Dass Wissenschaft mit Demokratie recht wenig zu tun habe, weil über Wahrheit nicht abgestimmt werde, ist eine populäre, aber oberflächliche Behauptung. Tatsächlich finden beide ihre Gemeinsamkeit in dem, was sich als wissenschaftliches beziehungsweise demokratisches Ethos beschreiben lässt: Wissenschaft und Demokratie repräsentieren fehlerfreundliche Verfahren, um neues Wissen beziehungsweise soziale Ordnung herzustellen, die sich aus einem grundlegenden Misstrauen gegenüber der Dogmatik autoritativer Zielsetzungen speisen. So wenig die Wissenschaft die religiös inspirierte Idee absoluter Wahrheit überzeugt, so wenig verträgt sich die liberale Demokratie mit normativen Zielvorgaben, die außer Streit gestellt sind.
Diese Strukturgleichheit von wissenschaftlichem und demokratischem Ethos ist auch der tiefere Grund dafür, warum die Demokratie als Schutzmacht der Wissenschaft und die Wissenschaft als Garant rationaler Politik verstanden werden.
In ein Spannungsverhältnis geraten Wissenschaft und Demokratie, wenn Entgrenzungsprozesse greifen, die im Extremfall als "Expertokratie" oder "politisierte Wissenschaft" skandalisiert werden.
Epistemisierung des Politischen
Was man – mit ein wenig Mut zum gefürchteten Soziologendeutsch – als "Epistemisierung des Politischen" bezeichnen kann, ist ein gegenwärtiger Trend, politische Probleme und Ansprüche auf der epistemischen Ebene zu reformulieren.
Wo oder wie kommt diese Epistemisierung gegenwärtig zum Ausdruck? Ein Beispiel liefern aktuelle Debatten um die Krise der Demokratie. Der "Brexit" und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben für die populistischen Versuchungen der Demokratie sensibilisiert und gleichzeitig die Frage nach den epistemischen Grundlagen demokratischer Politik aufgeworfen. Die steile Karriere von "Post Truth", "Fake News" und Verschwörungstheorien trug dazu bei, dass Diskussionen um Demokratie, Partizipation und Polarisierung enger als zuvor mit den Themen Wissen, Wahrheit und Expertise verknüpft wurden. Unter dem Titel "Political Epistemology" hat sich zwischenzeitlich ein interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert, das dem Zusammenhang (oder Spannungsverhältnis) von epistemischen und demokratischen Tugenden nachgeht.
Auf diese Weise ändert sich auch der Fokus der Demokratiekritik. Im Vordergrund stehen nicht mehr soziale, sondern epistemische Kategorien. Die marxistische Demokratiekritik, um ein plakatives Beispiel zu wählen, hatte argumentiert, dass eine Demokratie, die auf formale Freiheit anstatt auf substanzielle Gleichheit setzt, nur eine verschleierte Diktatur der Bourgeoisie sei. Für den Marxismus ging es also primär darum, die Demokratie vor der Macht der Privilegierten zu schützen. Einer – wenn man so will – epistemisierten Demokratiekritik hingegen geht es vor allem darum, die Demokratie vor der Dummheit der Leute zu retten. Das heißt, die Krise der Demokratie wird als Folge der Ignoranz gedeutet. Die Argumentation lautet im Kern: Die Dummen wählen dumme Politiker und stehen daher einer fortschrittlichen, nicht-populistischen Politik im Weg. Man muss also, um die Demokratie zu retten, politische Partizipation nach den kognitiven Fähigkeiten der Leute staffeln.
