So eklatante und offensichtliche Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit, wie sie in nicht-demokratischen, autoritären oder gar diktatorischen politischen Regimes wie etwa Nordkorea, China oder aktuell etwa Afghanistan an der Tagesordnung sind, kennt man aus westlichen Demokratien nicht. Auch die gravierenden Verstöße gegen die Wissenschaftsfreiheit in uns näherstehenden Ländern wie der Türkei oder Ungarn müssen nicht zu dem Schluss führen, dass diese auch hierzulande und in anderen Kernländern der Europäischen Union ernsthaft gefährdet ist. Besorgniserregender ist die Aussicht, dass der Aufstieg rechtspopulistischer politischer Parteien über eine mögliche Regierungsbeteiligung dazu führt, dass diese ihre Wissenschaftsverachtung ausagieren können. Die Amtszeit Donald Trumps als Präsident der Vereinigten Staaten bot einiges Anschauungsmaterial, auch wenn das US-amerikanische Wissenschaftssystem insgesamt diese Phase gut überstanden hat. Das lag wohl auch daran, dass die Wissenschaftspolitik nicht Trumps oberste Priorität war – was bei der AfD sicher ähnlich wäre. Auf die Gnade des Desinteresses solcher politischen Kräfte sollte sich die Wissenschaft aber nicht verlassen.
Auch abseits solcher Extremszenarien kann die Wissenschaftsfreiheit, wenngleich verdeckter, etwa über finanzielle Entwicklungen, gefährdet werden. Sie ist jedenfalls in den zurückliegenden Jahren hierzulande und auch im europäischen Umfeld immer wieder Thema wissenschaftspolitischer Debatten gewesen.
Wandlungen des Universitätssystems
Betrachtet man als Erstes Wandlungen des Universitätssystems, lassen sich grob fünf Dimensionen unterscheiden, die eng miteinander verwoben sind: Recht, Organisation, Personal, Fachgemeinschaften und Finanzen. Letztere Dimension wird vertiefend behandelt.
Recht: Das Verständnis der verfassungsrechtlichen Garantie der Wissenschaftsfreiheit hat sich verschoben und ist seit den 1970er Jahren stärker umkämpft.
Organisation: Der Anspruch auf organisationale Trägerschaft von Wissenschaftsfreiheit geht darauf zurück, dass das Governance-Regime der Universitäten auf New Public Management umgestellt wurde.
Personal: In den vergangenen beiden Jahrzehnten kam es, im Zusammenhang mit dem starken Anwachsen der Studierendenzahlen und der Ausweitung der Drittmittelforschung, zu einer Aufstockung des wissenschaftlichen Personals der Universitäten – allerdings handelte es sich weit überwiegend um nicht-professorale Stellen.
Fachgemeinschaften: Eine wissenschaftsinterne Determinante von Wissenschaftsfreiheit liegt in der Verteilung von Einflusspotenzialen in den Fachgemeinschaften. Fachkolleginnen wirken vor allem auf zweierlei Weise bewertend auf die Forschung – weniger spürbar auf die Lehre – und die künftigen Forschungsmöglichkeiten eines Wissenschaftlers ein: indem sie dessen Publikationen rezipieren und zitieren oder eben nicht, und durch Mitwirkung im peer review von Projektanträgen, zur Veröffentlichung eingereichten Manuskripten und Bewerbungen auf Professuren. Dieser prinzipiell funktionstüchtige Mechanismus – Experten beurteilen individuelle Expertise – kann sich unter bestimmten, im Weiteren noch angesprochenen Umständen als Selbsteinschränkung von Wissenschaftsfreiheit erweisen, nämlich zu einem übervorsichtigen Konformismus mit dem ohnehin starken fachlichen Mainstream.
Finanzen und Wissenschaftsfreiheit
Die deutschen Universitäten sind seit Jahrzehnten chronisch unterfinanziert, und ein immer größerer Teil der knappen Geldmittel sind Drittmittel, die man sich im Wettbewerb beschaffen muss und über die man jeweils nur temporär verfügen kann.
