Bei der neunten Direktwahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 erreichten CDU/CSU und SPD zusammen nur 44,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Damit kamen die beiden Volksparteien zum ersten Mal bei einer bundesweiten Wahl nicht mehr auf 50 Prozent. Und nach den Umfrageergebnissen der vergangenen Wochen würden Union und SPD auch bei den kommenden Bundestagswahlen unter diesem Wert liegen. So gelangten sieben Umfrageinstitute in der Zeit zwischen dem 28. Mai und dem 16. Juni zu einem Durchschnittswert von knapp über 40 Prozent für beide Parteien zusammen (CDU/CSU 27,6 Prozent, SPD 15,1 Prozent).
Der elektorale Verfall der beiden großen Parteien war – ungeachtet einer bereits nachlassenden Bindekraft vor der deutschen Einheit 1990 – so nicht abzusehen, hatten doch die Volksparteien über viele Jahrzehnte erheblich zur Stabilität des Landes beigetragen. Der Einbruch in der Wählergunst erfolgte erst in den vergangenen 30 Jahren, und er fiel bei der SPD deutlicher aus als bei der Union. Der Beitrag thematisiert einerseits die Ursachen und Konsequenzen dieser Entwicklung. Andererseits fragt er nach Möglichkeiten, diesen Niedergang aufzuhalten und die stabilisierende Funktion der Volksparteien zu bewahren. Neben einem knappen Fazit wird abschließend auch ein vergleichender Blick ins Ausland gewagt. Zunächst geht es jedoch darum, den Begriff der Volksparteien zu klären.
Was sind Volksparteien?
Die Frage, was "Volksparteien" eigentlich sind, ist leichter zu stellen als zu beantworten – und in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten. Der Parteiensoziologe Alf Mintzel zeichnet in seinem Lehrbuch von 1984 die Diskussion über den Sinn und Unsinn des Begriffs "Volkspartei" in der Literatur nach. Er selber plädiert "für die konsequente Eliminierung des Begriffes ‚Volkspartei‘ aus der sozialwissenschaftlichen Fachsprache".
Der Begriff der Volkspartei kam erstmals im Kaiserreich auf, und zwar als Selbstbezeichnung durch das (links-)liberale Parteienlager (beispielsweise "Freisinnige Volkspartei", "Fortschrittliche Volkspartei"), das eine Abkehr von konservativen wie von sozialistischen Strömungen gleichermaßen suchte. In der Weimarer Republik benutzten auch konservative Parteien in ihren Namen das Wort "Volk". Und in der Bundesrepublik Deutschland tauchte es bei der Gründung von (bald wieder aufgelösten) Parteien ebenso auf, etwa der "Gesamtdeutschen Volkspartei" oder der "Freien Volkspartei". Die Paradoxie der Beispiele besteht darin, dass schon zu einem Zeitpunkt von Volksparteien gesprochen wurde, als es noch gar keine gab.
Im Folgenden soll von Volksparteien nur dann gesprochen werden, wenn drei Charakteristika erfüllt sind: Erstens muss eine Wählerschaft vorhanden sein, die einen beträchtlichen Anteil des Volkes ausmacht. Mindestens ein Viertel der Wähler sollte für die Partei votieren, und das bei mehreren Wahlen hintereinander. "Volksparteien ohne Volk"
Wer diese Kriterien zugrunde legt, sieht die drei staatstragenden Parteien in der Weimarer Republik nicht als Volksparteien an: Dem Zentrum, das bei Reichstagswahlen nie über 15 Prozent der Stimmen hinauskam, und der Deutschen Demokratischen Partei, die nie ein zweistelliges Ergebnis erreichte, fehlte es an einer Massenbasis,
Vor der Einheit
Das bundesdeutsche Parteiengefüge war nach 1945 gänzlich anders strukturiert als zuvor. Obwohl es mit der absoluten Mehrheitswahl im Kaiserreich und der strikten Verhältniswahl in der Weimarer Republik zwei völlig unterschiedliche Wahlsysteme gab, entstand jeweils ein buntscheckiges Vielparteiengefüge. Die Milieuparteien konnten außerhalb ihres Lagers nicht "punkten". 1945 ließen die Alliierten in ganz Deutschland vier Parteien zu: eine christliche, eine sozialdemokratische, eine liberale und eine kommunistische. Die CDU – der als belastet geltende Terminus "Volk" unterblieb im Namen – begriff sich von Anfang an als überkonfessionelle Partei, die damit die Position des auf den katholischen Bevölkerungsteil fixierten Zentrums überwinden wollte (in der Praxis dominierte zunächst, nicht zuletzt dank der Person Konrad Adenauers, freilich der Katholizismus), während sich die SPD im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg klar als Arbeiterpartei verstand.
