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Zwischen Expertokratie und Wissenschaftspopulismus | Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie | bpb.de

Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie Editorial "Politik sollte sich nicht hinter einer wissenschaftlichen Bewertung verstecken". Fünf Fragen zu Wissenschaft, Kommunikation und Politik Demokratie und Expertise. Ambivalenzen und rechtliche Lösungsansätze (Pseudo-)Wissenschaft und Demokratie im Krisenzeitalter Warum demokratische Beteiligung mehr Wissenschaftskompetenz braucht Zwischen Expertokratie und Wissenschaftspopulismus. Wie die politische Aufladung wissenschaftlicher Expertise polarisiert Objektivität in Anführungszeichen. Über Wissenschaft und Aktivismus Von der Wissenschaftskommunikation zur evidenzbasierten Information Wissenschaft und Gesellschaft: Neues zur Vertragsgestaltung

Zwischen Expertokratie und Wissenschaftspopulismus Wie die politische Aufladung wissenschaftlicher Expertise polarisiert

Senja Post

/ 16 Minuten zu lesen

In öffentlichen Debatten kommt es häufig zu dem Trugschluss, dass sich politische Entscheidungen eindeutig aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten ließen. Sind die Bürger fähig und bereit, Wissenschaft von politischen Schlussfolgerungen zu trennen?

Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 diskutierte die deutsche Öffentlichkeit, ob Deutschland trotz seiner Abhängigkeit von russischem Erdgas ein Gasembargo gegen Russland verhängen sollte. In dieser Situation veröffentlichte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina am 8. März eine Ad-hoc-Stellungnahme zu der Frage, "wie sich russisches Erdgas in der deutschen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt". Zu Beginn der Stellungnahme stand die Schlussfolgerung der Autoren, die von Befürwortern eines Gasembargos immer wieder zitiert wurde: Ein Lieferstopp von russischem Erdgas sei für Deutschland auch kurzfristig "handhabbar".

Einige Wochen später, am 27. März, sprach sich Bundeskanzler Olaf Scholz in der Talkshow "Anne Will" gegen ein Gasembargo aus und äußerte dabei grundlegende Zweifel an den Erkenntnissen der Wissenschaftler: Es sei "unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht funktionieren". Diese Worte wurden auch von solchen Wissenschaftlern scharf kritisiert, die einem Gasembargo kritisch gegenüberstanden. Wie konnte es zu einer solchen Diskreditierung wissenschaftlicher Expertise durch den Bundeskanzler kommen?

Ein Grund könnte in einer verkürzten Vorstellung vom Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Entscheidungen liegen, die sowohl der Schlussfolgerung der Leopoldina-Stellungnahme als auch der Kritik des Bundeskanzlers implizit zugrunde lag. Die Autoren der Stellungnahme erweckten im Kontext der Diskussion um das Gasembargo mit ihrer prominent platzierten Schlussfolgerung den Eindruck, wissenschaftliche Erkenntnisse könnten über die gesellschaftliche oder politische "Handhabbarkeit" wirtschaftlicher Einbußen entscheiden – also zum Beispiel darüber, welche Einbußen, Risiken und Unsicherheiten verschiedene Akteurs- und Interessengruppen akzeptieren sollten. Damit vermengten die Autoren wissenschaftliche Fragen, zum Beispiel Abschätzungen der Energiebedarfe und Energieverluste oder Abschätzungen der Folgen und Nebenfolgen von Verteilungsmechanismen, mit politischen Fragen, zum Beispiel über die Zumutbarkeit von Risiken und Unsicherheiten für verschiedene Bevölkerungsteile und Interessengruppen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz erweckte bei seinem Auftritt bei "Anne Will" den Eindruck, als könnten wissenschaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen vorgeben beziehungsweise als sei es für Politik nur dann legitim, von wissenschaftlichen Erkenntnissen abzusehen, wenn die präsentierte Erkenntnis unzuverlässig ist – wie angeblich "irgendwelche Modelle (…), die dann nicht funktionieren".

Die Vorstellung, wonach wissenschaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen vorgeben beziehungsweise politische Entscheidungen sich eindeutig aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten und sich so politische Streitfragen klären lassen, kommt in öffentlichen Kontroversen um Umwelt, Technologie und Wissenschaft häufig zum Ausdruck. Beispiele sind etwa die prominente Forderung von Klimaschützern, die Politik müsse "der Wissenschaft folgen" (follow the science), oder die Annahme, dass die nachgewiesene Infektiosität von Kindern dafür ausschlaggebend sein kann, ob Schulen in der Covid-19-Pandemie geschlossen werden oder geöffnet bleiben sollten.