Drittmittel stehen nur der Forschung zur Verfügung, während die Lehre aufgrund der nicht-auskömmlichen Grundausstattung in vielen Fächern und an vielen Standorten unter Betreuungsverhältnissen stattfindet, die Bemühungen um Qualität sehr enge Grenzen setzen.
Eine unzureichende Grundausstattung erzeugt in einer Förderlandschaft, die nicht in gleichem Maße zusätzliche Drittmittel bereitstellt, also eine starke Drittmittelabhängigkeit. Die dann eintretende verstärkte Drittmittelkonkurrenz kann unter anderem folgende Effekte zeitigen:
Erfahrene Wissenschaftler, insbesondere Professoren, werden immer mehr zu "Antragsprofis": Sie schreiben Anträge, statt selbst zu forschen und zu publizieren. Die Forschung wird hingegen von zu wenig angeleiteten Nachwuchswissenschaftlern geleistet. Das birgt die Gefahr eines Qualitätsverlusts der Forschung.
"Antragsprofi" heißt ferner: Man orientiert sich individuell zunehmend am Mainstream und an forschungspolitischen Modethemen und befleißigt sich überdies auch noch eines kollektiven Opportunismus, um erfolgreich Gelder einzuwerben. Jemand erforscht nicht die Fragen, zu deren Beantwortung er oder sie die besten Ideen und Fähigkeiten hat, sondern diejenigen, bei denen man am besten, möglichst in Verbünden, an Fördermittel kommt. Im Ergebnis läuft das immer mehr darauf hinaus, dass die meisten Professorinnen Projekte realisieren, die – gemessen an persönlichen Fähigkeiten und Interessen – allenfalls an dritter Stelle rangieren, mit entsprechenden Ergebnissen.
Im Zeitverlauf nehmen die Ungleichheiten der Drittmittelverteilung immer mehr zu. Einige wenige sitzen an den "Fleischtöpfen"; und bei vielen anderen wirkt ihre immer geringere Erfolgschance für eigene Anträge auf Dauer entmutigend. Manche müssen Forschung ganz aufgeben.
Solche Effekte können, wenn sie eine bestimmte Größenordnung annehmen, für die Wissenschaftsfreiheit, hier: die Forschungsfreiheit, zum einen bedeuten, dass Forschungsmöglichkeiten wegen Zeitmangel oder aufgrund von Erfolglosigkeit verhindert werden. Die radikalste Variante dessen kommt einem Entzug von Forschungsmöglichkeiten gleich. Zum anderen kann jemand unter Druck geraten, seine eigene Forschung so anzupassen, gleichsam zu verbiegen, dass er oder sie überhaupt noch forschen kann. Man nimmt eine Einschränkung der Themen-,
Wandlungen des gesellschaftlichen Umfelds
Von den drei hier angesprochenen für Wissenschaftsfreiheit relevanten Wandlungen des gesellschaftlichen Umfelds der Universitäten werden im Folgenden zwei – außerwissenschaftlicher Nutzen und Publikationswesen – kurz erwähnt, eine dritte, Diskurskontrollen, wird wieder vertiefend betrachtet.
