Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 diskutierte die deutsche Öffentlichkeit, ob Deutschland trotz seiner Abhängigkeit von russischem Erdgas ein Gasembargo gegen Russland verhängen sollte. In dieser Situation veröffentlichte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina am 8. März eine Ad-hoc-Stellungnahme zu der Frage, "wie sich russisches Erdgas in der deutschen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt". Zu Beginn der Stellungnahme stand die Schlussfolgerung der Autoren, die von Befürwortern eines Gasembargos immer wieder zitiert wurde: Ein Lieferstopp von russischem Erdgas sei für Deutschland auch kurzfristig "handhabbar".
Einige Wochen später, am 27. März, sprach sich Bundeskanzler Olaf Scholz in der Talkshow "Anne Will" gegen ein Gasembargo aus und äußerte dabei grundlegende Zweifel an den Erkenntnissen der Wissenschaftler: Es sei "unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht funktionieren". Diese Worte wurden auch von solchen Wissenschaftlern scharf kritisiert, die einem Gasembargo kritisch gegenüberstanden.
Ein Grund könnte in einer verkürzten Vorstellung vom Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Entscheidungen liegen, die sowohl der Schlussfolgerung der Leopoldina-Stellungnahme als auch der Kritik des Bundeskanzlers implizit zugrunde lag. Die Autoren der Stellungnahme erweckten im Kontext der Diskussion um das Gasembargo mit ihrer prominent platzierten Schlussfolgerung den Eindruck, wissenschaftliche Erkenntnisse könnten über die gesellschaftliche oder politische "Handhabbarkeit" wirtschaftlicher Einbußen entscheiden – also zum Beispiel darüber, welche Einbußen, Risiken und Unsicherheiten verschiedene Akteurs- und Interessengruppen akzeptieren sollten. Damit vermengten die Autoren wissenschaftliche Fragen, zum Beispiel Abschätzungen der Energiebedarfe und Energieverluste oder Abschätzungen der Folgen und Nebenfolgen von Verteilungsmechanismen, mit politischen Fragen, zum Beispiel über die Zumutbarkeit von Risiken und Unsicherheiten für verschiedene Bevölkerungsteile und Interessengruppen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz erweckte bei seinem Auftritt bei "Anne Will" den Eindruck, als könnten wissenschaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen vorgeben beziehungsweise als sei es für Politik nur dann legitim, von wissenschaftlichen Erkenntnissen abzusehen, wenn die präsentierte Erkenntnis unzuverlässig ist – wie angeblich "irgendwelche Modelle (…), die dann nicht funktionieren".
Die Vorstellung, wonach wissenschaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen vorgeben beziehungsweise politische Entscheidungen sich eindeutig aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten und sich so politische Streitfragen klären lassen, kommt in öffentlichen Kontroversen um Umwelt, Technologie und Wissenschaft häufig zum Ausdruck. Beispiele sind etwa die prominente Forderung von Klimaschützern, die Politik müsse "der Wissenschaft folgen" (follow the science), oder die Annahme, dass die nachgewiesene Infektiosität von Kindern dafür ausschlaggebend sein kann, ob Schulen in der Covid-19-Pandemie geschlossen werden oder geöffnet bleiben sollten.
Wissenschafts- und demokratietheoretisch verursacht diese Vorstellung gravierende Probleme sowie dysfunktionale Folgen für den praktischen politischen Diskurs. Ein theoretisches Problem besteht darin, dass wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und politische Entscheidungsfindung inkompatibel sind. Das Ziel von Wissenschaft ist es, zwischen sachlich wahren und falschen Aussagen über die Realität unter Anwendung systematischer, intersubjektiv nachvollziehbarer Methoden zu unterscheiden.
Letzteres anzunehmen, mündet auch in praktische Probleme des politischen Diskurses, mit wahrscheinlichen negativen Folgen für das Vertrauen in Politik und Wissenschaft. Indem wissenschaftliche Erkenntnisse mit bestimmten politischen Handlungsprogrammen gleichgesetzt werden, werden Wertedebatten im politischen Diskurs übergangen. Dadurch werden Bürgerinnen und Bürger ihrer Möglichkeiten zur Teilnahme am politischen Diskurs auf einem Feld beraubt, auf dem sie prinzipiell kompetent und zur Mitsprache berechtigt sind.