Ein weiteres Beispiel für Epistemisierung liefern aktuelle Krisen, allen voran die Klimakrise. Der Streit um die richtige Klimapolitik hat sich lange Zeit auf Wissensfragen konzentriert: Ist der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur eine Folge menschlicher Aktivitäten oder nur ein Indiz für natürliche Klimaschwankungen? Oder: Wie hoch wird die Temperatur steigen, wenn die Weltwirtschaft ohne klimapolitische Restriktionen weiterläuft? Und welche Folgen würden sich daraus ergeben? Der Dissens bezieht sich hier – anders als in Wertekonflikten – nicht auf die normative Bewertung dieser Folgen. Es ist unumstritten, dass eine globale Erwärmung von drei oder vier Grad Celsius für einen Großteil der Weltbevölkerung katastrophale Folgen hätte. Im Vordergrund steht die Frage, ob die Prognosen über die Eintrittswahrscheinlichkeit der allgemein als negativ bewerteten Ereignisse zuverlässig sind. In der Folge wird um die Plausibilität von Risikoberechnungen, Folgenabschätzungen und Zukunftsszenarien gerungen. Der klimapolitische Konflikt macht sich daher zu einem guten Teil an der Glaubwürdigkeit und wissenschaftlichen Qualität des Weltklimarats (IPCC) fest. Die immer wieder aufflammende Kritik am IPCC unterstreicht letztlich nur den zentralen Stellenwert dieses Expertengremiums im Klimastreit.
Ähnliches gilt auch für die politischen Konflikte um den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft (Glyphosat), um Nutzen und Gefahren des Impfens, um die Risiken von elektromagnetischen Feldern (5G-Netz), von Nanopartikeln oder der Gentechnik – diskutiert und gestritten wird in all diesen Fällen um die Zuverlässigkeit von Studien und Daten, die Glaubwürdigkeit von Szenarien und Modellen oder die Stichhaltigkeit von Grenzwerten und Kennzahlen. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit beziehungsweise der Auseinandersetzungen rücken deshalb epistemische Aspekte, also Fakten, Evidenzen, kognitive Kompetenzen. Die Kontrahenten in diesen Streitigkeiten mag im Detail sehr vieles trennen. Was sie jedoch vereint, ist der feste Glauben daran, dass die gegenwärtige Krise oder die aktuelle Streitfrage erst dann richtig begriffen oder richtig formuliert werden kann, wenn es im Kern um Wissensdinge geht beziehungsweise wir sie als Wissensprobleme verhandeln.
Follow the science?
Der größte Unterschied zwischen aktuellen Pandemien und früheren Seuchen wie der Pest besteht im Primat der Wissenschaft. Es ist nicht mehr die Religion, die die maßgeblichen Deutungen der Krankheit liefert und die verbindlichen Rituale und Symbole zur Verfügung stellt, um die Krise zu bewältigen. Pestkreuze, Andachten und Sühnewallfahrten konnten nur so lange als hilfreich gelten, wie die Seuche als finsteres Schicksal oder Strafe Gottes galt. Im 19. Jahrhundert, mit der Entwicklung der medizinischen Mikrobiologie durch Louis Pasteur und Robert Koch, lief die Wissenschaft der Religion den Rang als maßgebliche Interpretin von Seuchen ab. Infektionskrankheiten wurden entmystifiziert, dies spiegelt sich nicht zuletzt in den schmucklosen Akronymen, mit denen Seuchen jüngeren Datums bezeichnet werden (HIV, MERS-CoV, SARS-CoV, BSE). Auch der geheimnisvolle "Schwarze Tod" wurde als bakterielle Infektionskrankheit enträtselt.
Es nimmt darum nicht Wunder, dass die Wissenschaft in der Corona-Krise eine politische Führungsrolle erhielt – ähnlich wie in der Klimakrise.
Wie immer man den Umgang der Regierung mit wissenschaftlicher Expertise bewertet: Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass der Politik stets daran lag, ihre Entscheidungen durch den Hinweis auf die Übereinstimmung mit "der" Wissenschaft zu legitimieren, und zwar ganz abgesehen davon, durch welche Einflussgrößen der politische Abwägungsprozess tatsächlich geprägt war. Eine solche Legitimationsstrategie zeugt auf wohltuende Weise von einer Hochachtung vor wissenschaftlichen Einsichten und Evidenzen, gerade wenn man an das postfaktische Wirken eines Jair Bolsonaro oder eines Donald Trump während der Pandemie denkt. Problematisch wird eine solche Legitimationsstrategie allerdings dann, wenn angesichts der real existierenden Vielfalt an wissenschaftlichen Positionen und Perspektiven durch künstliche Verknappung relevanter Expertise ein fiktiver Expertenkonsens erzeugt werden muss, um dem selbstgestellten Anspruch einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen Wissenschaft und Politik genügen zu können.