Wissenschafts- und demokratietheoretisch verursacht diese Vorstellung gravierende Probleme sowie dysfunktionale Folgen für den praktischen politischen Diskurs. Ein theoretisches Problem besteht darin, dass wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und politische Entscheidungsfindung inkompatibel sind. Das Ziel von Wissenschaft ist es, zwischen sachlich wahren und falschen Aussagen über die Realität unter Anwendung systematischer, intersubjektiv nachvollziehbarer Methoden zu unterscheiden. Das Ziel von Politik ist dagegen, verbindliche Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Grundlage von Kompromissen zwischen widerstreitenden Interessen herzustellen. Anders als zur wissenschaftlichen Wahrheitsfindung gehören Wertedebatten deshalb zur politischen Entscheidungsfindung dazu – zum Beispiel Debatten über die Gewichtung der Kosten und des Nutzens bestimmter politischer Maßnahmen oder über den angemessenen Umgang mit Risiken und Unsicherheiten. So klären Wissenschaftler beispielsweise die Frage, inwieweit Schulöffnungen beziehungsweise -schließungen das Infektionsgeschehen in einer Pandemie beeinflussen. Politiker wägen dagegen idealerweise unter Anhörung relevanter gesellschaftlicher Interessengruppen die positiven und negativen Folgen von Schulschließungen auf das Infektionsgeschehen, die Bildungsgerechtigkeit, die Chancengleichheit oder die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gegeneinander ab, bevor sie über den Schulbetrieb in einer Pandemie entscheiden. Wissenschaft kann nach dieser Auffassung eine Wissensbasis für politische Entscheidungen liefern, zum Beispiel über die Folgen und Nebenfolgen bestimmter politischer Maßnahmen, aber sie kann politische Entscheidungen nicht vorgeben.

Letzteres anzunehmen, mündet auch in praktische Probleme des politischen Diskurses, mit wahrscheinlichen negativen Folgen für das Vertrauen in Politik und Wissenschaft. Indem wissenschaftliche Erkenntnisse mit bestimmten politischen Handlungsprogrammen gleichgesetzt werden, werden Wertedebatten im politischen Diskurs übergangen. Dadurch werden Bürgerinnen und Bürger ihrer Möglichkeiten zur Teilnahme am politischen Diskurs auf einem Feld beraubt, auf dem sie prinzipiell kompetent und zur Mitsprache berechtigt sind. Doch wenn sie ihre Unzufriedenheit mit wissenschaftlich legitimierten politischen Maßnahmen nicht im Rahmen von Wertedebatten ausdrücken können, bleibt ihnen fast nichts anderes übrig, als ihre Unzufriedenheit gegen die Wissenschaft zu richten – als scheinbare Ursache einer Politik, die sie ablehnen. Die Instrumentalisierung wissenschaftlicher Erkenntnis als angeblich zwingender Grund für bestimmte politische Handlungsprogramme könnte deshalb ein politisch motiviertes Misstrauen gegenüber Wissenschaft fördern.

Aufgrund der skizzierten Probleme erscheint es relevant, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in politischen Debatten berücksichtigt und ernst genommen, aber transparent von Wertefragen über die Priorität politischer Ziele, die Bewertungen der Kosten und des Nutzens von Maßnahmen oder über widerstreitende Menschenbilder getrennt werden. Dies setzt unter anderem voraus, dass Bürgerinnen und Bürger wissenschaftliches Wissen und politische Schlussfolgerungen trennen können. Im Folgenden wird erörtert, inwieweit die Menschen in Deutschland und in anderen Ländern dazu fähig und bereit sind.

