Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge sind 93 Prozent der befragten Hochschullehrer:innen der Auffassung, dass es in Deutschland "sehr viel" oder "viel Wissenschaftsfreiheit" gebe. Die Frage nach den konkreten Hemmnissen des Forschungsalltags bestätigt: Fehlende Muße (75 Prozent), Publikationszwang (68 Prozent), Einflussnahme der Hochschulleitungen (36 Prozent) und hohe Lehrdeputate (35 Prozent) werden als erhebliche Beschränkungen wahrgenommen, wohingegen ethische Richtlinien (7 Prozent) und die sogenannte Political Correctness (13 Prozent) eine sehr viel kleinere Rolle spielen.
Zugleich ist eine Debatte um die Macht von "Political Correctness" und "Cancel Culture" entbrannt, in der auch eine Moralisierung und Politisierung der Wissenschaft beklagt oder bestritten wird.
Ein umkämpfter Begriff
Die vielstimmigen Warnungen vor den Einschränkungen der wissenschaftlichen Debatten- und Streitkultur zeigen auffällige Parallelen zu einem anderen gesellschaftlichen Konfliktthema: den Gegenständen und Grenzen der Meinungsfreiheit. Zwar ist es kein Zufall, dass diese beiden Grundrechte in ein und demselben Artikel 5 des Grundgesetzes behandelt werden. Als Kommunikationsgrundrechte gehören sie zum festen Bestand der freiheitlichen Demokratie, die auf einem Pluralismus der Meinungen und dem argumentativen Wettbewerb mit Andersdenkenden um die bessere Meinung gründet. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede, die durch die Gleichsetzung des allgemeinen Rechts auf freie Meinungsäußerung mit dem spezifischen Recht auf Wissenschaftsfreiheit verwischt werden. Das vielbeschworene Ideal der Wissenschaftsfreiheit scheint, hier durchaus vergleichbar mit Meinungsfreiheit, zu einem umkämpften Begriff geworden zu sein, der von verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Intentionen in Anspruch genommen wird.
Eine weitere Auffälligkeit in der Debatte um Wissenschaftsfreiheit besteht in der Häufung von englischen Begrifflichkeiten. Und auch das ist kein Zufall. In vielen US-amerikanischen Hochschulen wurden seit den späten 1980er Jahren progressive Reformen angestoßen, die sich gegenwärtig in Forderungen nach speech codes, trigger-warnings, safe spaces oder no-platforming ausdrücken.
Diese Verbindungen und Verwerfungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verdeutlichen, dass die freie Wissenschaft ein normatives Ideal ist, dessen Voraussetzungen, Probleme und Grenzen erst dann klar erkennbar und diskutierbar werden, wenn sich dieses Ideal in einer institutionellen Praxis und ihrem gesellschaftlichen Kontext konkretisieren und bewähren muss.
Ein robustes Grundrecht
Wissenschaftsfreiheit ist, jedenfalls in der deutschen Verfassungstradition, ein Rechtsbegriff. Zwar wird sie auch in vielen anderen Staaten postuliert (wie Italien, Schweiz, Österreich, Griechenland, Portugal), auch in solchen, in denen in den vergangenen Jahren massive Einschnitte in die universitäre Selbstverwaltung und wissenschaftliche Selbstbestimmung vorgenommen wurden (Ungarn, Türkei). Aber der Imperativ der freien Wissenschaft wirkt auch in Ländern, in denen sie keinen besonderen Rechtsschutz genießt (wie Großbritannien, Frankreich, USA). Offenbar erschöpft sich die normative Kraft der Wissenschaftsfreiheit nicht in einer positiv-rechtlichen Satzung. Jedoch erhellt der Blick in das deutsche Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen wissensphilosophisch relevanten Zusammenhang von Wissenschaft, Wahrheit und Freiheit.
Die Freiheit der Wissenschaft, Lehre und Forschung wird in Artikel 5 als ein defensives und konstitutives Individualrecht ohne Gesetzesvorbehalt garantiert. Zwar entbindet die "Freiheit der Lehre (…) nicht von der Treue zur Verfassung" (Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG). Auch sind verbeamtete Hochschullehrer:innen bei ihrer politischen Betätigung jederzeit einem Mäßigungs- und Zurückhaltungsgebot unterworfen (§60 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch, §33 Abs. 2 Beamtenstatusgesetz). Aber darüber hinaus können Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit nur durch eine Kollision mit gleichwertigen Rechtsgütern begründet werden.