Aufgrund der skizzierten Probleme erscheint es relevant, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in politischen Debatten berücksichtigt und ernst genommen, aber transparent von Wertefragen über die Priorität politischer Ziele, die Bewertungen der Kosten und des Nutzens von Maßnahmen oder über widerstreitende Menschenbilder getrennt werden.
Expertokratische Vorstellungen und ihre Verbreitung
Vorstellungen oder Forderungen, wissenschaftliche Experten beziehungsweise wissenschaftliches Wissen sollten das politische Handeln bestimmen, werden als "expertokratisch", "technokratisch" oder "epistokratisch" bezeichnet.
International vergleichende Untersuchungen zeigen, dass in politischen Routinezeiten nur Minderheiten ein derartiges technokratisches oder expertokratisches Modell der politischen Entscheidungsfindung befürworten.
Einer der Gründe, weshalb Bürgerinnen und Bürger eine technokratische oder expertokratische politische Entscheidungsfindung unterstützen, ist ihre vermeintliche Effektivität.
Diese Verteilungen deuten an, dass der Wunsch nach expertokratischer politischer Entscheidungsfindung in Krisenzeiten in großen Teilen der Bevölkerung besonders hoch ist. Dafür sprechen auch Zusammenhänge zwischen den Erwartungen der Menschen an die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft mit ihren Informationsbedürfnissen und ihren Erwartungen an die Medienberichterstattung. Zu Beginn der Pandemie war der Durst der Deutschen nach Informationen sehr hoch – typisch für Situationen, die die Menschen in hohem Maße betreffen und die sich durch ein hohes Maß an Unsicherheit auszeichnen.
Wissenschaftspopulismus und seine Verbreitung
Neben dem expertokratischen beziehungsweise technokratischen Modell politischer Entscheidungsfindung gibt es in Teilen der Bevölkerung ein populistisches Modell politischer Entscheidungsfindung bei Streitfragen um Umwelt, Technologie und Wissenschaft. Charakteristisch für wissenschaftspopulistische Haltungen ist ein dezidierter Anti-Elitismus beziehungsweise Anti-Intellektualismus.
2017 gab es in vielen europäischen Ländern mehr Anhänger populistischer denn technokratischer Weltanschauung. Dennoch handelte es sich, wie bei den expertokratischen Befürwortern, um Minderheiten. So wurden in Deutschland und Großbritannien gut 10 Prozent der Befragten mit populistischen Weltanschauungen identifiziert, in Frankreich sogar 18 Prozent.
Die Politisierung wissenschaftlicher Erkenntnis und ihre Folgen
Vor dem Osterwochenende 2020, also kurz vor Beginn der ersten Lockerungsdebatten im ersten Lockdown, als die weitaus meisten Deutschen eine starke Dominanz medizinischer Forscher in der politischen Entscheidungsfindung befürworteten, veröffentlichte der Deutsche Ethikrat eine Ad-Hoc-Empfehlung zu "Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise". Im letzten Abschnitt äußerten die Autoren Besorgnis darüber, dass das Pandemiemanagement an einen kleinen Kreis von Personen und Institutionen delegiert worden sei, die kein Wählermandat hätten und somit nicht in politischer Verantwortung stünden.
In den darauffolgenden Monaten gab es mehr Kritik und Vielfalt in der Berichterstattung. Allerdings wurden hierbei weiterhin wissenschaftliche und politische Aussagen vermengt. Das hatte vermutlich weitreichende Folgen für die weitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Pandemie. Der ersten Phase einer weitgehenden Konvergenz der Pandemieberichterstattung, die dem Wunsch vieler Deutscher nach eindeutigen politischen Schlussfolgerungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprochen und einige misstrauisch gemacht hatte, folgte eine Phase, in der wissenschaftliche Erkenntnisse als stark widersprüchlich dargestellt wurden, vor allem in den weithin beachteten Formaten der etablierten Medien wie Talkshows, Nachrichtensendungen oder politische Interviews.