Expertokratische Vorstellungen und ihre Verbreitung

Vorstellungen oder Forderungen, wissenschaftliche Experten beziehungsweise wissenschaftliches Wissen sollten das politische Handeln bestimmen, werden als "expertokratisch", "technokratisch" oder "epistokratisch" bezeichnet. Politikwissenschaftler beobachten seit einigen Jahren, dass es viele Bürgerinnen und Bürger befürworten, politische Entscheidungsfindung weg von parteipolitischen Auseinandersetzungen hin zu ausgewählten Expertenkreisen zu verlagern. Zu einer solchen expertokratischen oder technokratischen Vorliebe gehören drei Annahmen: Erstens gehen die Befürworter davon aus, dass die Ausrichtung parteipolitischer Akteure am als irrational empfundenen Wählerwillen oftmals den bestmöglichen sachpolitischen Entscheidungen im Wege steht. Sie kritisieren zweitens, dass interessengeleitete Parteipolitik sowie die notwendige Aushandlung von Kompromissen bestmögliche politische Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen verhindern oder zeitlich stark verzögern und deshalb ineffektiv sind. Die Befürworter gehen drittens davon aus, dass die politische Entscheidungsfindung durch ausgewiesene Experten – im Gegensatz zur parteipolitischen Interessendurchsetzung und Kompromissbildung – objektiv, unabhängig und am Wohle der Gesellschaft orientiert ist. Deshalb halten Personen mit expertokratischen Vorstellungen die politische Entscheidungsfindung durch Experten für prinzipiell überlegen gegenüber dem parteipolitischen Entscheidungsprozess.

International vergleichende Untersuchungen zeigen, dass in politischen Routinezeiten nur Minderheiten ein derartiges technokratisches oder expertokratisches Modell der politischen Entscheidungsfindung befürworten. In Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden teilten einer Erhebung aus dem Jahr 2017 zufolge nur bis zu 10 Prozent der Befragten technokratische Ansichten. In süd- und osteuropäischen Bevölkerungen ist die technokratische Orientierung mit Anteilen zwischen 14 und 19 Prozent in Griechenland, Italien, Polen und Rumänien weiter verbreitet. Unterstützung für ein technokratisches Modell politischer Entscheidungsfindung ist in allen Ländern besonders hoch bei höher gebildeten Menschen sowie bei Menschen mit Interesse an und Vertrauen in Politik. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass viele Wissenschaftler ein technokratisches Modell der politischen Entscheidungsfindung befürworten.

Einer der Gründe, weshalb Bürgerinnen und Bürger eine technokratische oder expertokratische politische Entscheidungsfindung unterstützen, ist ihre vermeintliche Effektivität. Deshalb erscheint es plausibel, dass aus Sicht der Bevölkerung technokratische oder expertokratische Politikentscheidungen in Krisenzeiten besonders beliebt sind – zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Klimawandel oder der Covid-19-Pandemie. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung befürwortete Anfang April 2020, also mitten im ersten "Lockdown", einen großen Einfluss medizinischer Forscher auf die Pandemiepolitik. So stimmten jeweils über 75 Prozent der Deutschen den Aussagen "voll und ganz" oder "eher" zu, dass auf der einen Seite "medizinische Forscher sich dafür einsetzen sollten, dass Politiker ihre Empfehlungen auch umsetzen" und sie "Politikern eindeutig sagen sollten, was in der Krise zu tun ist". Sie stimmten außerdem zu, dass auf der anderen Seite "Politiker die Empfehlungen von medizinischen Forschern unbedingt umsetzen sollten" und, bevor sie Entscheidungen treffen, "das von medizinischen Forschern absichern lassen sollten". Nicht einmal jeder zehnte Befragte stimmte diesen Aussagen "gar nicht" oder "eher nicht" zu.

