtlichen europäischen Kolonialreichen – nach der Methode der sogenannten indirekten Herrschaft regiert, wie sie zuvor schon gegenüber den indischen Fürstenstaaten praktiziert worden war. Danach übte der Gouverneur mit seinem kleinen Regierungsstab eine Art von Oberhoheit aus und sicherte durch Militär und Polizei den Landfrieden, überließ aber die Herrschaft auf lokaler Ebene, das Justizwesen und teilweise auch die Steuereintreibung afrikanischen Partnern. Dies waren teils die bisherigen Herrschaftsträger, die sich nun in eine koloniale Hierarchie eingeordnet fanden, teils neue „starke Männer“, die von den Kolonialherren ernannt wurden. Nur auf diese Weise ließ sich der riesige Kontinent mit relativ wenig europäischem Personal unter Kontrolle halten.
Mit Soldaten, Administratoren und Kaufleuten kamen auch christliche Missionare, die in einigen Fällen als erste in unwegsame Landesteile vorstießen. Die christliche Mission war ein fester Bestandteil der europäischen Präsenz. Missionare äußerten sich aber auch zuweilen kritisch gegenüber den Exzessen europäischer Herrschaftsausübung. Sie brachten durch den Kampf gegen verbliebene Reste von Sklaverei, durch Missionsschulen, medizinische Versorgung und zuweilen durch eine Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung von Frauen wichtige Elemente der Moderne nach Afrika. Andererseits war die Mission dort problematisch, wo sie Afrikaner zwangsweise ihren einheimischen Traditionen entfremdete, wo sie Familien trennte und Wohlfahrtsleistungen nur im Tausch für Bekehrung anbot. Das Christentum fasste in den außerislamischen Gebieten Afrikas viel fester Fuß als in Asien, wo es heute mit Ausnahme Südkoreas und der Philippinen nirgendwo eine große Rolle spielt. Im Afrika hingegen überlebte es vielfach die Kolonialzeit.
Da die Afrikaner in europäischen Augen auf einer besonders tiefen Stufe der „Leiter der Zivilisiertheit“ – ein im 19. Jahrhundert beliebtes Schema, um die Welt zu ordnen – angesiedelt waren, wurden keinerlei Versuche unternommen, sie an der Macht zu beteiligen. Vor 1914 konnte sich kaum ein Europäer ein Afrika ohne weiße Herren vorstellen.

Imperialismus...

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QuellentextDas koloniale Wirtschaftssystem in Afrika