Folglich verweisen die Idee der Wissenschaft und die Idee der freien Wissenschaft aufeinander. Wer die Freiheit der Wissenschaft einschränkt, missachtet oder verletzt, der gefährdet die Wissenschaft als erkenntnisbezogene Praxis, aber auch als Institution von Forschung, Lehre und Bildung, und nicht zuletzt als gesellschaftlich anerkanntes und gefördertes Subsystem. Einfacher gesagt: Er beschneidet das Bemühen um Wahrheit, das konstitutiv für die Wissenschaft als solche ist.
Historisches (in systematischer Absicht)
Die Freiheit der Wissenschaft ist mit einem spezifischen Verständnis von Wissenschaft, Wissenwollen, Objektivität und Wahrheitssuche verbunden, dessen erkenntnistheoretische und methodologische Kontexte sich in der frühneuzeitlichen Scientia Nova herausgebildet haben. So stellt bereits der Philosoph Francis Bacon diese neue Wissenschaft ausschließlich in ihre eigenen epistemischen Dienste. Sein berühmtes Ipsa scientia potestas est ("Wissen ist Können/Macht") impliziert zwar, dass ökonomische Nützlichkeit, technische Anwendbarkeit oder gesellschaftlicher Fortschritt positive Nebenwirkungen wissenschaftlicher Innovationen sein können. Aber die Wissenschaft zeitigt solche außerwissenschaftlichen Effekte gerade dann, wenn sie keinen außerwissenschaftlichen Interessen und Regeln unterworfen wird. Diese paradox anmutende Erwartung ist uns auch gegenwärtig noch geläufig: dass nämlich "gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft am besten dient".
In der europäischen Aufklärung wird die Freiheit der Wissenschaft zusammengeführt mit den anderen Freiheiten, die als Voraussetzung der menschlichen Vernunftfähigkeit gelten. So Immanuel Kant: "als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft, genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen".
Die Prozesse der institutionellen Verfassung und Regulierung, öffentlichen Anerkennung und Finanzierung der Wissenschaft an staatlichen Universitäten und Akademien setzen sich im 19. Jahrhundert fort. Als Leitbild fungiert das Humboldt’sche Bildungsideal, das nicht nur die heute vielzitierte Einheit von Forschung und Lehre, sondern auch die Einheit von Wissenschaft und Freiheit beschwört. Wissenschaftsfreiheit ermöglicht wissenschaftliche Auseinandersetzungen, durch die neue, unkonventionelle, unbequeme und (in beiderlei Sinn) aufregende Perspektiven, Thesen und Überzeugungen entwickelt und vorbehaltlos diskutiert werden können. Der bevorzugte Ort hierfür war und ist die Universität. Aber ihre Wirkungen entfaltet die Wissenschaftsfreiheit nicht nur innerhalb der charakteristischen Orte der Academia – Hochschulen, Forschungsinstituten, Konferenzen, Wissenschaftsjournalen –, sondern auch im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft. Insbesondere für die demokratische Wissensgesellschaft gilt, dass ein grundsätzliches Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte der freien Wissenschaft eine zentrale Quelle für ihre gesellschaftliche Anerkennung ist.
Ethos der freien Wissenschaft
Die moderne Wissenschaft als systematisierte Methode und Praxis der Wissensbildung wird durch ein Ethos epistemischer Rationalität geleitet, das die Güte der Forschungstätigkeit und ihrer Ergebnisse, mithin die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft gewährleisten soll. Systematische Widerspruchsfreiheit, interne Kohärenz, Klarheit, aber auch Sparsamkeit und Eleganz, Genauigkeit und Überprüfbarkeit sind bekannte und anerkannte Bestandteile dieses Ethos. Sie definieren erstens, was als good scientific practice und wer als good scientist betrachtet werden muss. Zum Zweiten sichert dieses Ethos die Autonomie und Unabhängigkeit der Wissenschaft von politischen und gesellschaftlichen Interessenlagen. Zum Dritten knüpft es mit seinen eigentümlichen epistemischen und ethischen Werten und Tugenden gemeinschaftliche Bande zwischen den Wissenschaftler:innen. Bereits Robert Merton, der Begründer der Wissenschaftssoziologie, analysiert dieses sozio-epistemische Arrangement mit Bezug auf vier normative Prinzipien: Universalismus, Uneigennützigkeit, Kommunitarismus und organisierter Skeptizimus. Seit dem practical turn der 1980er Jahre widmet sich die Wissenschaftsphilosophie ausdrücklich dem Zusammenwirken von epistemischen, ethischen und soziopolitischen Normen bei der Genese und der Rechtfertigung wissenschaftlichen Wissens.