Diese Verteilungen deuten an, dass der Wunsch nach expertokratischer politischer Entscheidungsfindung in Krisenzeiten in großen Teilen der Bevölkerung besonders hoch ist. Dafür sprechen auch Zusammenhänge zwischen den Erwartungen der Menschen an die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft mit ihren Informationsbedürfnissen und ihren Erwartungen an die Medienberichterstattung. Zu Beginn der Pandemie war der Durst der Deutschen nach Informationen sehr hoch – typisch für Situationen, die die Menschen in hohem Maße betreffen und die sich durch ein hohes Maß an Unsicherheit auszeichnen. Die weitaus meisten nutzten in dieser Zeit intensiv die Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Allerdings hatten viele geradezu unerfüllbare Informationsbedürfnisse. So waren die Menschen überwiegend auf der Suche nach "definitiven Expertenurteilen, auf die ich mich verlassen kann". Eine Mehrheit erwartete zudem von Journalisten, dass sie "sich in der Corona-Krise weitgehend an sichere Fakten halten" und "vorrangig solche Experten zu Wort kommen lassen, die möglichst sichere Aussagen machen können". Dabei bedingten sich diese Bedürfnisse und Erwartungen gegenseitig: Je mehr die Befragten im ersten Lockdown definitive Expertenurteile bevorzugten, desto mehr wünschten sie sich von Journalisten eine Orientierung an sicheren Fakten sowie an Experten mit sicheren Aussagen, und desto mehr wünschten sie sich, dass medizinische Forscher die politische Entscheidungsfindung dominierten. Befragte, die diese Bedürfnisse und Erwartungen artikulierten, waren auch tendenziell jene Befragte, die "eher" oder "voll und ganz zufrieden" waren mit der öffentlichen Krisenkommunikation durch Medien, Wissenschaft und Politik. Eine solche Zufriedenheit äußerte etwa die Hälfte der Befragten. Dies sind Hinweise darauf, dass große Teile der Bevölkerung in der extremen Ungewissheit zu Beginn der Pandemie bereit waren, politische Entscheidungsmacht an nicht durch Wähler mandatierte Wissenschaftler abzugeben. Eine beachtliche Minderheit von 42 Prozent betrachtete die Wissenschaftler in dieser Funktion allerdings nicht als immun, sondern stimmte "eher" oder "voll und ganz" der Aussage zu, dass "medizinische Forscher zur Verantwortung gezogen werden sollten, wenn sie Politiker in der Krise falsch beraten".

Wissenschaftspopulismus und seine Verbreitung

Neben dem expertokratischen beziehungsweise technokratischen Modell politischer Entscheidungsfindung gibt es in Teilen der Bevölkerung ein populistisches Modell politischer Entscheidungsfindung bei Streitfragen um Umwelt, Technologie und Wissenschaft. Charakteristisch für wissenschaftspopulistische Haltungen ist ein dezidierter Anti-Elitismus beziehungsweise Anti-Intellektualismus. Dies kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass es sich beim Wissenschaftspopulismus um einen Gegenentwurf zu den stark elitistisch geprägten technokratischen oder expertokratischen Vorstellungen von politischer Entscheidungsfindung handelt. Der Populismus richtet sich gegen den Einfluss wissenschaftlicher Eliten auf die politische Entscheidungsfindung und die wissenschaftliche Autorität bei der Produktion anerkannten Wissens. Gegen den Einfluss von Experten setzen Menschen mit wissenschaftspopulistischen Ansichten den Willen "des Volkes". Dabei wenden sie sich allerdings nicht per se gegen den Einfluss wissenschaftlicher Erkenntnis auf politische Entscheidungsprozesse, sondern vielmehr gegen den Einfluss von nach ihrer Wahrnehmung falscher wissenschaftlicher Erkenntnis. So fordern sie, dass das als korrupt wahrgenommene elitistische wissenschaftliche Wissen durch alternative, vom Volk als "unverfälscht" anerkannte Erkenntnisse ersetzt und damit eine alternative Politik begründet wird.

2017 gab es in vielen europäischen Ländern mehr Anhänger populistischer denn technokratischer Weltanschauung. Dennoch handelte es sich, wie bei den expertokratischen Befürwortern, um Minderheiten. So wurden in Deutschland und Großbritannien gut 10 Prozent der Befragten mit populistischen Weltanschauungen identifiziert, in Frankreich sogar 18 Prozent. Nach dem Ausbruch der Pandemie nahm der Wissenschaftspopulismus zwar zunächst ab. Allerdings zeigten sich im Verlauf der Pandemie aufsehenerregende Minderheiten, die Impfungen ablehnten, sich zum Teil lautstark gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aussprachen und das zum Teil mit verschwörungstheoretischen Annahmen begründeten. Zum Beispiel meinten im November 2021 fast zwei Drittel der Impfgegner (63 Prozent), "Corona sei ein Schwindel". Auf die gesamte Bevölkerung bezogen lag der Anteil derjenigen, die diese und weitere Falschbehauptungen glaubten, stabil bei beachtlichen 20 Prozent. Wie konnte es in der Pandemie zu derart starken und hartnäckigen Zweifeln und Verneinungen unbestrittener wissenschaftlicher Fakten kommen? Vermutlich gab es dafür mehrere Ursachen, darunter wiederum das bereits skizzierte verbreitete Missverständnis vom Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Entscheidungsfindung.