Außerwissenschaftlicher Nutzen: Mit der Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend nicht nur innerwissenschaftlich weiter verwendet, sondern als entscheidende Produktionsfaktoren in allen gesellschaftlichen Sphären – keineswegs nur der Wirtschaft – benutzt. Sie sollen dort jeweils nicht-wissenschaftlichen Zielsetzungen dienen: Forschungsergebnisse der Produktion vermarktbarer Güter, der Krankenbehandlung oder der militärischen Schlagkraft, Lehre der Qualifizierung von Personal für alle anderen gesellschaftlichen Sphären. Solche Nutzenerwartungen hat es gegenüber Universitäten schon immer gegeben, und sie sind bis zu einem bestimmten Punkt legitim und gesellschaftlich funktional. Doch wenn etwa der "new mode of knowledge production"
Publikationswesen: Das wissenschaftliche Publikationswesen, das mit Fachzeitschriften und -büchern der weltweiten Kommunikation und Diskussion von Forschungsergebnissen dient, wird weitgehend durch gewinnorientierte Wirtschaftsunternehmen getragen. Hier hat ein jahrzehntelanger Konzentrationsprozess, verbunden mit der Digitalisierung, dazu geführt, dass weniger als ein halbes Dutzend globaler Großverlage das Kommunikationsnetz sämtlicher Natur- und Ingenieurwissenschaften in der Hand hält und diese Marktmacht zur Preistreiberei einsetzt. Nachdem es lange Zeit keine effektive Gegenwehr der Wissenschaft gab, schien die Digitalisierung zunächst Möglichkeiten zu bieten, das wissenschaftliche Publizieren selbst in die Hand zu nehmen und Artikel für Nutzer kostenlos per open access anzubieten. Allerdings haben inzwischen die Großverlage selbst open access als neues Geschäftsmodell entdeckt, aus dem sich noch mehr Profit schlagen lassen könnte – und zusätzlich lassen sich die "nebenbei anfallenden" Nutzungsdaten einzelner Publikationen an Hochschulleitungen und andere Evaluationsinstanzen, die Wissenschaftlerinnen bewerten wollen, vermarkten. Derzeit ist noch offen, welche Seite hier die Oberhand behält; sollten es die Verlage sein, könnten daraus massive Unterhöhlungen von individueller Wissenschaftsfreiheit erwachsen.
Diskurskontrollen und Wissenschaftsfreiheit
Während die sich verschlechternden finanziellen Rahmenbedingungen der Hochschulen Wissenschaftsfreiheit eher graduell und schleichend und damit unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle eingeschränkt haben könnten, hat eine andere Art der Gefährdung von Wissenschaftsfreiheit vergleichsweise viel und kontroverse Öffentlichkeit bekommen – und könnte deshalb in ihrer Wirkungskraft womöglich überschätzt werden. Gemeint sind Kontrollen des wissenschaftlichen Diskurses, wie sie in den USA als "Political Correctness" und "Cancel Culture" um sich gegriffen haben, aber inzwischen auch in Deutschland zu beobachten sind – etwa in Gestalt von Störungen von Vorlesungen oder von gegen Wissenschaftler gerichteten Shitstorms im Internet bis hin zu Morddrohungen, wie gegenüber dem Bremer Primatenforscher Andreas Kreiter.
Eine zunehmend bedeutsam gewordene Frontlinie hat sich zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vorgehensweisen auf der einen, hochgradig moralisierten kritischen Standpunkten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen auf der anderen Seite aufgetan. Diese Diskurskontrolle betrifft Lehr- und Forschungsfreiheit gleichermaßen. Das thematische Spektrum reicht von der Ablehnung von Tierversuchen oder der Kernenergie über die Ängste vor einer "synthetischen Biologie" bis hin zum Ausschluss weißer Männer von der Erforschung der Kolonialgeschichte. In all diesen und weiteren Feldern werden Forschungs- und Lehrfreiheit gleichermaßen durch Denk- und Sprechverbote infrage gestellt, und die Sanktion für eine – auch nur als Gedankenexperiment eines Advocatus Diaboli praktizierte – Verbotsübertretung ist ganz schnell öffentliche Ächtung. Bei einem Teil dieser Themen sehen sich die betroffenen Wissenschaftlerinnen nicht nur mit Gegnern außerhalb der Wissenschaft konfrontiert, sondern die Konfrontation durchzieht auch die Wissenschaft selbst – wenn sich etwa der heutige Mainstream der Klimaforschung verbittet, dass Kollegen es wagen, noch die geringsten Zweifel an ihren weitreichenden Zukunftsszenarien anzumelden, oder wenn Vertreter der Postcolonial Studies der europäischen Tradition gesellschaftstheoretischen Denkens nicht nur – was völlig berechtigt ist – kritische Fragen stellen, sondern pauschal das Rede- und Schreibrecht entziehen wollen.