[...] Die frühe Kolonialwirtschaft [...] war ein Konzessionssystem, an dem sich vor allem große Kolonialgesellschaften beteiligten. Oftmals handelte es sich um Handelshäuser, die selbst angesichts zunehmender Unsicherheit staatlich-militärische Unterstützung angefordert und in Erwartung kolonialer Inbesitznahmen spekulativ Ländereien durch Unterhandlung und Verträge mit indigenen Führern erworben hatten. Diese Verträge begründeten zwar nach afrikanischen Vorstellungen kein freies Eigentum, wurden aber gegenüber der europäischen Öffentlichkeit als römisch-rechtliche Titel interpretiert.
Das betraf beispielsweise Deutsch-Ostafrika, das deutsche Kamerun, Französisch-Äquatorialafrika und den Kongo-Freistaat des belgischen Königs Leopold II. Dabei gab es zwei Varianten: In einigen Fällen hatten die Gesellschaften den Auftrag, die gesamte Kolonie auf eigene Rechnung und unabhängig von der Metropole zu verwalten. [...] In anderen Gebieten erhielten die Gesellschaften freie Hand lediglich in einem Teil der Kolonie, die Hoheit verblieb bei der staatlichen Kolonialverwaltung. [...] Dem Staat sparte das Modell Kosten an Erschließung und Verwaltung, für die Gesellschaften bot sich die Möglichkeit zu Geldanlage und Spekulation. Die Gesellschaften sammelten das Geld von Kleinanlegern in Europa, die anfangs überzogene Erwartungen an Profite in Afrika hegten, und finanzierten daraus die Übernahme riesiger Gebiete, die zunächst zum großen Teil gar nicht erschlossen, geschweige denn wirtschaftlich genutzt werden konnten. Dieses System wurde in den deutschen Kolonien schon seit 1884 praktiziert, kam aber in anderen Bereichen erst seit Mitte der 1890er Jahre in Schwung und brach bereits vor dem Ersten Weltkrieg wieder zusammen. [...]
Im [...] Kongo [...] hatte Leopold II. eigenmächtig Land erworben und sich mit Hilfe der Berliner Westafrika-Konferenz 1884/85 alle Rechte für seine „Internationale Afrika-Gesellschaft“ gesichert. Um die Erträge zu steigern, wurde die Kolonie von 1892 an zweigeteilt und zum großen Teil regelrecht privatisiert. Der Kongo-Staat Leopolds behielt sich nur die Ausbeutung noch unkultivierten Landes vor, dieses Gebiet blieb anderen privaten Investoren verschlossen. Das Konzessionsland teilte sich unter sieben Gesellschaften auf, an denen Leopold wiederum beteiligt war. Diese Gesellschaften warfen auf der Basis der Erträge von Kautschuk und Elfenbein anfangs enorme Dividenden ab. In Französisch-Äquatorialafrika wurde auch nach dem Vorbild des Kongo seit den späten 1890er Jahren ein ähnlicher Weg beschritten. Allerdings teilte sich eine größere Zahl kleiner privater Gesellschaften, insgesamt 40 Kompanien, das ausgegebene Land auf. Auf diese Weise kamen an die 80 Prozent des Territoriums in die Gewalt der Gesellschaften. In Kamerun übernahmen de facto nur zwei Gesellschaften [...] rund die Hälfte des Territoriums. [...] Die Konzessionsgesellschaften waren zunächst keine reinen Handelsgesellschaften und auch keine Plantagengesellschaften, sondern sie konzentrierten sich darauf, Afrikaner zur Jagd und zur Sammelwirtschaft zu zwingen. Wilder Kautschuk, Elfenbein und Hölzer wurden auf diese Weise gewonnen und exportiert. In den Jahren von 1895 bis 1905 wuchs der Export von Kautschuk aus dem Kongo-Freistaat von 2,8 Millionen auf 43,7 Millionen belgische Francs, aus Französisch-Äquatorialafrika von 1896 bis 1906 von 2,6 auf 8,6 Millionen französische Francs. Die Gesellschaften konnten anfangs hohe Dividenden verteilen.
Die Erträge wurden mit erheblichen ökologischen und sozialen Kosten erkauft. Kautschukbestände gerieten in Gefahr, und ganze Elefantenherden wurden durch die Jagd nach Elfenbein bedroht. Die erzwungene Umstellung auf Sammelwirtschaft erschütterte die Sozialstruktur bäuerlicher Dorfgemeinschaften. Vor allem im Kongo gingen die Konzessionsgesellschaften und das Militär, belgische Offiziere ebenso wie afrikanische Soldaten, mit größter Brutalität und Grausamkeit gegen die Bevölkerung vor, um ihre Ziele zu erreichen. Verfolgungen und Plünderungen, Verstümmelungen und Ermordungen waren an der Tagesordnung. In Europa mehrten sich die kritischen Berichte. Prominente wie Sir Arthur Conan Doyle engagierten sich, internationale Kommissionen und Gesellschaften, etwa die Congo Reform Association, berichteten über die „Congo-Gräuel“, Joseph Conrad hat sie in „Herz der Finsternis“ (1902) verarbeitet. Dabei verbanden sich wirtschaftliche und humanitäre Argumente. Aufgrund britischen und amerikanischen Drucks übernahm im Jahr 1908 der belgische Staat den Kongo. Hier wie im französischen Bereich wurden nun die Rechte der Konzessionsgesellschaften beschnitten. Diese verloren administrative Aufgaben und wurden vom Staat stärker kontrolliert. Der Verfall der Kautschuk-Preise seit 1907, der mit der Finanzkrise in den USA und der wachsenden Konkurrenz südostasiatischen Plantagenkautschuks in Zusammenhang stand, zwang die Afrika-Gesellschaften ebenfalls zur Umstellung. [...]
Nachdem die frühe Raub- und Beute-wirtschaft, bei der Eroberer, Abenteurer, Handelsgesellschaften und ihre Vertreter vor Ort bestrebt waren, ohne Investitionen für Plantagen oder Verkehrswege möglichst schnell hohe Erträge aus den Kolonien zu ziehen, gescheitert war, begannen mit dem staatlichen Zugriff in einer zweiten kolonialwirtschaftlichen Phase, in einigen Regionen schon vor 1900, Versuche der Inwertsetzung des Kolonialbesitzes. In einer dritten Phase, die nach der Jahrhundertwende einsetzte [...], wurde die koloniale Wirtschaftspolitik zunehmend von der Einsicht geleitet, dass ein schonender Umgang mit den Ressourcen und den Menschen Afrikas, eine rationale und humane Kolonisation, letztlich im Interesse der Kolonialmacht selbst liege. [...] Über kurz oder lang gingen alle Kolonialmächte dazu über, Konzepte zu entwickeln, die aus den Kolonien quasi ein ökonomisches Zulieferterritorium für das Mutterland machen sollten. [...]

Winfried Speitkamp, Kleine Geschichte Afrikas, Stuttgart: Reclam, 2007, 2009, S. 263 ff.