Die Politisierung wissenschaftlicher Erkenntnis und ihre Folgen

Vor dem Osterwochenende 2020, also kurz vor Beginn der ersten Lockerungsdebatten im ersten Lockdown, als die weitaus meisten Deutschen eine starke Dominanz medizinischer Forscher in der politischen Entscheidungsfindung befürworteten, veröffentlichte der Deutsche Ethikrat eine Ad-Hoc-Empfehlung zu "Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise". Im letzten Abschnitt äußerten die Autoren Besorgnis darüber, dass das Pandemiemanagement an einen kleinen Kreis von Personen und Institutionen delegiert worden sei, die kein Wählermandat hätten und somit nicht in politischer Verantwortung stünden. Sie sprachen sich dafür aus, die Diskussion für Perspektiven aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen und akademischen Disziplinen zu öffnen, die schließlich in "demokratisch legitimierte Politik" führen sollte. Über denselben Zeitraum hinweg bemängelten Medienforscher und -praktiker eine hohe Konvergenz der Berichterstattung in den ersten Wochen der Pandemie, mit einem Fokus auf der Entwicklung der Pandemie, den ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen und auf wenige wissenschaftliche Quellen. Auch einige der im April 2020 befragten Deutschen wünschten sich mehr Kritik im Journalismus. Etwa die Hälfte (53 Prozent) stimmte "eher" oder "voll und ganz" der Forderung zu, Journalisten sollten "die Empfehlungen von Virologen zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Virus kritisch hinterfragen". Diese Befragten waren tendenziell unzufrieden mit der öffentlichen Kommunikation durch Wissenschaft, Medien und Politik, und sie standen tendenziell auch der Vorstellung skeptisch gegenüber, dass Virologen die Pandemiepolitik dominieren sollten.

In den darauffolgenden Monaten gab es mehr Kritik und Vielfalt in der Berichterstattung. Allerdings wurden hierbei weiterhin wissenschaftliche und politische Aussagen vermengt. Das hatte vermutlich weitreichende Folgen für die weitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Pandemie. Der ersten Phase einer weitgehenden Konvergenz der Pandemieberichterstattung, die dem Wunsch vieler Deutscher nach eindeutigen politischen Schlussfolgerungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprochen und einige misstrauisch gemacht hatte, folgte eine Phase, in der wissenschaftliche Erkenntnisse als stark widersprüchlich dargestellt wurden, vor allem in den weithin beachteten Formaten der etablierten Medien wie Talkshows, Nachrichtensendungen oder politische Interviews. Den Expertisen der einen wurden die angeblichen Gegenexpertisen der anderen gegenübergestellt. Dabei handelten politische Redakteure auf Grundlage der Annahme, sie könnten sich des Wahrheitsgehaltes von Tatsachenbehauptungen annähern, indem sie widerstreitende wissenschaftliche Sacheinschätzungen aufeinanderprallen lassen. Damit erlagen sie jedoch einem weit verbreiteten Muster und Irrtum der politischen Berichterstattung über Wissenschaft. Zwar kann die Gegenüberstellung konträrer politischer Forderungen sinnvoll sein, um dem Publikum die Bandbreite politischer Auffassungen in der Gesellschaft zu verdeutlichen und durch Diskussionen mehrheitsfähige Ansätze für Kompromisslösungen zu ermitteln. Dagegen führt eine ähnliche Behandlung von Expertise und Gegenexpertise in die Irre. Denn anders als konträre politische Ansichten, die auf konträren Werturteilen, Menschenbildern oder Gesellschaftsentwürfen gründen und deshalb weder wahr noch unwahr sind, gibt es bei wissenschaftlichen Aussagen keinen Kompromiss. Wissenschaftliche Tatsachenbehauptungen sind sachlich wahr oder falsch beziehungsweise sachlich mehr oder weniger zutreffend. Laien haben aber kaum Möglichkeiten, den Wahrheitsgehalt hoch spezialisierter wissenschaftlicher Aussagen zu beurteilen.