In den politischen Formaten der Berichterstattung sowie in zahlreichen durch Parteienproporz besetzten wissenschaftlichen Beratungsgremien wurden Wissenschaftler im Verlauf der Pandemie nicht mehr nur aufgrund ihrer wissenschaftlichen Expertise oder ihrer wissenschaftlichen Einschätzungen eingesetzt, sondern wegen der politischen Implikationen, die ihre Einschätzungen hatten, oder aufgrund der politischen Schlussfolgerungen, die die Wissenschaftler selbst zogen. Auf diese Weise wurde wissenschaftliche Expertise im Verlauf der Pandemie politisch aufgeladen. Dies führte zu einer starken Polarisierung zweier Lager, die zwar unterschiedlich groß waren, sich aber unversöhnlich gegenüberstanden. Auf Twitter formierte sich das #TeamVorsicht gegen das #TeamLockerung. Beide Lager beriefen sich auf Wissenschaftler, die ihre politischen Forderungen untermauerten, und beschimpften Wissenschaftler, deren Einschätzungen ihren politischen Forderungen im Weg standen.
Aus zahlreichen anderen politischen Kontroversen um Umwelt, Technologie und Wissenschaft ist bekannt, dass das Vertrauen in Wissenschaftler oder die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnis maßgeblich von den politischen Einstellungen der Menschen abhängt. In einem Fragebogen-Experiment mit US-Amerikanern aus dem Jahr 2011 zeigte sich beispielsweise, dass eine große Mehrheit (88 Prozent) der Menschen mit gleichheitsorientierten-kommunitaristischen, also typischen Ansichten aus dem Lager der Demokraten, einen zitierten Autor dann für einen ausgewiesenen Experten hielten, wenn der Autor den Klimawandel als ein hohes Risiko bezeichnete. Dagegen hielt nur eine Minderheit (23 Prozent) der Menschen mit hierarchisch-individualistischen, also typischen Ansichten aus dem Lager der Republikaner, denselben Autor für einen Experten. Umgekehrt hielt eine große Mehrheit (86 Prozent) der Menschen mit hierarchisch-individualistischen Ansichten einen Autor für einen ausgewiesenen Experten, wenn dieser den Klimawandel als geringes Risiko bezeichnete. Dagegen hielt nur eine Minderheit (47 Prozent) der Menschen mit gleichheitsorientierten-kommunitaristischen Ansichten denselben Autor für einen Experten.
Folgerungen
Wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Entwicklungen haben das Leben der Menschen in vielen Bereichen kontinuierlich verbessert, etwa in der Mobilität, der Gesundheitsversorgung, der Kommunikation oder der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Zudem ermöglicht wissenschaftliches Wissen die Früherkennung von Gefahren wie Erdbeben, die Ausbreitung von Viren, klimatische Veränderungen, Inflation oder die finanzielle Instabilität des Rentensystems. Damit liefern wissenschaftliche Erkenntnisse bedeutsame Grundlagen für informiertes politisches Handeln, das zum einen auf die Regulierung wissenschaftlich entwickelter Anwendungen wie Impfungen, Mobilitätsantriebe oder Züchtungsverfahren und zum anderen auf wissenschaftlich belegte Gefahren wie Epidemien, Inflation oder den Klimawandel ausgerichtet ist.
In Wissenschaft, Politik und der Bevölkerung werden jedoch häufig unzutreffende Vorstellungen davon erweckt, wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in demokratisch legitimiertes politisches Handeln einfließen können – mit dysfunktionalen Folgen für politische Sachdebatten. So werden wissenschaftliche Erkenntnisse häufig als rhetorisches Druckmittel benutzt, um bestimmte politische Entscheidungen zu erzwingen. Dies dürfte allerdings auf die Wissenschaft zurückfallen. Wenn die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischer Entscheidungsfindung nicht transparent gemacht werden, können sich Politiker sowie Bürgerinnen und Bürger dem politischen Druck zu bestimmten Entscheidungen nur dadurch entziehen, dass sie wissenschaftliche Erkenntnis diskreditieren. Zugunsten möglichst rationaler, wissensbasierter Auseinandersetzungen erscheint es dagegen wünschenswert, wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu politisieren. Dies dürfte es relevanten Akteuren erleichtern, unbequeme wissenschaftliche Erkenntnisse zu akzeptieren und sich stattdessen in Wertedebatten für die eigenen politischen Ziele zu engagieren.