"‚Cancel Culture’ bedroht die Wissenschaftsfreiheit";
Bei der Rechtswissenschaft handelt es sich nicht von ungefähr um eine Geisteswissenschaft, die stets auch den (sich ändernden) gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Kontext im Blick haben muss. Das gilt auch bei einem Terminus wie "Wissenschaftsfreiheit". Dieser ist kein ontologischer, sondern ein politischer Begriff: Seine (Be-)Deutung ist das Resultat eines ständigen Diskurses und von Aushandlungsprozessen mit immer neuen Protagonist:innen und neuen Ergebnissen.
Verflechtungen von Wissen und Macht
In Sinne des Philosophen Michel Foucault ist der Diskurs als eine Formation von Aussagen zu verstehen, die zu einer bestimmten Zeit Sprachen und Denkweisen festlegen und dabei Vorstellungen von Zuständen wie etwa "Normalität", "Realität" oder "Wahnsinn" hervorbringen. Der Diskursbegriff beschreibt folglich eine gesellschaftlich etablierte Art des Sprechens und Denkens über die Welt und produziert das Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit der jeweiligen Zeit. Dabei sind Diskurse auch Filter des Sagbaren und dadurch auch der jeweiligen Denk- und Handlungsweisen.
Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass wissenschaftliche Praktiken, Vorstellungen und Fachrichtungen in engem Zusammenhang mit der Verfasstheit der jeweiligen Kultur sowie den jeweiligen historischen Voraussetzungen stehen. Kategorien des Denkens, des Beweisens, der Erfahrung und des Schaffens von Wahrheit sind damit hochgradig abhängig von dem Kontext, in dem sie entstehen. Auch zeigt uns die Wissenschaftsgeschichte vielfach Momente auf, in denen Methoden und Denkbewegungen entstanden sind, durch die Dinge, die zuvor unerkannt waren, isoliert und analysierbar gemacht werden konnten. Dabei sind auch fundamentale Konflikte um Begrifflichkeiten entstanden, die unsere Vorstellung von "Wahrheit" konstituieren – etwa um Freiheit, Wissen, Macht und Objektivität.
Die Arbeit Foucaults, die sich ausführlich mit der Entstehung und der Konfiguration von Wissen sowie den Verflechtungen von Wissen und Macht auseinandersetzt, kann als ein solches entscheidendes Moment verstanden werden – nicht zuletzt auch deswegen, weil er der Stellung der Wissenschaft als eine als objektive und außerhalb von Machtbeziehungen stehenden Sphäre der Erkenntnis eine Absage erteilt. Er hinterfragt dazu Naturalisierungen und legt dar, dass das jeweils historisch und aktuell Gültige stets etwas Produziertes ist. Wissen ist damit kein Abbild einer tatsächlichen Realität. Der bürgerlichen Vorstellung und im Geiste der Aufklärung stehenden Denktradition, dass sich Wissen jenseits von Machtverhältnissen und -interessen entfalten könne,
Das Denken Foucaults gab wichtige Impulse für emanzipatorische Ansätze der Gender und Postcolonial Studies, die essenzialistische Vorstellungen grundlegend dekonstruierten und forderten, die Wissenschaft müsse reflektieren, dass und wie sie an der Perpetuierung spezifischer hegemonialer Machtstrukturen und ihren Ausschlussmechanismen beteiligt ist. Auch der Bildungswissenschaftler Paul Mecheril beschreibt das Verhältnis von Macht und Wissenschaft. In seinem Konzept der "Differenzordnung" analysiert er, dass diese "eine im Innenraum von gesellschaftlicher Realität angesiedelte, projizierte und wirkende Macht" herstellen und Unterscheidungen einführen, "die das gesellschaftliche Geschehen symbolisch und materiell, diskursiv und außer-diskursiv für Mitglieder von Gesellschaften begreifbar machen".
In diesem Sinne kann Wissenschaft und mit ihr der Begriff der Wissenschaftsfreiheit als eine Ordnung begriffen werden, die der Differenz dient. Dabei wird ein System geschaffen, das Kategorien und Verfahrensweisen folgt, die nach anderen Logiken funktionieren sollen als jene, die beispielsweise als "volkstümliche" oder "Laien"-Kategorien bezeichnet werden und alltägliche Handlungsweisen und Erfahrungen durch beliebige Akteur:innen meinen.
Wissenschaft und ihre Institutionen stellen selbst Differenzordnungen her, die durch Gegenüberstellung eine Hierarchisierung schaffen. In der durch die Aufklärung geprägten Wissenschaft werden etwa Kategorien wie Verstand/Gefühl, modern/archaisch, zivilisiert/unzivilisiert als Ordnungen der Differenz konstruiert und einander gegenübergestellt. In der Moderne haben sich dadurch institutionelle und interaktive Praktiken der Fremd- und Selbstbestimmung etabliert, die als gewöhnlich erscheinen und in der Wahrnehmung und im Diskurs geradezu naturalisiert werden.
Positionen, die diese Problematiken der Wissenschaft und ihre Einwirkung auf Selbst-, Gegenstands- und Weltverständnisse in den Blick nehmen, nehmen in der jüngeren Theoriebildung und in aktuellen Diskursen eine zunehmend wichtige Rolle ein. Dabei wird die Wissenschaft als strukturierendes System einer kritischen Befragung und Reflexion unterzogen, die feststehende Vorstellungen nicht nur ins Wanken bringt, sondern fundamental zur Disposition stellt. Während etwa bell hooks in Bezug auf Lehrräume danach fragt "Who speaks? Who listens? And why?"