Imperialismus in Ost- und Südostasien

Die Ausdehnung des europäischen Einflusses in Asien war weniger spektakulär als die Unterwerfung Afrikas. Zum einen gingen die Anfänge der Kolonialgeschichte einiger Gebiete Asiens bis in das späte 16. Jahrhundert zurück; zum anderen wurden einige Teile Asiens vor 1914 keiner europäischen Kolonialherrschaft unterworfen. Dazu gehörten die Türkei, die Levante, Arabien, Iran, Afghanistan, die inneren Provinzen Chinas, Siam (das heutige Thailand) und selbstverständlich Japan.
Abgesehen von Indien, wo die Briten keine Konkurrenz zu fürchten hatten, war Südostasien der am intensivsten kolonisierte Teil des Kontinents. Überall hatten sich Europäer bereits vor 1870, oft lange Zeit davor, festgesetzt. In den Jahrzehnten danach wurde die europäische Kontrolle nur noch in entlegenere Landesteile vorangeschoben und durch Ausbau der Kolonialverwaltungen effektiver und damit für die Untertanen vielfach bedrückender gestaltet. Burma und Malaya mit dem Hafen Singapur waren britisch, Vietnam, Laos und Kambodscha, 1887 zu einer Union Indochinoise zusammengefasst, französisch. Die Niederländer kontrollierten Java, Sumatra, Borneo und zahlreiche andere indonesische Inseln. Die USA lösten 1898 die Spanier als Kolonialherren auf den Philippinen ab. All diese Kolonien hatten wenig Verbindung untereinander. Wenn es Gemeinsamkeiten gab, dann erstens die ungewöhnlich starke Ausrichtung auf dem Weltmarkt, unter anderem durch industriell verwertbare Rohstoffe wie Zinn und Kautschuk (zur Herstellung von Gummi verwendet), zweitens die wachsende Rolle, die chinesische Minderheiten im Wirtschaftsleben der Kolonien spielten.
China entwickelte sich in eine andere Richtung. Auch hier kam es wie wenige Jahre zuvor in Afrika zu einem „scramble“, einer Balgerei unter den Großmächten, an der neben nahezu sämtlichen Westeuropäern auch Russland, die USA und Japan beteiligt waren. Es drehte sich aber nur sekundär um Territorien, wichtiger waren Sonderrechte („Konzessionen“), welche die chinesische Regierung zur Anlage von Eisenbahnen oder zum Betrieb von Bergwerken vergab. Anders als in Afrika, aber dem Osmanischen Reich vergleichbar, waren lukrative Anleihegeschäfte mit der chinesischen Regierung sehr beliebt. Die Konditionen waren dabei für den Kreditnehmer äußerst ungünstig. Die Gläubigerländer ließen sich gewisse Kontrollrechte über die chinesischen Staatsfinanzen einräumen. Diese Mechanismen der Abhängigkeit waren wesentlich wichtiger als ein territorialer Kolonialismus.
Ein solcher erlangte erst dann große Bedeutung, als die besonders rohstoffreiche und zugleich landwirtschaftlich fruchtbare Mandschurei ins Zentrum der internationalen Rivalitäten rückte. Im Zuge der Niederschlagung des Boxeraufstandes von 1900/01 besetzte Russland große Teile der mandschurischen Provinzen. Nachdem es aber schon 1905 Japan im Russisch-japanischen Krieg, einem Auslöser der russischen Revolution von 1905, unterlag, musste es diese Positionen großenteils wieder räumen. Nun setzte sich Japan in der Süd-Mandschurei fest und baute diese Region durch Investitionen zum führenden schwerindustriellen Zentrum ganz Asiens aus. Die rohstoffarme Wirtschaft der japanischen Inseln schuf sich damit jenseits des Meeres eine verlässliche Versorgungsbasis. Im Grunde trug erst die japanische Expansion auf dem ostasiatischen Festland ein starkes territoriales Element in die Aktivitäten der imperialistischen Mächte in China hinein.