In der öffentlichen Inszenierung dieses Einklangs zwischen Politik und Wissenschaft trat diese Ambivalenz deutlich hervor. Anlässlich wichtiger Pressekonferenzen hatten der Gesundheitsminister oder die Bundeskanzlerin stets einen Experten zur Seite, meist Christian Drosten oder Lothar Wieler (oder beide). Dies ließ sich einerseits als politisches Bekenntnis zu einer rationalen Pandemiebekämpfung lesen. Andererseits konnte man dieses Ritual auch leicht als Ausdruck wechselseitiger Steuerungs- oder Instrumentalisierungsversuche deuten. In jedem Fall erschien der beisitzende Experte als autoritativer Repräsentant der Wissenschaft und damit als Vertreter jener maßgeblichen wissenschaftlichen Perspektive, die andere Aspekte und Paradigmen an den Rand drängte. Wie der britische Politologe Paul Cairney mit Blick auf Boris Johnsons Pandemie-Politik festgestellt hat: Der explizite Anspruch der britischen Regierung, "der" Wissenschaft zu folgen, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als uneinlösbar. Die Regierung folgte "ihren" Wissenschaftlern, also einer schmalen Kerngruppe hochkarätiger, medienwirksamer Experten ihres Vertrauens.
Angesichts einer akuten Krise wie im Frühjahr 2020 ist dies wahrscheinlich auch gar nicht anders möglich. Die alarmierenden Bilder aus der Lombardei hatten einen Schockmoment erzeugt, in dem der Lebensschutz – kompromisslos und abstimmungsfrei – oberste Priorität erhielt. Die virologisch-medizinische Expertise konnte in dieser akuten Krisenphase deshalb die politische Entscheidung vorwegnehmen, weil in der Gesellschaft ein weitgehender Wertekonsens darüber herrschte, dass man den von der Wissenschaft ausgemalten Notstand verhindern will. Kurzum, nur in akuten Krisensituationen kann wissenschaftliche Expertise legitimerweise so etwas wie einen politischen Sachzwang entfalten.
Chronische Krisen hingegen sind dadurch gekennzeichnet, dass der umfassende gesellschaftliche Wertekonsens erodiert. Die (realen oder vermuteten) Folgen der politischen Krisenbekämpfung führen zum Ende der großen Einigkeit. Die Krise wird nun standpunktspezifisch bewertet und erhält damit viele Gesichter. Der Dissens bezieht sich sowohl auf die normative Ebene (Wertepluralismus), auf die politische Ebene (es erwacht der Wille zur Opposition), auf die öffentliche Arena (Proteste) sowie auf die wissenschaftliche Ebene. Mit Blick auf letzteren Aspekt heißt das: Sobald deutlich wird, dass Corona ein vielschichtiges Problem mit ökonomischen, rechtlichen, psychosozialen und politischen Facetten darstellt, müssen – zumindest im Prinzip – weitere Stimmen aus der Wissenschaft gehört werden, und zwar über die Medizin, die Virologie und die Modellrechnungen der Physik hinaus. Der Versuch, in einer solchen Situation "die Politik herauszuhalten" und so zu tun, als gebe es nur eine rational begründete Handlungsoption, ist daher wenig glaubwürdig.
Der explizite Bezug der deutschen Regierungsspitze auf die infektionsepidemiologische Lage in Form von Reproduktionsraten, Inzidenzen und Hospitalisierungen hingegen legte den Eindruck nahe, dass sich aus den Zahlen automatisch ein bestimmtes politisches Handlungsprogramm ableiten lasse. Der legitime Anspruch evidenzinformierter Politik wurde auf diese Weise vom neu belebten Ideal evidenzbasierter Politik abgelöst, was Teilen der Wissenschaft die Gelegenheit gab, mittels interdisziplinärer Stellungnahmen, die vor allem einen Konsens der normativ Gleichgesinnten zum Ausdruck brachten, politischen Aktivismus zu betreiben.
