1. Es gibt mittlerweile Kaffeetassen und T-Shirts mit der Aufschrift "Make Epidemiology Boring Again". Wünschen Sie sich manchmal die Zeit zurück, in der Epidemiologie und Virologie nur einen beschränkten Kreis von Menschen interessierte oder können Sie der verstärkten Aufmerksamkeit auch etwas abgewinnen?
Melanie Brinkmann – Mal so, mal so! Manchmal wird es mir zu viel, aber grundsätzlich finde ich es wunderbar, dass so ein großes Interesse an Wissenschaft besteht, und hoffe, dass wir dieses Momentum halten können. Es ist eine große Chance, dass mehr Menschen eine Vorstellung davon erlangen, wie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn funktioniert. Und ganz praktisch aus dem Bereich der Virologie: Vielleicht besteht nun die Gelegenheit, darüber zu informieren, dass beispielsweise das Cytomegalievirus, ein Herpesvirus, Fehlbildungen, wie etwa Hörschäden, bei Neugeborenen verursachen kann. Oder dass es einen ausgezeichneten Impfstoff gegen Humane Papillomaviren (HPV) gibt, die unter anderem Gebärmutterhalskrebs verursachen – mit der HPV-Impfung kann vielen Menschen späteres Leid erspart werden.
2. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht der Wissenschaftsjournalismus beziehungsweise die gesamte mediale Berichterstattung in der Corona-Krise, im Guten wie im Schlechten?
– Eine wichtige und entscheidende, aber einige Medien haben kein gutes Licht abgegeben – andere wiederum schon. Es gibt hervorragenden Wissenschaftsjournalismus, der meiner Meinung nach dringend ausgebaut werden sollte. Hier sollten Politik- und Wissenschaftsressort enger verzahnt zusammenarbeiten.
3. Wie haben Sie im Laufe der Zeit Ihre eigene Kommunikation angepasst, auch bezogen auf verschiedene Kommunikationswege mit ihren jeweiligen Eigenlogiken wie Twitter, Talkshows oder Austausch mit Medienredaktionen?
– Ich habe diverse Formate ausprobiert und habe schnell die Vorzüge, aber auch die Nachteile erkannt. Für gute Wissenschaftskommunikation sind meiner Ansicht nach Podcasts sehr gut geeignet, wenn man sich etwa den großen Erfolg des NDR-Podcasts "Coronavirus-Update" mit Christian Drosten und später auch mit Sandra Ciesek vor Augen führt. Aber auch Youtube bietet eine sehr gute Plattform. Talkshows sind eine eigene Welt und einfach nicht das richtige Format dafür, die Komplexität von Wissenschaft gut darzustellen, haben aber nach wie vor eine hohe Reichweite. Von Twitter habe ich mich etwas zurückgezogen – es macht keinen Spaß, nach jedem Tweet böse Kommentare zu bekommen. Ich denke, in den sozialen Medien versammeln sich geschlossene Gruppen und hauen verbal aufeinander ein. Ein wirklicher Austausch von Argumenten über die eigene Bubble hinweg findet bei Twitter wenig statt.
4. Gefühlt sind in Deutschland die Hobby-Virologen und -Epidemiologinnen eine wachsende Gruppe, die in Diskussionen stets die neuesten Statistiken und Studien zur Hand haben und versuchen, mit wissenschaftlichen Argumenten ihren Standpunkt zu begründen. Ist das eine begrüßenswerte Entwicklung oder sehen Sie darin eher eine Gefahr?
– Auch das ist differenziert zu betrachten: Einerseits gibt es Personen, die hervorragende Arbeit leisten, beispielsweise, weil sie ein sehr gutes Zahlenverständnis haben und auch ohne spezifisches Fachwissen im Bereich der Virologie oder der Epidemiologie interessante Analysen leisten können. Diese Personen argumentieren dann auch wissenschaftlich im eigentlichen Sinn und sind eine Bereicherung für den wissenschaftlichen Diskurs. Andererseits gibt es sehr viele, die ihre vorgefasste Meinung untermauern wollen und dafür scheinbare Belege teils willkürlich zusammensammeln. Das ist eher eine Gefahr, da es zwar nach Wissenschaft aussieht, aber in Wahrheit Pseudowissenschaft ist. Der Unterschied ist für wissenschaftliche Laien oft schwer zu erkennen.
5. Sie sind Mitglied im Corona-ExpertInnenrat und haben die Regierung auch zuvor beraten. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Fallstricke der wissenschaftlichen Politikberatung und des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik im Allgemeinen?
– Das ist ein schwieriges Feld. Für mich war das ein längerer Prozess, in dem ich mich der Politik auch erst annähern musste – und umgekehrt war es ebenso. Ein Aspekt ist sehr wichtig: Zum einen sollte Politik die Verantwortung nicht an die Wissenschaft abgeben und sich hinter einer wissenschaftlichen Bewertung verstecken. Zum anderen muss sie verstehen, was die Wissenschaft leisten kann und was nicht: sie kann einen Zustand beschreiben, sie kann in Szenarien denken, aber Hellseher sind wir nicht. Das Abwägen und Entscheiden, mit dieser Beratung im Rücken, muss dann von politischer Seite kommen, denn in diesen Prozess fließen ja noch viele weitere Aspekte ein. WissenschaftlerInnen hingegen müssen verstehen, dass Politik auch mal anders entscheidet, als beraten wurde. Wenn man die gegenseitige Erwartungshaltung entsprechend ausrichtet, die jeweiligen Aufgaben klar trennt und definiert, kann die Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft gut funktionieren – ohne dass eine Seite enttäuscht wird.
Aber ein Kernproblem sehe ich, und da ist die Pandemie nur eines von vielen Beispielen: Politik agiert in akuten Krisen stark situativ, ist aber nicht unbedingt gut darin, langfristige Strategien zu entwickeln, zu kommunizieren und zu verfolgen. Wo ist denn beispielsweise die Debatte, wo Europa in 10 oder 20 Jahren stehen soll und was dafür heute notwendig ist?
Die Fragen wurden schriftlich Mitte Juni 2022 beantwortet.