In den politischen Formaten der Berichterstattung sowie in zahlreichen durch Parteienproporz besetzten wissenschaftlichen Beratungsgremien wurden Wissenschaftler im Verlauf der Pandemie nicht mehr nur aufgrund ihrer wissenschaftlichen Expertise oder ihrer wissenschaftlichen Einschätzungen eingesetzt, sondern wegen der politischen Implikationen, die ihre Einschätzungen hatten, oder aufgrund der politischen Schlussfolgerungen, die die Wissenschaftler selbst zogen. Auf diese Weise wurde wissenschaftliche Expertise im Verlauf der Pandemie politisch aufgeladen. Dies führte zu einer starken Polarisierung zweier Lager, die zwar unterschiedlich groß waren, sich aber unversöhnlich gegenüberstanden. Auf Twitter formierte sich das #TeamVorsicht gegen das #TeamLockerung. Beide Lager beriefen sich auf Wissenschaftler, die ihre politischen Forderungen untermauerten, und beschimpften Wissenschaftler, deren Einschätzungen ihren politischen Forderungen im Weg standen.

Aus zahlreichen anderen politischen Kontroversen um Umwelt, Technologie und Wissenschaft ist bekannt, dass das Vertrauen in Wissenschaftler oder die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnis maßgeblich von den politischen Einstellungen der Menschen abhängt. In einem Fragebogen-Experiment mit US-Amerikanern aus dem Jahr 2011 zeigte sich beispielsweise, dass eine große Mehrheit (88 Prozent) der Menschen mit gleichheitsorientierten-kommunitaristischen, also typischen Ansichten aus dem Lager der Demokraten, einen zitierten Autor dann für einen ausgewiesenen Experten hielten, wenn der Autor den Klimawandel als ein hohes Risiko bezeichnete. Dagegen hielt nur eine Minderheit (23 Prozent) der Menschen mit hierarchisch-individualistischen, also typischen Ansichten aus dem Lager der Republikaner, denselben Autor für einen Experten. Umgekehrt hielt eine große Mehrheit (86 Prozent) der Menschen mit hierarchisch-individualistischen Ansichten einen Autor für einen ausgewiesenen Experten, wenn dieser den Klimawandel als geringes Risiko bezeichnete. Dagegen hielt nur eine Minderheit (47 Prozent) der Menschen mit gleichheitsorientierten-kommunitaristischen Ansichten denselben Autor für einen Experten. Dieses Muster der politisch motivierten Informationsverarbeitung zeigt sich robust in zahlreichen Kontroversen in den USA, zum Beispiel in jenen um den Klimawandel, die Anwendung grüner Biotechnologien in der Pflanzenzüchtung, um Waffenkontrolle oder Abtreibung. Die Menschen interpretieren Informationen auf eine Art und Weise, die es ihnen erlaubt, ihre politischen Positionen beizubehalten oder sogar zu verfestigen. Sie akzeptieren Expertisen, die ihre Sichtweisen unterstützen, und diskreditieren Expertisen, die ihre Sichtweisen hinterfragen. Je stärker wissenschaftliche Erkenntnisse also eine politische Bedeutungsdimension haben, desto eher dürften sie von Teilen der Bevölkerung aus rein politischen Gründen (unkritisch) angenommen oder diffamiert werden. Dieses Motiv dürfte auch den Umgang mit wissenschaftlichen Informationen in der Pandemie in weiten Teilen der Bevölkerung bestimmt haben.

Folgerungen

Wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Entwicklungen haben das Leben der Menschen in vielen Bereichen kontinuierlich verbessert, etwa in der Mobilität, der Gesundheitsversorgung, der Kommunikation oder der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Zudem ermöglicht wissenschaftliches Wissen die Früherkennung von Gefahren wie Erdbeben, die Ausbreitung von Viren, klimatische Veränderungen, Inflation oder die finanzielle Instabilität des Rentensystems. Damit liefern wissenschaftliche Erkenntnisse bedeutsame Grundlagen für informiertes politisches Handeln, das zum einen auf die Regulierung wissenschaftlich entwickelter Anwendungen wie Impfungen, Mobilitätsantriebe oder Züchtungsverfahren und zum anderen auf wissenschaftlich belegte Gefahren wie Epidemien, Inflation oder den Klimawandel ausgerichtet ist.