Gegenexpertise und Pseudowissenschaft
Die Sonderstellung der Wissenschaft ließ im Feuilleton immer wieder den Verdacht aufkommen, dass im Zuge der Pandemie die Stunde der Gesundheitstechnokraten gekommen sei. Plakative Warnungen vor der Expertokratie hatten (und haben) Konjunktur, gerade im Kontext der im Lockdown vollzogenen Freiheitsbeschränkungen. Die italienische Wochenzeitung "L’espresso" verkündete unter der Überschrift "Die sieben mächtigsten Männer Italiens", dass im Zeitalter von Corona nur noch Wissenschaftler das Sagen hätten.
Aus dieser Sicht erscheinen Experten vor allem als Repräsentanten eines Regimes der organisierten Freiheitsberaubung. Im Zuge der sich polarisierenden Konflikte um die richtige Corona-Politik entluden sich Wut und Hass auch auf den öffentlich sichtbaren Experten: der Immunologe Anthony Fauci, oberster Berater der US-Regierung in der Pandemie, erhielt nach Morddrohungen Bodyguards zur Seite gestellt, und in Belgien wurde der Virologe Mark van Ranst mitsamt seiner Familie an einen sicheren Ort gebracht, nachdem ein Militärscharfschütze die Nachricht hinterlassen hatte, dass er sich auf den Weg gemacht habe, um Virologen zu erschießen. Betroffene berichteten von einem nie dagewesenen Ausmaß an Hass und Beleidigungen gegenüber den wissenschaftlichen Aushängeschildern der Pandemiebekämpfung.
Diese Attacken auf medial besonders sichtbare Experten sind unsäglich. Der illegitime Protest verrät aber etwas über die Logik von Wissenskonflikten: In dem Maße, wie politische Konflikte als Wissenskonflikte verstanden und ausgetragen werden, wird die Wissenschaft selbst zum Gegenstand politischer Streitigkeiten. Für die politische Mission wird dementsprechend auf dem Terrain der Wissenschaft gekämpft. Im Extremfall kann das bedeuten, dass sich ungebändigter Hass auf das wissenschaftliche "Establishment" entlädt. Im Normalfall jedoch wird Gegenexpertise mobilisiert, um abweichende normative Positionen durch Rekurs auf Expertenwissen zu legitimieren.
Diese Gegenexpertise kann aus den Reihen anerkannter Fachvertreter oder aber auch von Leuten stammen, die trotz akademischer Titel und einschlägiger Karrieren nur bedingt als satisfaktionsfähig gelten und daher als Außenseiter oder Sonderlinge behandelt werden. Wo die Grenzen seriöser Wissenschaft verlaufen, ist freilich selbst wieder Gegenstand politisch motivierter Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Expertenschaft. In Deutschland hat dies Christian Drosten vorgeführt, der im März 2021 in einer Folge des NDR-Podcasts "Coronavirus-Update" Aussagen wie "Mit dem Virus leben" und "Dauerwelle" als "typische, mehrdeutig[e] Begriffe im Sinne der Wissenschaftsleugnung" bezeichnet hatte und damit den Bonner Virologen Hendrik Streeck, der sich dahingehend geäußert hatte, aus dem Kreis ernstzunehmender Experten ausschloss, wenngleich er nicht namentlich genannt wird.
Deutlich wird anhand all dieser Beispiele aus der Pandemie, dass der Streit um die richtige Politik immer mehr zu einem Konflikt um das bessere Wissen wurde. Selbst jene Kritiker der Corona-Politik, die auf ihren Protestmärschen den Weg in faktenferne Gegenwelten antraten, verzichteten nicht auf den hehren Anspruch echter Wissenschaftlichkeit. So beanspruchten viele aus dem Dunstkreis der "Querdenker", die Zahlen des Robert Koch-Instituts oder des Statistischen Bundesamts einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Auffällig ist dabei allerdings, dass eine kritische Überprüfung der eigenen Evidenzansprüche, für die in aller Regel Anekdoten aus dem Bekanntenkreis und der "gesunde Menschenverstand" geltend gemacht wurden, konsequent unterblieb. Als Träger eines angeblich stigmatisierten Wissens beanspruchten die "Querdenker" eine besondere Authentizität, die von typisch wissenschaftlichen Begründungszwängen entlasten sollte. So kam es im Zuge der Krise zur Herausbildung einer "‚Misstrauensgemeinschaft‘, die sich in einer Wissensparallelwelt bewegt".