In China herrscht bis heute eine verständliche Empörung über die „Schmach“, die dem Land von den imperialen Mächten im 19. Jahrhundert zugefügt wurde. Es muss dabei jedoch gesehen werden, dass die Einbindung Chinas in die Weltwirtschaft viel schwächer blieb als in den Fällen Indiens, Südostasiens oder Südafrikas. China war zu arm, um die Hoffnungen derjenigen im Westen erfüllen zu können, die in ihm einen gigantischen Absatzmarkt sahen. Nach dem Ende der Opiumimporte in den 1870er-Jahren hat es diese Funktion als Markt nie wieder gespielt. Auf der anderen Seite produzierte China – außerhalb der auf Japan hin umgepolten Mandschurei – sehr wenige weltmarkttaugliche Produkte. In mancher Hinsicht war seine Verwicklung in den globalen Handel in der frühen Neuzeit stärker gewesen. Denn seine klassischen Exportgüter verlor das Chinesische Kaiserreich an seine asiatischen Konkurrenten: Japan trat an Chinas Stelle als wichtigster Exporteur von Rohseide und Seidenstoffen, während Indien (Assam im Nordosten des Subkontinents) und Ceylon (Sri Lanka) es auf dem Weltmarkt für Tee verdrängten.
Als dynamischeste imperiale Kraft in Ostasien erwies sich die neue Großmacht der Region, Japan. Neben seinem dominierenden Einfluss in der Mandschurei sicherte es sich die Herrschaft über zwei weitere Schlüsselregionen: ab 1895 über die fruchtbare Insel Taiwan und ab 1910 über Korea, das viele Jahrhunderte lang als Tributstaat zur chinesischen Einflusssphäre gehört hatte. Das japanische Kolonialreich war Mitte 1913 mit rund 20 Millionen Einwohnern nur unwesentlich größer als das deutsche (12 Millionen). Es stand damit weit hinter dem niederländischen (50 Millionen) und dem französischen (48 Millionen) Reich, vom British Empire (395 Millionen, davon 20 Millionen in den Dominions) ganz zu schweigen. Doch die japanisch kontrollierten Gebiete waren von besonderem wirtschaftlichem Gewicht. Japan war spätestens seit seinem unerwarteten Sieg über Russland 1905 in den Kreis der Großmächte aufgestiegen. Es war zu dieser Zeit allein aus eigener Anstrengung und sogar ohne nennenswerte Anleihen auf dem internationalen Kapitalmarkt zum einzigen Land Asiens mit einem stabilen industriegestützten Wirtschaftswachstum geworden. Die Strategie, durch eine Kombination eigener Traditionen und aus dem Westen importierter Kultur-elemente das Land – so die Parole der damaligen Zeit – „reich und stark“ zu machen, hatte sich ausgezahlt. Japan entging der Kolonisierung und erwarb sich in Europa einen Ruf als „Preußen des Ostens“. Obwohl seit 1889 ein Verfassungsstaat, blieb es eine Monarchie mit einer solch starken Regierungsexekutive, dass dem Parlament kaum wirksame Kontrollmöglichkeiten blieben. Anders als im sonst ähnlich verfassten Deutschen Reich, gab es vor 1919 in Japan kein allgemeines Männerwahlrecht. In Japan regierten im Grunde bis zum Ersten Weltkrieg jene Oligarchen aus dem inzwischen abgeschafften Samurai-Adel, die 1868 das Land auf den Pfad umfassender Erneuerung geführt hatten. Das in Asien einzigartige politische System Japans war ein ziemlich effizientes und sehr autoritäres System von rudimentär rechtsstaatlichem Charakter, das auf den beiden Säulen Militär und Bürokratie ruhte und der Bevölkerung nur geringe Mitsprachemöglichkeiten ließ. Immerhin war das System damit demokratischer als die Herrschaftsordnungen in den Kolonien der Europäer oder zur gleichen Zeit in China.