In Wissenschaft, Politik und der Bevölkerung werden jedoch häufig unzutreffende Vorstellungen davon erweckt, wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in demokratisch legitimiertes politisches Handeln einfließen können – mit dysfunktionalen Folgen für politische Sachdebatten. So werden wissenschaftliche Erkenntnisse häufig als rhetorisches Druckmittel benutzt, um bestimmte politische Entscheidungen zu erzwingen. Dies dürfte allerdings auf die Wissenschaft zurückfallen. Wenn die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischer Entscheidungsfindung nicht transparent gemacht werden, können sich Politiker sowie Bürgerinnen und Bürger dem politischen Druck zu bestimmten Entscheidungen nur dadurch entziehen, dass sie wissenschaftliche Erkenntnis diskreditieren. Zugunsten möglichst rationaler, wissensbasierter Auseinandersetzungen erscheint es dagegen wünschenswert, wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu politisieren. Dies dürfte es relevanten Akteuren erleichtern, unbequeme wissenschaftliche Erkenntnisse zu akzeptieren und sich stattdessen in Wertedebatten für die eigenen politischen Ziele zu engagieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Wie sich russisches Erdgas in der nationalen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt, Ad-hoc-Stellungnahme, 8.3.2022, Externer Link: http://www.leopoldina.org/.

  2. Zum Beispiel in einem Austausch auf Twitter, an dem sich unter anderem die Ökonomen Rudi Bachmann und Clemens Fuest beteiligten, Externer Link: https://twitter.com/BachmannRudi/status/1508179793606492162.

  3. Vgl. Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Stuttgart 2021; Sheila S. Jasanoff, Contested Boundaries in Policy-Relevant Science, in: Social Studies of Science 2/1987, S. 195–230.

  4. Vgl. Robert K. Merton, The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations, Chicago 19744; Karl R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 2005 (1935); Max Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1/1904, S. 22–87.

  5. Vgl. Werner J. Patzelt, Einführung in die Politikwissenschaft, Passau 20076, S. 22–28.

  6. Vgl. Roger A. Pielke, When Scientists Politicize Science: Making Sense of Controversy Over The Skeptical Environmentalist, in: Environmental Science & Policy 7/2004, S. 405–417; Weber (Anm. 4).

  7. Vgl. Rainer Grundmann/Simone Rödder, Sociological Perspectives on Earth System Modeling, in: Journal of Advances in Modeling Earth Systems 11/2019, S. 3878–3892; Matthew C. Nowlin, Political Beliefs, Views About Technocracy, and Energy and Climate Policy Preferences, in: Public Understanding of Science 3/2021, S. 331–348; Pielke (Anm. 6).

  8. Vgl. James N. Druckman/Toby Bolsen, Framing, Motivated Reasoning, and Opinions About Emergent Technologies, in: Journal of Communication 4/2011, S. 659–688; Eric C. Nisbet et al., The Partisan Brain: How Dissonant Science Messages Lead Conservatives and Liberals to (Dis)Trust Science, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 1/2015, S. 36–66; Nowlin (Anm. 7).

  9. Vgl. Thomas Dietz, Bringing Values and Deliberation to Science Communication, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, Supplement 3/2013, S. 14081–14087.

  10. Vgl. Bogner (Anm. 3); Laura Münkler, Expertokratie: Zwischen Herrschaft kraft Wissens und politischem Dezisionismus, Tübingen 2020; Nowlin (Anm. 7).

  11. Vgl. John R. Hibbing/Elizabeth Theiss-Morse, Stealth Democracy: Americans’ Beliefs About How Government Should Work, Cambridge 2002.

  12. Vgl. Eri Bertsou/Daniele Caramani, People Haven’t Had Enough of Experts: Technocratic Attitudes Among Citizens in Nine European Democracies, in: American Journal of Political Science 1/2022, S. 5–23; Nowlin (Anm. 7).

  13. Vgl. hierzu und zum Folgenden Bertsou/Caramani (Anm. 12).

  14. Vgl. Carol L. Silva/Hank C. Jenkins-Smith/Richard P. Barke, Reconciling Scientists’ Beliefs About Radiation Risks and Social Norms: Explaining Preferred Radiation Protection Standards, in: Risk Analysis 3/2007, S. 755–773.

  15. Vgl. Bertsou/Caramani (Anm. 12); Hibbing/Theiss-Morse (Anm. 11).

  16. Senja Post/Nils Bienzeisler/Mareike Lohöfener, A Desire for Authoritative Science? How Citizens’ Informational Needs and Epistemic Beliefs Shaped Their Views of Science, News, and Policymaking in the COVID-19 Pandemic, in: Public Understanding of Science 5/2021, S. 496–514.