In der Krise erlebten wir also das seltene Phänomen, dass Wissenschaftsskepsis den Charakter einer zeitweise recht breiten sozialen Bewegung annahm. Unter dem Druck der Epistemisierung wurden pseudowissenschaftliche Aktivitäten freigesetzt, die den eigenen politischen oder normativen Standpunkt mit dem Hinweis auf "höhere" oder "alternative" Wahrheiten zu legitimieren versuchten. Unter "Pseudowissenschaft" können wir dabei die Ablehnung evidenzbasierter Erkenntnisansprüche aus der Wissenschaft ("Denialism") sowie eine ideologiegetriebene Wissensproduktion unter rhetorischem Rekurs auf wissenschaftliche Standards verstehen.
Im Rahmen ihrer Wissenspolitik beruft sich diese Pseudowissenschaft oft genug auf einstmals renommierte Wissenschaftler (wie den Virologen Robert Malone im Corona-Streit), auf wissenschaftlich ausgewiesene Gegenexperten (wie Patrick Michaels und Fred Singer im Klimastreit) oder auf "geniale", aber von der "Expertenelite" marginalisierte Außenseiter (wie den Kinderarzt Andrew Wakefield im Fall der Impfkontroverse). Man hinterfragt die Evidenzansprüche der "Mainstream"-Wissenschaft, weist auf Inkonsistenzen hin oder stellt jene Methoden und Theorien infrage, die man braucht, um die Ergebnisse zu interpretieren. Man fragt, ob wirklich alle relevanten Gruppen im Prozess der Wissensgenerierung gehört wurden und ob das gegebene Maß an Übereinstimmung zwischen den Experten gleichbedeutend mit Konsens ist. Gibt es diesen Konsens tatsächlich, wird er sogleich als Ausdruck einer "Wagenburgmentalität" attackiert. Am Ende steht die Forderung, dass eine rein datengestützte Wissenschaft ("Sound Science") ohne Scheuklappen und Spekulation notwendig sei: "Theories or speculation (…) are not sufficient. We need science, not pseudo-science." Mit diesen Worten bringt (ausgerechnet) ein US-Republikaner anlässlich einer Expertenanhörung im Repräsentantenhaus zum Klimawandel diese Position auf den Punkt.
Keine Kompromisse?
Wie lassen sich Wissenskonflikte schlichten? Schwierige Frage. Ein zentrales Problem besteht darin, dass sich die Logik der oben beschriebenen Epistemisierung mit der Logik demokratisch-politischer Problemlösung nur schlecht verträgt. Demokratische Politik ist darauf angelegt, divergierende Interessen, Weltanschauungen und Moralvorstellungen in einem auf Repräsentativität angelegten Erwägungsprozess so weit zu gewichten, dass tragfähige Kompromisse möglich werden. In Konflikten jedoch, in denen nicht einfach – notwendigerweise partikulare – Interessen oder irrtumsanfällige Meinungen auf dem Spiel stehen, sondern etwas Universelles, nämlich das bessere Wissen (also höhere Einsicht oder "Wahrheit"), ist der Raum für Verhandlungen und Zugeständnisse begrenzt. Kompromisse sind kaum mehr möglich, wenn unübersichtliche politische Konflikte durch Rekurs auf überlegene Einsicht und Vernunft geschlichtet werden sollen – sei es jene der Wissenschaft oder aber der Hausverstand der radikalen Wissenschaftskritiker ("Common Sense"). Bereits Hannah Arendt hat auf das Spannungsverhältnis zwischen – wenigstens im Prinzip – verständigungsbereiter Politik und der unangreifbaren Autorität besseren Wissens hingewiesen.