QuellentextKoreas „Jahr der Schande“

[...] Am 22. August 1910 hatte Japans Statthalter den Königspalast in Seoul vorsorglich von Truppen umstellen lassen. Dann unterschrieben er und Koreas Ministerpräsident Yi Wan-yong den Annexionsvertrag, den sie in den Tagen zuvor ausgearbeitet hatten. Bei Sushi und Sake verfassten sie Gedichte auf die künftige Freundschaft. Erhalten ist eine Schriftrolle von Yis Hand mit Versen des Duos über den „süßen Frühlingsregen“ zur Vereinigung der „zwei Völker in einem Haus“.
Allen national gesinnten Koreanern gilt dieser „Regen“ als die Sintflut, 1910 als das „Jahr der Schande“ und Yi Wan-yong als der größte Finsterling ihrer Geschichte. Die von ihm signierte Fremdherrschaft dauerte 35 Jahre. [...]
Unmittelbar bevor Korea zur japanischen Kolonie wurde, war es ein Agrarland. Mehr als 80 Prozent der Einwohner arbeiteten in der Landwirtschaft. [...]
Dem Einbruch des technisch überlegenen Westens in Ostasien, der die alte Ordnung dort überall hinwegspülen sollte, hielt das „Einsiedlerreich“ am längsten stand. In Japan dagegen zerbrach das feudalistische System schon in den 1860er Jahren; unter dem neuen Kaiser Meiji eignete sich das Land mit ungeahnter Effizienz die Wunder der westlichen Technologie an – und die Waffen des Imperialismus.
1875 erteilten die Japaner Korea die erste Lektion, die sie gut 20 Jahre zuvor vom US-Kommodore Matthew Perry gelernt hatten. Der war mit Geschützsalven von seinen „schwarzen Schiffen“ in der für Ausländer verbotenen Tokyoter Bucht gelandet und hatte das Land durch einen einseitigen Vertrag geöffnet. Nach seinem Vorbild schickten die Musterschüler nun ein Kriegsschiff zu Koreas Insel Kanghwa, feuerten eine Salve auf deren Bewacher und ließen eine ganze Flotte folgen.
Mit dieser Drohung zwangen sie dem kaum gerüsteten Nachbarland 1876 das nach der Insel benannte Abkommen von Kanghwa auf. Es folgte dem Modell der „ungleichen Verträge“, mit dem die Kolonialmächte am Ende der Opiumkriege (1858/60) China gedemütigt hatten. Korea musste drei Häfen für den Handel mit Japan öffnen. Japanische Schiffe durften von nun an in koreanischen Gewässern Vermessungen vornehmen. Japanische Bürger in Korea mussten sich nicht vor den dortigen Gerichten verantworten. Japans Währung durfte ins Land. Koreas Einsiedlerzeit war vorbei.
Nach Japans Eindringen sicherten sich auch die USA, Großbritannien, Deutschland und Russland vertragliche Sonderrechte für ihre Bürger, Konsulate, Hafenkonzessionen. Die nach Korea einströmenden neuen Moden und Ideen spalteten seine Führungsschicht. Traditionsgebundene Politiker sahen in allen Fremden und Reformern Verräter an der konfuzianischen Identität. Ihnen standen junge Idealisten gegenüber, die das Land mit nationalem Stolz umgestalten wollten, doch statt eigener Konzepte nur Tokyos autoritäre Modernisierung als Vorbild sahen.
Ein Heer japanischer Konsultanten und koreanischer Helfer schickte einen Reformentwurf nach dem anderen zur Unterzeichnung an König Kojong. Per Dekret wurden Klassenunterschiede reduziert, es wurde die Kleidung modernisiert, das Justizwesen reorganisiert, die lange Pfeife als Statussymbol der Yangbang, der Oberschicht, verboten. Japanische Berater zogen in die Ministerien ein.