In eine ähnliche Richtung wie El-Tayeb, aber mit anderem Fokus, deutet Ian Hacking, wenn er darauf hinweist, dass mit Objektivität immer nur ein Konzept der Objektivität im Kontext der jeweiligen Zeit, des Ortes, der Praktiken und Verwendungen gemeint sein kann. Es fordert daher dazu auf, über die Objektivität als Begriff verbunden mit der bisherigen Verwendung und den damit verbundenen Praktiken zu reflektieren und danach zu fragen, an welchen Stellen auch Trugschlüsse entstanden sein könnten, die etwas mit spezifischen Vorstellungen und Positioniertheiten zu tun gehabt haben könnten.
Wissenschaftsfreiheit als Verteidigung eines universalistischen Weltbildes
Dass und in welcher Form gerade jetzt bei einigen die Frage danach aufkommt, ob die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr sei, kann entsprechend als Reaktion darauf verstanden werden, dass etablierte Positionen und Verfahrensweisen und damit auch Deutungshoheiten nicht nur kritisch reflektiert und auf den Prüfstand gestellt werden, sondern in einigen Bereichen tatsächlich eine Neuausrichtung ansteht.
Damit ist die Frage danach, ob die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr ist, falsch gestellt. Denn der Ausgangspunkt dieser Frage ist die Vorstellung einer feststehenden Kategorie, in der sich der Begriff von Freiheit mit jenen von Objektivität und Wissenschaft kreuzt und einen Fixpunkt bildet. Wie aber deutlich geworden ist, folgt das, was als Wissenschaftsfreiheit verhandelt wird, keiner feststehenden Kategorie, sondern wird stetig diskursiv und damit auch im Konflikt hergestellt. Dabei ist das, was als Wissenschaftsfreiheit verstanden wird, ebenso wenig frei von gesellschaftlichen, politischen und historischen Einflüssen und Kämpfen wie die beiden Konzepte, aus denen der Begriff sich zusammensetzt. Während aufgeklärt-liberale Vorstellungen von Freiheit diese als Freiheit von Beschränkung und als Befähigung beschreiben, gehen poststrukturalistische Ansätze davon aus, dass so etwas wie Freiheit nicht existiert und fragen stattdessen danach, wie der Mensch historisch bestimmt und bedingt ist. Die Frage müsste richtigerweise also eher lauten, welcher Begriff von Freiheit bei der Verhandlung des Konzeptes "Wissenschaftsfreiheit" gesetzt ist – nicht zuletzt auch, weil weltweit Disziplinen und Wissenschaftler:innen teilweise um ihr Fortbestehen, ihre physische Freiheit oder gar um ihr Überleben kämpfen.
Sich bei der Diskussion um die Wissenschaftsfreiheit vornehmlich auf das Grundgesetz zu beziehen, wie vielfach geschehen, ist deutlich zu kurz gegriffen und undifferenziert. Dies zeigt sich auch in der im Februar 2021 in die Öffentlichkeit getretenen Formation von gut 70 Wissenschaftler:innen.
Durch die Bezugnahme auf das Grundgesetz und die Behauptung, "die anderen" agierten "ideologisch" oder "identitätspolitisch" oder im Sinne einer "Cancel Culture"
Wissenschaftsfreiheit als Prozess der Erweiterung von Teilhabe
Gut sechs Monate nach dem "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" (.de) veröffentlichte das "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" (.org) mit gut 600 Erstunterzeichner:innen ein ganz anderes Verständnis von Wissenschaftsfreiheit: "Wir verstehen Wissenschaftsfreiheit als einen Prozess der Erweiterung von Teilhabe an Wissenschaft, und damit bedeutet Wissenschaftsfreiheit auch Ermöglichung: von Forschung, von Lehre und von Räumen kritischer Auseinandersetzung über jenes System Wissenschaft, dessen Funktionieren auch auf Diskriminierung, Prekarisierung und Ausschluss beruht."
Diese Auslegung des Begriffs "Wissenschaftsfreiheit" durch das "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" (.org) ist nicht nur als Einmischung in die Debatte und emanzipatorischer Einsatz zu verstehen, der sich gegen ein verkürztes und vereinfachtes Verständnis von Wissenschaftsfreiheit richtet. Vielmehr geht es auch darum, zu verdeutlichen, dass der Diskurs um Wissenschaftsfreiheit in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext geführt wird, in dem es um die Verteilung von Deutungshoheit und Teilhabe geht und der deswegen immer von Interessen geleitet ist. Die Verbreitung der Vorstellung, dass es in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen um so etwas wie Wissenschaftsfreiheit überhaupt Positionen der wissenschaftlichen und politischen Neutralität gibt, verschleiert die dahinter liegenden Eigeninteressen. Ein Denken und Handeln, das an den Ideen von Demokratie und Gleichberechtigung ausgerichtet ist und auf eine gleichberechtigte Teilhabe am Wissenschaftsbetrieb zielt, erkennt an, dass Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit im gesellschaftlichen Kontext stattfinden. Sie werden darin konstituiert und konstituieren umgekehrt Vorstellungen von fundamentalen Bezugsgrößen wie Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. In diesem Sinne müsste der Einsatz für das, was Wissenschaftsfreiheit leisten und hervorbringen soll, dort ansetzen, wo auf eine Teilhabe hingewirkt wird, in der sich die Vielfalt der Gesellschaft abbildet. Für die aktive Ermöglichung der Produktion von Wissen, Forschung und Lehre, die sich mit dem deckt, was im Grundgesetz steht, wäre dies jedenfalls eine Voraussetzung.