War die erste Bundestagswahl 1949 noch stark von Weimarer Einflüssen geprägt
Verschiedene Gesichtspunkte begünstigten die Entwicklung zu Volksparteien, die sich, ungeachtet mancher Phasen der Polarisierung, etwa zwischen 1969 und 1972 beim Streit um die Deutschland- und Ostpolitik, programmatisch annäherten: Die Westbindung wurde allmählich als alternativlos angesehen, der wirtschaftliche Aufschwung ließ Kräfte gegen Union und SPD kaum reüssieren. Klassenunterschiede verschwanden nicht, doch ebneten sie sich ein. Parteiförmiger Extremismus hatte es mit Blick auf "früher" und mit Blick auf "drüben" schwer. War die SPD schon vor ihrer Kanzlerschaft 1969 in der Frage der Westbindung auf die Union eingeschwenkt, so steuerte diese nun ihrerseits – trotz anfänglich heftigen Widerstands – in der Frage der "Ostverbindung" auf die SPD zu. Und der FDP als "Weltkind in der Mitten" oblag eine Scharnierfunktion zwischen den Volksparteien.
Beide Parteien erbrachten über die Jahrzehnte hinweg beträchtliche Integrationsleistungen. Kümmerte sich die Union – aber, was oft übersehen wird, nicht ausschließlich sie
Nach der Einheit
Der friedlichen Freiheitsrevolution im Herbst 1989 folgte im Herbst 1990 die ebenso friedliche Einheitsrevolution. Vor allem die Union, auch die SPD, hatte einen großen Anteil daran. Zwar wurde das Parteiensystem des Westens auf den Osten übertragen, aber die Parteien hatten es schwer, dort Anerkennung zu finden. Zu den wichtigsten Gründen, die auf die Zeit vor wie nach 1990 zurückgehen, zählen ein starker Parteienverdruss im Osten, eine schwache Parteiidentifikation, ungefestigte Parteistrukturen sowie ein generelles Misstrauen gegenüber Organisationen. Im Westen erwies sich das Ende des Kalten Krieges "als Konjunkturprogramm für die Herausforderer der Volksparteien".
War bis zur deutschen Einheit entweder die Union oder die SPD in jedem Bundesland und bei jeder Landtagswahl klar die stärkste Partei
Insgesamt haben CDU und SPD bei allen Bundestagswahlen seit 1990 in den alten Bundesländern besser abgeschnitten als in den neuen
Wer nur auf das Abschneiden bei Wahlen schaut, lässt jedoch einen für die Integrationskraft der Parteien wesentlichen Faktor außer Acht: die sinkende Wahlbeteiligung. Sie hat viele Ursachen
Schließlich sinkt auch die Zahl der Mitglieder der Volksparteien. Hatte die SPD im Jahr 1990 943402 Mitglieder, waren es drei Jahrzehnte später nur noch 404305.
Oft gilt "der Osten" hinsichtlich der beschriebenen Tendenzen als Vorreiter für den Westen. Es wäre aber verfehlt, die Entwicklung seit 1990 vornehmlich als Reaktion auf die deutsche Einheit anzusehen.
Konsequenzen für die Regierungsbildung
Die notorische Schwäche der Volksparteien ist nicht nur beim Wahlverhalten erkennbar (weniger Stamm-, mehr Wechsel- und Nichtwähler), sondern hat auch Konsequenzen für die Regierungsbildung. In der "alten" Bundesrepublik führten Wahlen zu klaren Verantwortlichkeiten. Der Wähler wusste in der Regel, was mit seiner Stimme geschieht. Das galt für den Bund wie für die Länder.
Was paradox anmutet: Die Schwäche der Volksparteien begünstigt erst recht deren Einbeziehung in die Regierung, da aufgrund der Stärke von nicht als koalitionsfähig geltenden Randparteien, etwa der AfD, ansonsten keine Regierungsmehrheit zustande käme. Und dieser Sachverhalt führt zu Wählerverdruss. So ist beispielsweise die SPD nach der siebten Serie der Landtagswahlen im Osten zurzeit in allen Regierungen vertreten. Dabei sackte sie überall ab: in Mecklenburg-Vorpommern von 35,6 auf 30,6 Prozent, in Brandenburg von 31,9 auf 26,2 Prozent, in Sachsen-Anhalt von 21,5 auf 10,6 Prozent,
Um solche wiederkehrenden Regierungsbündnisse zu vermeiden, sollten Minderheitsregierungen, die im stabilitätsorientierten Deutschland über keine Tradition verfügen, in Erwägung gezogen werden,
Ursachen der Krise
Gewiss, mit dem Wort von der Krise wird viel Schindluder betrieben. Nicht jeder Wandel muss eine Krise sein. Aber in diesem Fall ist es angesichts der massiven Einbrüche bei Mitgliedern und Wählern eine solche von handfester Natur, jedenfalls für die Volksparteien selbst. Die Gründe für den augenscheinlichen Niedergang sind struktur- wie situationsbedingt, exogener wie endogener Art.