Palastwirren, Mordanschläge, Aufstände begleiteten den Verschmelzungsprozess. Tokyo setzte wiederholt Truppen in Bewegung. Auch das chinesische Reich griff mit Soldaten ein, die, als Koreaner verkleidet, der Königin Min gegen die Fortschrittsanhänger zu Hilfe kamen. Am Ende führten Tokyos expansive Ansprüche zum Krieg zwischen Japan und China. Auch da triumphierte das System der straff zentralistisch organisierten Reformen: China unterlag an allen Fronten. Im April 1895 musste das Reich der Mitte auf Koreas Tributzahlungen ebenso verzichten wie auf die Insel Taiwan. Sie fiel mit anderen strategisch wichtigen Gebieten an Japan. [...]
Mit seiner Expansion hatte sich Japan auf die Weltbühne gedrängt. Dort lief noch das Great Game, die Konfrontation zwischen England und Russland, die vom Nahen Osten bis Ostasien reichte. London, das Japan von seinen Kolonien in Fernost fernhalten wollte, ließ Tokyos Gesandten im Juli 1902 wissen: „Die Regierung Seiner Majestät erkennt Japans Sonderinteressen in Korea an.“ Schon im Jahr zuvor hatte Zar Nikolaus II. dem Bruder des deutschen Kaisers, Prinz Heinrich, geklagt: „Ich möchte Korea auch nicht haben, aber ich kann es nicht zulassen, dass die Japaner dort einen Brückenkopf bauen ... Das wäre der Casus Belli.“
Den sahen beide Staaten im Februar 1904 gegeben. Obwohl Korea seine Neutralität erklärt hatte, besetzten japanische Truppen das Land und bauten Bahnlinien für den Krieg gegen das Zarenreich. Zugleich tauchte ein neuer „Mitspieler“ auf: die USA. Noch bevor Russlands verheerende Niederlage besiegelt war, schloss Washington mit Tokyo im Juli 1905 das geheime TaftKatsura-Abkommen. Darin versicherte Japan sein Desinteresse an den von Amerika kontrollierten Philippinen; Washington bekundete Verständnis für Tokyos Griff nach Korea.
Beim Friedensvertrag einen Monat später stand US-Präsident Theodore Roosevelt Pate: Russland, das in der Seeschlacht bei Tsushima fast seine gesamte Flotte verloren hatte, musste zustimmen, „dass die japanische Regierung in Korea ... die Führung, den Schutz und die Aufsicht übernimmt“. So wurde Japan, wie es der US-Historiker Bruce Cumings formulierte, „der gesalbte Träger der weißen Zivilisation in Ostasien“.
[...] Im Herbst 1905 kamen hohe japanische Politiker mit einem Protektoratsvertrag nach Seoul. Die koreanischen Minister sollten ihn im umstellten Palast unterschreiben. Premier Han Kynsol protestierte, worauf ihn Gendarmen aus dem Raum zerrten.
Durch das Protektorat zog Japan die Macht im Lande an sich. Koreas Armee wurde aufgelöst. Einige ihrer Kommandanten und hohe Beamte nahmen sich das Leben. 17 700 Partisanen fielen zwischen 1907 und 1909. Vergeblich appellierte Kaiser Kojong an die Weltmächte, Koreas Unabhängigkeit zu retten. 1907 setzten ihn die „Protektoren“ ab und seinem mental beschränkten Sohn Sunjong die Krone auf.
So war der Annexionsvertrag vom 22. August 1910, dem die Absetzung Kaiser Sunjongs sieben Tage später folgte, nur noch der Gnadenstoß. [...]