  17. Vgl. David H. Weaver, Audience Need for Orientation and Media Effects, in: Communication Research 3/1980, S. 361–373; Jörg Matthes, The Need for Orientation Towards News Media: Revising and Validating a Classic Concept, in: International Journal of Public Opinion Research 4/2006, S. 422–444.

  18. Vgl. Post/Bienzeisler/Lohöfener (Anm. 16).

  19. Ebd. Der mittlere Zustimmungswert auf der fünfstufigen Skala lag bei M = 3,89.

  20. Ebd. Die mittleren Zustimmungswerte auf der fünfstufigen Skala lagen bei M = 4,51 bzw. bei M = 4,34.

  21. Senja Post, Die Corona-Krise. Die Rolle von Medien, Politik und Wissenschaft aus Sicht der Deutschen, Vortrag in der Ringvorlesung "Ein Virus verändert die Welt", 13.7.2020, Universität Göttingen, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=F_yWD75zNRs.

  22. Vgl. Bertsou/Caramani (Anm. 12); Niels G. Mede/Mike S. Schäfer, Science-Related Populism: Conceptualizing Populist Demands Toward Science, in: Public Understanding of Science 5/2020, S. 473–491; Eric Merkley, Anti-Intellectualism, Populism, and Motivated Resistance to Expert Consensus, in: Public Opinion Quarterly 1/2020, S. 24–48.

  23. Vgl. Mede/Schäfer (Anm. 22).

  24. Vgl. ebd.

  25. Vgl. Bertsou/Caramani (Anm. 22).

  26. Vgl. Niels G. Mede/Mike S. Schäfer, Science-Related Populism Declining During the COVID-19 Pandemic: A Panel Survey of the Swiss Population Before and After the Coronavirus Outbreak, in: Public Understanding of Science 2/2022, S. 211–222. Die Studie bezieht sich auf die Schweiz, die dortige Entwicklung ist aber aufgrund der geografischen und kulturellen Nähe vermutlich mit der in Deutschland vergleichbar.

  27. Cornelia Betsch, Ergebnisse aus dem COVID-19 Snapshot Monitoring Corona COSMO: Die psychologische Lage. KW 44, Stand 5.11.2021, S. 26, Externer Link: https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/files/COSMO_W55.pdf.

  28. Vgl. ebd.

  29. Vgl. Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung, 1.6.2020, Externer Link: http://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf.

  30. Vgl. Volker Stollorz, Herausforderungen für den Journalismus über Wissenschaft in der Coronapandemie – erste Beobachtungen zu einem Weltereignis, in: Bundesgesundheitsblatt–Gesundheitsforschung–Gesundheitsschutz 1/2021, S. 70–76; Holger Wormer, German Media and Coronavirus: Exceptional Communication – Or Just a Catalyst for Existing Tendencies?, in: Media and Communication 2/2020, S. 467–470.

  31. Post/Bienzeisler/Lohöfener (Anm. 16).

  32. Vgl. ebd.; Viren und Medien: Wer verbreitet hier was? Christian Drosten im Gespräch, 15.11.2020, Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/viren-und-medien-wer-verbreitet-hier-was-christian-drosten-im-gespraech-dlf-2322b63b-100.html.

  33. Vgl. Maxwell T. Boykoff/Jules M. Boykoff, Balance as Bias: Global Warming and the US Prestige Press, in: Global Environmental Change 2/2004, S. 125–136.

  34. "False Balance" und Wissenschaftsjournalismus. Journalisten brauchen Fachkompetenz. Servan Grüninger im Gespräch mit Vera Linß und Marcus Richter, 11.9.2021, Externer Link: http://www.deutschlandfunkkultur.de/false-balance-und-wissenschaftsjournalismus-journalisten-100.html.

  35. Vgl. Rainer Bromme/Susan R. Goldman, The Public’s Bounded Understanding of Science, in: Educational Psychologist 2/2014, S. 59–69.

  36. Vgl. Dan M. Kahan/Hank Jenkins-Smith/Donald Braman, Cultural Cognition of Scientific Consensus, in: Journal of Risk Research 2/2011, S. 147–174; Ziva Kunda, The Case for Motivated Reasoning, in: Psychological Bulletin 3/1990, S. 480–498.

  37. Vgl. Charles S. Taber/Milton Lodge, Motivated Skepticism in the Evaluation of Political Beliefs, in: American Journal of Political Science 3/2006, S. 755–769.

  38. Vgl. Nisbet et al. (Anm. 8).

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ist Professorin für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
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