Zu den strukturellen Ursachen: Die Erosion des gewerkschaftlichen wie des konfessionellen Milieus trifft die Parteien gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen gilt dies für die quantitative Ebene (die Zahl der Gewerkschaftsangehörigen sinkt ebenso wie die der kirchlich organisierten Christen), zum anderen für die qualitative Ebene: Die Bindung der Verbliebenen an ihr Milieu ist weniger intensiv als früher. Das Sinken der Parteiidentifikation resultiert wesentlich aus der Zunahme gesellschaftlicher Individualisierung, die traditionelle lebensweltliche Bindungen zurückdrängt.
Zu den situativen Ursachen: Der prinzipiell nicht kritikwürdige "Drang der Volksparteien zur Mitte" hat sich als wenig hilfreich erwiesen. "Er ließ ein Vakuum an den rechten und linken Rändern des Parteiensystems entstehen, in das kleinere Parteien erfolgreich hineinstoßen konnten. Die Volksparteien mussten sich insofern fragen, ob sie ihre Fangnetze nicht an den falschen Stellen ausgeworfen hatten."
Die Union hat es unter Angela Merkel mit einer partiell sozialdemokratisierten Partei vernachlässigt, die eigene Stammwählerschaft zu bedienen. Die Gründe für das Aufkommen der AfD sind vielfältiger Natur, doch es erklärt sich unter anderem auch mit der Aufgabe früherer Positionen durch die CDU/CSU. Der Regierungspartei SPD wiederum ist es nicht gelungen, aus den Erfolgen der Großen Koalitionen (2005–2009, 2013–2021), die wesentlich auch ihre Erfolge waren, Nutzen zu ziehen; diese werden ihr schlicht nicht zugerechnet. Schon zuvor redete sie ihr originäres Reformwerk, die sogenannten Hartz-Reformen von 2002, schlecht – und sie tut es bis heute. Kein Wunder also, dass die Partei permanent Stimmen an die Konkurrenz verliert. Jüngste Fehler der Union und der SPD haben die Publizistin Susanne Gaschke dazu veranlasst, von einem "Massenselbstmord der deutschen Volksparteien"
Wiederkehr der Volksparteien?
Der Parteienforscher Oskar Niedermayer hat 2010 in einem programmatischen Beitrag von einer "Erosion der Volksparteien"
Eine Verallgemeinerung verbietet sich ohnehin. Die Union (die CSU mehr als die CDU) steht deutlich besser da als die SPD, die es mit der Konkurrenz von zwei linken Parteien zu tun hat. Bündnis 90/Die Grünen setzt die Sozialdemokratie in soziokultureller Hinsicht unter Druck, Die Linke in sozioökonomischer. Ein Fehler der SPD: Sie hört zu sehr auf ihre "Basis" und zu wenig auf ihre Anhänger- und potenzielle Wählerschaft.
Sollte die SPD die Charakteristika einer Volkspartei mehr und mehr verlieren, mag sich dies auch für die andere Volkspartei, die Union, negativ auswirken. Das muss nicht so sein, kann es aber. Denn erstens gelten die Faktoren, die zur fehlenden Bindekraft der einen Volkspartei beigetragen haben, ebenso für die andere; und zweitens bezieht die eine Partei ihre Legitimation vielfach aus der Existenz der anderen. Insofern ist aus Sicht der Union Freude über die dramatische Schwäche der SPD unangebracht.
Sollten die Grünen sich elektoral stabilisieren, könnten sie die SPD als Volkspartei ablösen. Doch dafür müssten sie ihre Programmatik öffnen, vermehrt Mitglieder gewinnen, das Image einer Ein-Themen-Partei stärker abstreifen, ihre gesellschaftlichen Netzwerke ausbauen sowie vor allem Wählerschichten gewinnen, die bislang nicht zu ihrer Klientel gehören, etwa Wähler vom "flachen Land" und aus der Arbeiterschaft.