Christian Schmidt-Häuer, „Die koreanische Tragödie“, in:
Die Zeit, Nr. 34 vom 19. August 2010



Der Aufstieg der USA zur Weltmacht

Kein anderer Vorgang auf der internationalen Bühne sollte solch weitreichende Konsequenzen haben wie der Aufstieg der USA nach dem Bürgerkrieg. Um 1870 waren die USA ein allgemein respektierter Koloss ohne größeren Einfluss auf das Weltgeschehen außerhalb des eigenen Kontinents. 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, wurde erstmals der amerikanische Präsident, damals Woodrow Wilson, als der mächtigste Mann der Welt anerkannt, der der Friedensregelung für Europa und den Nahen Osten seinen Stempel aufdrückte. Während der fünf Jahrzehnte, die zwischen diesen Daten lagen, hatten die USA einen doppelten Aufstieg erlebt, wirtschaftlich und machtpolitisch. Dabei ging die ökonomische Erstarkung der politischen zeitlich voraus und war überhaupt deren Voraussetzung. Die USA waren ein Industrialisierer der zweiten Generation gewesen. Nun zogen sie an dem Pionier Großbritannien vorbei. 1870 betrug der britische Anteil an der weltweiten Industrieproduktion 32 Prozent, derjenige der USA 23 Prozent, der deutsche 13 Prozent. 1913 war Großbritannien mit 14 Prozent auf den dritten Platz hinter Deutschland (16 Prozent) und den USA (36 Prozent) zurück gefallen. Die Industrie war in den USA stets gleichzeitig mit der Landwirtschaft gewachsen. Nur außerordentliche Produktivitätszuwächse im agrarischen Bereich machten es möglich, eine dank hoher Geburtenraten und immenser Einwanderung schnell wachsende Bevölkerung zu ernähren und zugleich Arbeitskräfte für die Industrie und den Dienstleistungssektor freizusetzen. Der geografische Schwerpunkt der Industrie lag im Nordosten, in Neuengland und in den Staaten südlich der Großen Seen. Kaliforniens Aufstieg zur Industrieregion hatte um 1900 gerade erst begonnen. Andere Staaten entwickelten ihre besonderen Marktnischen. So wurde Petroleum zum dynamischesten Sektor in Texas und Oklahoma.
Die Großen Ebenen in der Mitte des Kontinents verwandelten sich in die wichtigsten Gegenden der agrarischen Expansion. In gigantischem Ausmaß wurde – wie gleichzeitig in den Schwarzerdegebieten des Zarenreiches – Grasland unter den Pflug genommen. Das Leben der Siedlerfamilien auf ihren oft isolierten Höfen war anfangs hart. Bald kam ihnen aber die Einführung von Maschinen (etwa Mähbindern) zugute, die früher als in Europa erfolgte – auch deshalb, weil in den USA Arbeitskräfte knapp waren. Die Landwirte auf ihren Farmen teilten sich die großen Flächen mit Ranchern, die eine Viehwirtschaft größten Stils aufzogen (als Folge wiesen die USA den höchsten Fleischkonsum der Welt auf). Dabei ging es keineswegs immer friedlich zu. Die klassischen Konflikte des „Wilden Westens“ spielten sich in einem „Frontier-Viereck“ ab: Ackerbauern, Viehzüchter, indianische Nomaden und Staatsmacht.
Das schnelle Wirtschaftswachstum der USA, das dem Land im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts – mit Mark Twain gesagt – ein „vergoldetes Zeitalter“ (Gilded Age) bescherte, war möglich dank der unbeschränkten Verfügbarkeit von Land und Arbeit, dank umfangreicher europäischer Investitionen und einer hohen einheimischen Sparquote und dank der Existenz eines riesigen inneren Marktes, den der Staat nach außen durch Zollmauern schützte. Die individuellen Vermögen, die nun in den USA durch Unternehmer wie den Ölbaron John D. Rockefeller (1839-1937) oder den Stahlindustriellen Andrew Carnegie (1835-1919) angehäuft wurden, überstiegen alles aus Europa Bekannte. Die arbeitende Bevölkerung profitierte von steigenden Reallöhnen, hatte aber kaum die Möglichkeit, ihre Interessen durch Gewerkschaften und politische Parteien zu vertreten.
Der außenpolitische Aufstieg der USA ergab sich mit einer Zeitverzögerung aus ihrem einzigartigen ökonomischen Gewicht. Friedliche Beziehungen mit dem Nachbarn Kanada im Norden entlasteten die USA von den für Europa typischen Streitigkeiten am Gartenzaun. Gegenüber Lateinamerika und der Karibik nahm die USA zunehmend die Haltung des arroganten und rücksichtslosen „Yankee“ ein, der seine Geschäftsinteressen energisch verfolgte und im Notfall die Washingtoner Regierung interventionsbereit hinter sich wusste. 1904 ermächtigte Präsidenst Theodore Roosevelt (1858-1919, Präsident 1901-09) die USA pauschal zur Ausübung einer „internationalen Polizeigewalt“, in erster Linie gegenüber den schwächeren Ländern des amerikanischen Südens. Auf der Landenge von Panama sicherten sich die USA souveräne Rechte und gruben dort einen Kanal zwischen den Ozeanen, der 1914 eröffnet wurde. 1898 siegten sie in einem Krieg über Spanien und eigneten sich nach einem Krieg gegen eine nationale Unabhängigkeitsbewegung die ehemals spanische Kolonie der Philippinen an. Das bis dahin ebenfalls spanische Kuba wurde in der Folgezeit zu einer Art von Protektorat der USA. Die Vereinigten Staaten, selbst aus einem antikolonialen Befreiungskampf hervorgegangen, waren zu einer Kolonialmacht geworden. Ihre globalen Wirtschaftsinteressen gingen weit über das kleine Kolonialreich hinaus. Dass die USA einmal in einen europäischen Krieg eingreifen würden, war im Sommer 1914 freilich noch undenkbar. Spätestens 1917, als dies geschah, begann in einem weltpolitischen Sinne das 20. Jahrhundert.