Die Anerkennung der normativen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Diskurses ist konstitutiv für die förderlichen Effekte der Wissenschaftsfreiheit. Diese Anerkennung kann aber nicht erzwungen werden, das heißt, Wissenschaftsfreiheit ist, wie die Kommunikationsgrundrechte im Ganzen, auf Voraussetzungen gegründet und angewiesen, die durch dieses Recht nicht oder nur teilweise garantiert werden. Man könnte das, im Anschluss an das bekannte Böckenförde-Diktum, als Wagnis der epistemischen Offenheit bezeichnen, das um der Freiheit willen eingegangen wird.
Das bedeutet einerseits, dass es für die Gewährung der Wissenschaftsfreiheit keine Rolle spielen darf, ob die wissenschaftlichen Meinungen, Theorien oder Personen krude, unliebsam, unbequem, bigott oder reaktionär sind, sich als unvernünftig, unbegründet oder abwegig erweisen oder als beunruhigend, schockierend oder verletzend empfunden werden. Für die wissenschaftliche Tätigkeit und für wissenschaftliche Akteure können verbindliche Grenzen der Wissenschaftsfreiheit nur mit Blick auf die Rechtsordnung gezogen werden.
Dennoch ist es nicht die Wissenschaftsfreiheit selbst, sondern die durch Freiheit ermöglichte Konfrontation von Meinungen, Hypothesen, Theorien, ihre Konkurrenz zueinander und der argumentative Streit, die (idealiter) zu einem vorläufigen Sieg der besseren Überzeugung führen und womöglich auch zu einer langfristigen Evolution der Wahrheit. Daher erschöpft sich Wissenschaftsfreiheit nicht in einem negativen Freiheitsbegriff im Sinne einer Freiheit von Zwang. Sondern es geht auch um die positive Freiheit zur Teilnahme und Teilhabe an der wissenschaftlichen Praxis der Verbesserung der eigenen und der kollektiven Überzeugungen. Für das Gelingen und Prosperieren dieser Praxis trägt auch jede Wissenschaftler:in Verantwortung.
Über die Politisierung und Moralisierung der Wissenschaftsfreiheit
Was lässt sich aus diesen Überlegungen zu den normativen Grundlagen der Wissenschaftsfreiheit für die aktuellen Herausforderungen schließen? Erstens: Die Frage nach den möglichen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit lässt sich klar und eindeutig beantworten. Für die wissenschaftliche Tätigkeit und für wissenschaftliche Akteure sind verbindliche Grenzen der Wissenschaftsfreiheit nur mit Rückgriff auf die Rechtsordnung zu ziehen. Wissenschaft muss also durchaus politisch und moralisch "korrekt" sein, und zwar im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dem Grundrechtsschutz und dem Strafrecht. Dagegen sind weitergehende Versuche der gesellschaftlichen, etwa politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ideologischen, Einflussnahme, Sanktionierung und Diskreditierung ebenso populär wie problematisch. Mit Blick auf das Gut der freien Wissenschaft und der kritischen Universität muss ein solches vermeintliches Recht, akademische Freiheiten um anderer Werte willen einzuschränken, zurückgewiesen werden.