Man hat es hier, soziologisch betrachtet, mit einem Konflikt zwischen "Etablierten" und "Außenseitern"
Aus Sicht der "Außenseiter" stellt sich das Geschehen diametral anders dar. Sie fühlen sich machtlos und verfallen auch deshalb in ihrer Kritik in Schuldzuweisungen. Die Wissenschaftsfreiheit, der gemäß in Wahrheitsfragen moralische Argumente keine Rolle spielen dürfen, sehen die "Außenseiter" als eine ideologische Farce, die Machtverhältnisse verschleiert. Eine radikale Variante dieser "Entlarvung" konstatiert grundsätzlich, dass Wahrheit immer nur die Wahrheit der Mächtigen ist – wer immer an der Macht sein mag. Eine auf den ersten Blick zurückhaltendere, aber genau besehen noch radikalere Lesart behauptet dies nur für das derzeitige wissenschaftliche "Establishment", kann sich also auch eine "wahre" Wahrheit vorstellen – insbesondere, wenn man selbst das Heft in der Hand hält.
Beide Seiten verachten in letzter Instanz die jeweils andere. Das ist kein guter Startpunkt für konstruktive Diskussionen. Wissenschaftsfreiheit hat in diesen Kontroversen einen schweren Stand, gerade wenn man in einem wissenschaftlichen Modus diskursiver Abwägung bleibt. Dieser zieht gegenüber dogmatischen Positionen, die mit ihrer unerschütterlichen moralischen Selbstgewissheit Stärke demonstrieren, im gesellschaftlichen Meinungskampf schnell den Kürzeren. Das zeigt sich zum einen hinsichtlich Themen und Herangehensweisen: Was soll in Lehre und Forschung wie wichtig sein? Welche Perspektiven auf diese Themen sind legitim oder illegitim? Wer darf diese Themen lehren und erforschen? Zum anderen sind, damit verknüpft, Personalia immer wieder Steine des Anstoßes: Welche politischen oder weltanschaulichen Positionen machen eine Wissenschaftlerin zur Persona non grata, und zu welchen Haltungen muss sie oder er sich bekennen, um keinen Anstoß zu erregen?
Gestaltung der Rahmenbedingungen von Wissenschaftsfreiheit
Die dargestellten, für Wissenschaftsfreiheit relevanten Wandlungen der Universitäten und ihres gesellschaftlichen Umfelds gehen teils auf intentionale Gestaltungsmaßnahmen zurück – allerdings oftmals in erheblichem Maße als deren unintendierte Nebenwirkungen; teils sind die Wandlungen aber auch soziale Dynamiken, hinter denen kein Gestaltungsakteur als Treiber steht. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Wandlungen einander vielfältig überlagern, was immer wieder unvorhersehbare Interferenzen hervorruft. Einerseits gibt es insbesondere staatliche Akteure, die Gestaltungsabsichten verfolgen; andererseits muss man allein schon aus der Vielzahl gestaltungsbefugter staatlicher Akteure – insbesondere in einem föderalen politischen System wie dem deutschen – plus weiteren Akteuren mit Gestaltungsambitionen wie nicht zuletzt den Universitäten selbst realistisch schlussfolgern: "Expect the unexpected!"
Diese Wachsamkeit ist zum einen besonders wichtig mit Blick auf die relevanten staatlichen Akteure – nicht nur die Wissenschafts-, auch und manchmal noch mehr die Finanzministerien oder die Regierungschefs von Bund und Ländern: Wie wissenschaftsfreundlich sind sie? Ein generelles Verständnis für die Belange der Wissenschaft, gepaart mit Wohlwollen, kann im entscheidenden Moment wichtiger als Gesetzestexte oder Zielvereinbarungen sein.