QuellentextArm und Reich in den USA

Nachdem die Grenzpioniere von einst verschwunden sind, suchen sich die Menschen in den Vereinigten Staaten neue Helden: erfolgreiche Geschäftsleute, Erfinder und Großindustrielle. [...] Sie sind Selfmade Men in bester amerikanischer Tradition. Geschickt haben sie den Boom nach dem Bürgerkrieg genutzt, um sich gigantische Vermögen zu erwirtschaften, zunächst im Eisenbahngeschäft, später auch in anderen Bereichen. Es ist die Zeit von unglaublich mächtigen und reichen Männern wie John D. Rockefeller (1839-1937), der das Ölgeschäft dominiert, Andrew Carnegie (1835-1919), der die Stahlherstellung unter seiner Kontrolle hat, J. P. Morgan (1837-1913), einem Bankier, der in fast allen Geschäften seine Finger hat, und von Eisenbahnbaron und Spekulant Jay Gould (1836-1892), der die unregulierten Aktienmärkte nach Belieben manipuliert. Viele dieser Männer kommen aus einfachen Verhältnissen oder sind Einwanderer. Sie haben das geschafft, wovon in Amerika jeder träumt, und für ihre Erfolge werden sie von der Gesellschaft gefeiert und bewundert. Der Mythos, man könne es in den USA vom Tellerwäscher zum Millionär bringen, hält sich hartnäckig bis heute, obwohl solche Erfolgsgeschichten die Ausnahme geblieben sind.
The Gilded Age, „Das vergoldete Zeitalter“ tauft Mark Twain diese Zeit. [...] Einen bestimmten Markt komplett zu beherrschen, ist der Traum der meisten Industriekapitäne. Dafür verschmelzen sie zahlreiche kleinere Firmen zu sogenannten Trusts. Diese Konzerne haben so viel Macht, dass kaum noch jemand etwas gegen sie ausrichten kann. Widerstand ist buchstäblich zwecklos. Mit den Eisenbahnnetzen fängt es an, viele andere Branchen folgen.
Ihren Reichtum stellen die Industriebarone ungeniert zur Schau. Von außen sehen ihre Anwesen aus wie Schlösser, innen prunken sie mit Marmor und Gold. [...]
Ein schlechtes Gewissen hat keiner der Industriebarone. Sie finden ihre moralische Rechtfertigung in der jahrzehntelang sehr einflussreichen Philosophie des Sozialdarwinismus, die behauptet, dass auch die Gesellschaft sich in einer Art Evolution zur Vollkommenheit weiterentwickelt. Das geschehe, so der englische Philosoph Herbert Spencer (1820-1903), indem sich die Starken durchsetzen. Forsch beanspruchen daher die reichen Industriellen, die Gesellschaft voranzubringen und Gutes zu bewirken. Eine ganze Reihe von ihnen widmet sich im Ruhestand tatsächlich guten Werken und spendet einen Teil ihres Vermögens. Carnegie gründet fast 3000 Bibliotheken, Rockefeller spendet 500 Millionen Dollar. Doch das kann die Spur der Zerstörung, die sie und andere skrupellose Firmenlenker hinterlassen haben, nicht übertünchen. Die Gesellschaft ist völlig aus dem Lot: zwei Prozent der Amerikaner besitzen zwei Drittel der Werte, dafür leben zwei Drittel der Bevölkerung dicht an der Armutsgrenze und schuften – Kinder ebenso wie Erwachsene – zwölf oder mehr Stunden täglich, sechs Tage in der Woche, in den Fabriken, den Minen und Stahlwerken. Zu miserablen Löhnen und fast ohne Rechte. [...]
Da sich die Städte rapide ausdehnen – allein New York ist in den zwanzig Jahren nach dem Bürgerkrieg um das Zehnfache gewachsen –, zeigt sich die Armut hier am deutlichsten. Viele Menschen müssen in Elendsvierteln leben, zusammengepfercht in schmutzigen, düsteren Mietshäusern. Knöcheltief liegt der stinkende Müll in den Innenhöfen. In den überfüllten, winzigen Wohnungen ohne Küche oder Bad breiten sich Krankheiten wie Tuberkulose und Typhus aus, einen Arzt können sich die meisten Bewohner nicht leisten. Das Leben ist hier so ungesund, dass beispielsweise in einem Chicagoer Einwandererviertel drei von fünf Kindern während des ersten Lebensjahres sterben. [...]
Das ändert sich erst, als Theodore Roosevelt (1858-1919) im Jahr 1901 Präsident wird. [...] Er verspricht den Amerikanern Fairness für alle. Damit bekennt er sich zu den Zielen der Progressives (was übersetzt etwa soviel heißt wie „die Fortschrittlichen“), einer neuen Partei, die Teil einer großen Reformbewegung ist. Nach den turbulenten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts halten die USA zu Beginn des neuen Jahrhunderts inne und beginnen darüber nachzudenken, woran es liegt, dass das Land von solchen Krisen geschüttelt wird. Ein Umdenkprozess in Richtung einer sozialeren Demokratie beginnt. Schritt für Schritt wenden sich die politischen Vordenker von der Philosophie des Laisser-faire ab. Die Progressives, die von der Mittelklasse und den Republikanern getragen werden, sehen es nun als Aufgabe des Staats, dafür zu sorgen, dass es den Menschen gut geht. [...]
Dass die Progressives es schließlich schaffen, das Land wieder auf einen besseren Kurs zu bringen, ist aber nicht nur das Verdienst von Politikern wie TR, sondern auch von Journalisten. „Muckraker“ – „Dreckwühler“ taufte Roosevelt sie halb verächtlich, halb liebevoll, weil sie ihre Nase immer dorthin stecken, wo im übertragenen Sinne irgendetwas faul ist. Die „Muckraker“ schaffen es, die ganze Nation auf Missstände aufmerksam zu machen und in Empörung darüber zu versetzen. Auf diese Weise beseitigen sie viele Widerstände, die den Reformen entgegenstehen.
[...] Roosevelt und die „Muckraker“ können [...] zufrieden sein. Auch wenn die Macht des Big Business eher noch gewachsen ist, gibt es dank der kritischen Berichte nun bessere Gesetze gegen unfaire Geschäftsmethoden, für Schutz am Arbeitsplatz, gegen Kinderarbeit und vieles andere.

Sylvia Englert, Cowboys, Gott und Coca-Cola, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 86 f.

Prof. Dr. Jürgen Osterhammel ist seit 1999 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die neuere Geschichte Chinas, die Geschichte internationaler und interkultureller Beziehungen, Kolonialismus, Imperialismus sowie Ideengeschichte, Historiographiegeschichte und Geschichtstheorie. Sein Buch Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München 2009, 5. Aufl. 2010) wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Gemeinsam mit Akira Iriye (Harvard) ist er Herausgeber einer sechsbändigen Geschichte der Welt (München 2012 ff.).
Derzeitiges Forschungsgebiet: Raum- und Zeitstrukturen historischer Prozesse, vor allem am Beispiel des 19. Jahrhunderts. Jüngste Buchveröffentlichungen: mit Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 7., neubearb. Aufl., München 2012;
mit Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, 5. Aufl., München 2012 (amerikanische Ausgabe 2005);
mit Fritz Stern (als Hg.): Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 2011.