Zweitens scheint ebenso unbestreitbar, dass ein gemeinsames wissenschaftliches Ethos und eine geteilte akademische Kultur die Grundlage für die Möglichkeit und den Bestand von epistemischen Freiräumen bilden. Diese Freiräume, auf die Wissenschaft angewiesen ist und die durch die Rechtsordnung allein nicht garantiert werden können, sind Räume der Gründe. Hier sind die rationalen Gütekriterien hoch, die Vorwegnahme der Gegenposition zur eigenen und deren ernsthafte Reflexion der wissenschaftliche Idealfall. Der Rede folgen gemeinhin Kritik und Gegenrede; eine sachbezogene Beharrlichkeit (statt Ablenkung, Themenwechsel, bullshitting) ist der diskursive Standard. Daher ist die "große Gereiztheit", die Teile der aktuellen Debatte um Wissenschaftsfreiheit charakterisiert,
Drittens liegt die Verantwortung für den Bestand und das Prosperieren der spezifischen safe spaces der Wissenschaft auch bei der individuellen Wissenschaftler:in. So steht es ihr beispielsweise frei, Politiker jeglicher Couleur an die Universität einzuladen. Ebenso steht es aber allen Mitgliedern der Universität (also auch Studierenden und der Hochschulleitung) frei, dieses zu hinterfragen. Auch harscher Widerspruch, Kritik und Contra verletzen die Wissenschaftsfreiheit nicht. Das Recht der freien Wissenschaft ist im Übrigen ein Recht, das man auf eigenes Risiko wahrnimmt und das kein Recht auf Affirmation und Solidarität nach sich zieht. Daher muss man sich gegebenenfalls fragen lassen, warum man die Einladung ausgesprochen hat, was der beabsichtigte wissenschaftliche, didaktische oder diskursive Zweck und erhoffte Ertrag einer solchen Einladung ist, auch, ob dieser Zweck gerechtfertigt, redlich, legitim und akzeptabel erscheint. Die Kritiker:innen müssen sich ebenfalls Fragen stellen beziehungsweise gefallen lassen: Welche Reaktionen lassen sich verantwortungsbewusst begründen im Lichte der Wissenschaftsfreiheit und der epistemischen Hoffnungen, die mit ihr verbunden sind? Das Spektrum an Reaktionen auf die prominenten Fälle umfasst zum einen Verbotsforderungen, Verhinderungen von Veranstaltungen durch Blockaden und Pfeifkonzerte, körperliche Angriffe und sozialmediale Drohungen und Denunziationen. Ihre Unverträglichkeit mit der Idee der freien Wissenschaft und der kritischen Universität liegt auf der Hand. Verträglichere mögliche Reaktionen bestehen in der Ablehnung von Einladungen, der Verwehrung von Unterstützung, in Protest, Kritik, Debatte, aber natürlich auch Fürsprache, Solidarisierungsbekundungen und Sicherheitsstrategien für die betroffenen Personen. Nichts davon widerspricht der Freiheit der Wissenschaft grundsätzlich.
Viertens fallen Meinungsäußerungen von Nicht-Wissenschaftler:innen in akademischen Kontexten und Universitäten nicht unter den Schutz der Wissenschaftsfreiheit. Und natürlich verdient auch nicht jede Stimme und jede Person akademischen Respekt. Für Nicht-Wissenschaftler:innen, also Personen aus Politik, Kunst, Kultur, Medien, aus NGOs und bestimmten Berufsgruppen, die in die Hochschulen eingeladen werden, gibt es daher auch andere und weit mehr Möglichkeiten der Grenzziehung. Das gilt insbesondere für Positionen und Provokationen, die dem akademischen Geist und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht gerecht werden. Dabei spielen politische oder ethische Haltungen, wie sie in der aktuellen Debatte in einer antagonistischen Sprache beschworen werden, gerade keine Rolle. Mithin geht es gar nicht um "rechte" und "reaktionäre" (oder "linke" und "marxistische"), sondern um rassistische, sexistische oder andere gruppenfeindliche Äußerungen und Handlungen, die in der Universität ebenso wenig einen Platz haben sollten wie in der liberalen und pluralistischen Gesellschaft im Ganzen.
Und schließlich fünftens: Die Frage nach den Grundlagen, Herausforderungen und möglichen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit weist über die Academia hinaus, nicht zuletzt, weil sich hier im Kleinen gesamtgesellschaftliche Diskurse und Dissense wiederholen und zuspitzen. Das ist einerseits zu begrüßen, denn die herausragende Bedeutung der Wissenschaften und kritischen Hochschulen in der und für die Demokratie wird dadurch offenkundig. Andererseits droht eine zunehmende Moralisierung und Politisierung der Wissenschaftsfreiheit. Daher glaube ich, dass sich die Wissenschaftsgemeinschaft selbst gründlicher über die Gelingensbedingungen guter Wissenschaft – und das heißt auch: der Wissenschaftsfreiheit – verständigen muss.