Diese Polarisierung wird bis auf die Ebene der Alltagssprache greifbar. Wenn sich das Politische auf Epistemisches reduziert, wird der politische Gegner zwangsläufig zum Feind der Vernunft, zum kompletten Ignoranten. Dies wird anhand der Begriffe deutlich, die wir heute – im Kontext der Corona- und Klimakrise – für die Fundamentalopposition bereithalten: Wir nennen diese Leute "Corona-Leugner" oder "Klimaleugner". Zu Zeiten von Wackersdorf und anderer unversöhnlicher Anti-Atom-Proteste hießen die Demonstranten schlicht "Atomkraftgegner". Den "Atomkraftnutzen-Leugner" kannte man damals nicht.
Wissenskonflikte sind – wenigstens im Prinzip – unteilbare Konflikte; bei ihnen geht es darum, Vernunft zu verwirklichen (oder zu verhindern), man könnte fast sagen: Es geht um alles oder nichts.
Im Gegensatz dazu sind Interessen- oder Verteilungskonflikte teilbare Konflikte. Diese Konflikte drehen sich um die Basisfrage: Wie viel bekomme ich vom Kuchen? Sie formulieren daher eine Einladung zu Verhandlung und Kompromissbildung. Der politische Gegner wird nicht als Person (zum Beispiel als Personifikation der Unvernunft), sondern als Rollenträger ins Bild gesetzt. Seine Funktion als Sparringspartner kann er nur erfüllen, wenn der Konflikt nicht so weit zugespitzt wird, dass ihm, dem politischen Gegner, letztlich die Legitimation abgesprochen wird. Das heißt, Interessenkonflikte können politisch produktiv bearbeitet werden, sofern die Ansprüche und Aussagen des Gegners als Ausdruck eines legitimen Pluralismus gelten.
Dementsprechend variieren auch die Erwartungen an wissenschaftliche Expertise in diesen Konflikten. Im Fall von ökonomisch geprägten Verteilungskonflikten erscheint es uns völlig selbstverständlich, die Parteilichkeit oder Perspektivengebundenheit wissenschaftlicher Expertise zu thematisieren – ohne dass dies deren Autorität beeinträchtigen würde. Wir sprechen von arbeitgeber- beziehungsweise gewerkschaftsnahen Instituten und Ökonomen, und wir finden es ganz normal, dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (die berühmten "fünf Wirtschaftsweisen") mit Blick auf "rechte" und "linke" Positionen paritätisch besetzt ist, wodurch dem fünften Mitglied, also dem oder der Vorsitzenden, eine entscheidende, nämlich mehrheitsbildende Rolle zukommt. In Wissenskonflikten hingegen verbindet sich mit wissenschaftlicher Expertise nicht die Erwartung klarer politischer Positionierung, sondern weltanschaulicher Neutralität. Expertise – so erleben wir es in der Corona- und Klimakrise – soll nicht weltanschaulich ausgewogen oder gar parteilich sein, sondern objektiv. An diesem Kriterium orientiert sich selbst noch die Leugnerbewegung: Dass die Wissenschaft aufgrund ihrer Abhängigkeit von Industrie und Staat nicht objektiv sein könne, gehört zu den Standardvorwürfen der Fundamentalopposition.
Was eingangs als Epistemisierung beschrieben wurde, hat also mit Blick auf politische Konflikte einen paradoxen Effekt: Die erhoffte Rationalisierung der Politik heizt Konflikte an, die sich politischer Verhandlung tendenziell entziehen, weil längst nicht mehr kompromissfähige Interessenfragen, sondern (scheinbar) eindeutig lösbare Sachfragen auf dem Spiel stehen. Wer in diesen Fragen epistemische Überlegenheit beanspruchen kann, ist zwangsläufig auch moralisch überlegen. Schließlich gibt es im Zuge der Epistemisierung nur noch eine richtige, aber viele falsche Antworten auf politische Streitfragen. Moralisierung, also die selbstgerechte Überhöhung der eigenen Position, erscheint auf diese Weise als Kehrseite der Epistemisierung.