Mit Blick auf die Frage nach dem richtigen Verhalten der Volksparteien gegenüber Minderheitenpositionen innerhalb der eigenen Partei gibt es unterschiedliche Auffassungen. Stärkt deren Einbeziehen die Volksparteien – oder schwächt es sie weiter? Um dies an einem aktuellen Beispiel zu erläutern: Als der Konservative Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Präsident des Verfassungsschutzes im Bund, seine Direktkandidatur in einem thüringischen Wahlkreis für den Bundestag ankündigte, gab es viele warnende Stimmen, die die CDU dadurch ins Abseits geraten sehen. Marc Felix Serrao, ein journalistischer Beobachter von außen, sah dies jedoch anders. Maaßen könne, so Serrao, "der alten Idee einer nichtlinken deutschen Volkspartei nach 16 Jahren Merkel wieder Leben einhauchen".
Die Volksparteien haben lange erfolgreich die Interessen der Bürger aggregiert, Konflikte kanalisiert, zwischen der staatlichen und der gesellschaftlichen Ebene vermittelt, einen auf Kompromissen basierenden Interessenausgleich angestrebt und für die Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates einen wichtigen Beitrag geleistet. Wer hier in Zukunft Erfolge zu verzeichnen versteht, fürwahr eine Herkulesaufgabe, kann die These widerlegen, der Niedergang der Volksparteien sei unumkehrbar.
Fazit und Ausblick
Die Volksparteien verlieren wegen ihrer stark nachlassenden Integrationskraft kontinuierlich an Mitgliedern und an Stimmen. Das hat negative Konsequenzen für sie wie für das politische System. Allerdings verbietet sich die – angesichts der Last der Vergangenheit gerne gezogene – Parallele zur Weimarer Republik. Damals hatten die Parteien der "Weimarer Koalition" (SPD, Zentrum, DDP) schon bei der ersten Reichstagswahl 1920 keine Mehrheit mehr. Und bei den beiden Reichstagswahlen 1932 erreichten NSDAP und KPD eine "negative Mehrheit" – die zwei Anti-Systemparteien hatten also zusammen eine Mehrheit im Reichstag. Heute sind die Verhältnisse ganz andere als damals: Das gefestigte politische System ist ungeachtet der Folgen der Flüchtlingskrise keine Schönwetterdemokratie mehr; die bisherigen Volksparteien Union und SPD sind immer noch tiefer gesellschaftlich verankert als die damaligen "demokratischen Integrationsparteien" Zentrum und SPD; die "absolutistischen Integrationsparteien"
Da Geschichte offen ist, sollte das apodiktische Diktum Peter Lösches vom "Ende der Volksparteien"
Wie der Blick auf andere europäische Länder nahelegt, ist Deutschland alles andere als ein Sonderfall. Bei der Wahl im März 2021 in den Niederlanden warteten die christdemokratische (CDA: 9,5 Prozent) und die sozialdemokratische Partei (PvdA: 5,7 Prozent) mit einstelligen Stimmergebnissen auf. In Italien zerfiel die Democrazia Cristiana, die über Jahrzehnte das politische Leben maßgeblich gestaltete, Anfang der 1990er Jahre in eine Vielzahl kleiner Gruppierungen, bis sie vom politischen Erdboden verschwand. In Frankreich und Österreich ist es charismatischen Politikern im Jahr 2017 gelungen, an die Macht zu gelangen. Hatte Emmanuel Macron nach Verlassen seiner Partei eine neue Bewegung ("En Marche") gegründet und die Präsidentschaft gewonnen, funktionierte Sebastian Kurz "seine" Österreichische Volkspartei erfolgreich zu einer "Liste Kurz" um. Regierte er zunächst mit der FPÖ, ist er seit Beginn des Jahres 2020 Kanzler einer Koalition mit den Grünen. In beiden Fällen spielte die Persönlichkeit eine dominierende Rolle. Der mediendemokratische Einfluss kann den parteiendemokratischen überlagern. Macron und Kurz mögen Vorreiter einer Entwicklung sein, wie sie sich in weiteren Demokratien anbahnt. Die Gretchenfrage lautet: Haben Macron und Kurz die Volksparteien "aufgehoben"? Vielleicht trifft eine dialektisch-salomonische Antwort im dreifachen Sinne zu: Solche Politiker bewahren Volkparteien, bringen sie durch mehr Partizipation auf eine höhere Ebene und beseitigen sie im herkömmlichen Verständnis.