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Editorial | Zustand der Demokratie | bpb.de

Zustand der Demokratie Editorial Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert Freiheit, Gleichheit, Zusammenhalt – oder: Gefährdet "Identitätspolitik" die liberale Demokratie? Aus dem Gleichgewicht. Zum Zustand demokratischer Öffentlichkeit Demokratie in Gefahr? Repräsentative Politik zwischen Demokratisierung und Entdemokratisierung Krise (und Ende?) der Volksparteien Demokratische Innovation durch Bürgerräte

Editorial

Christoph Rasemann

/ 2 Minuten zu lesen

Diagnosen einer Gefährdung der Demokratie sind so alt wie diese selbst. Dennoch häufen sich seit einigen Jahren Klagen über den Zustand der Demokratie hierzulande wie weltweit. Auch wenn diese oftmals wenig differenziert und in alarmistischem Ton vorgetragen werden, geben die Daten zur weltweiten Demokratieentwicklung tatsächlich Anlass zur Sorge: Nach den Indikatoren des Varieties of Democracy-Projekts (V-Dem) befinden sich seit 2012 – erstmals seit den 1960er Jahren – mehr Staaten in einem Autokratisierungs- als in einem Demokratisierungsprozess. Auch in einigen Staaten der Europäischen Union und in anderen etablierten Demokratien war die Qualität der Demokratie – gemessen etwa am Grundrechtsschutz und an der Gewaltenkontrolle – in den vergangenen zehn Jahren rückläufig.

Für Deutschland trifft dies zwar nicht zu, aber dennoch sind tiefgreifende Wandlungsprozesse demokratischer Institutionen auch hier unverkennbar: Die beiden ehemals großen Volksparteien, die über viele Jahrzehnte hinweg einen beträchtlichen Teil der Wahlbevölkerung hinter sich vereinen und stabile Regierungskoalitionen bilden konnten, verlieren kontinuierlich an Zustimmung. Gleichzeitig verändern die sozialen Medien die politische Kommunikation und die Funktionsweise der demokratischen Öffentlichkeit grundlegend. Das demokratische Potenzial einer Absenkung der Teilnahmebarrieren wird dabei allzu oft durch hate speech, Desinformation oder Algorithmen, die kommerziellen Interessen dienen, konterkariert.

Neben dem Umgang mit der Corona-Pandemie hat in jüngster Vergangenheit vor allem das Thema "Identität" Diskussionen über den Zustand der Demokratie ausgelöst. In der Öffentlichkeit vorgetragene Anklagen, die bestimmte Äußerungen oder Handlungen als diskriminierend kritisieren, werden von den einen als Einschränkung der Meinungsfreiheit und Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts empfunden, von anderen hingegen als Kampf um gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und damit als genuin demokratisches Anliegen verteidigt. Zusammenhalt kann es in der Demokratie – das zumindest sollte unstrittig sein – nur durch die Anerkennung aller Bürgerinnen und Bürger als Freie und Gleiche geben.