Die enge Zusammenführung von Migration und Wissen, gar in der begrifflichen Prägung "Migrationswissen", war bis vor Kurzem kaum vorstellbar. Zwar war in der Migrationsforschung bekannt, dass Wissen, gefasst als praktische "Information" über Zielland und Reisewege, einen Faktor für Migrationsentscheidungen darstellte,
Die Gesellschaftsdiagnose der Migrationsgesellschaft ist die umstrittenere. Allein in der wissenschaftlichen Diskussion stehen neben optimistisch gestimmten Einschätzungen gelungener Integration
Die Wissensgesellschaft bewegt sich als Gesellschaftsdiagnose in einem politisch deutlich ruhigeren Fahrwasser, vielmehr dient sie regelmäßig und weithin unwidersprochen zur Begründung politischer Zukunftsvisionen und subjektivierter Leistungsoptimierungen. Die weitreichenden Veränderungen in der Konzeptualisierung von Wissen, die im akademischen Feld programmatisch von der Wissenschaftssoziologie zur Wissenssoziologie und neuerdings auch von der Wissenschaftsgeschichte zur Wissensgeschichte geführt haben, richten sich dagegen gerade auf die sozialen Bedingungen der Produktion von Wissen, dessen ungleichmäßige Zirkulation und Veränderung im Zuge gesellschaftlichen Wandels,
Anerkennung
Bestrebungen, die Analyse von Migration und Wissen zusammenzuführen, finden einen theoretischen Ansatzpunkt bei den Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann mit ihrer sozialkonstruktivistischen Festlegung, "daß die Wissenssoziologie sich mit allem zu beschäftigen habe, was in einer Gesellschaft als ‚Wissen‘ gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit".
Für die Anerkennung von Wissen in der Migrationsgesellschaft ist entscheidend, Migrant:innen als Wissensakteur:innen zu sehen, und die "Vorstellung einer historischen Pluralität von Wissenschafts- bzw. Wissensbegriffen" ernst zu nehmen.
Für die operative Verbindung von Migrations- und Wissensgeschichte haben Simone Lässig und Swen Steinberg drei epochal und regional breit einsetzbare Untersuchungsperspektiven vorgeschlagen: Wissen über Migration sowie für und von Migrant:innen.
Mitgebrachtes Wissen
Die Migrationsgeschichte kennt Wanderungen hoch spezialisierter Berufsgruppen, vor allem im Bereich des Handwerks und Handels; auch Expats, Angehörige des international ausgerichteten Managements, der Forschung und Technik, sind hinzuzuzählen.
Umgekehrt verhielt es sich mit der Arbeitsmigration aus dem Mittelmeerraum, die seit dem ersten Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und Italien 1955 auf bilateralen staatlichen Regelungen mit einer Reihe von weiteren Ländern beruhte. Hier hegten in erster Linie die Entsendeländer die Hoffnung, dass ihre zurückkehrenden Landsleute mit beruflichem und technischem Wissen aus der Bundesrepublik künftig die eigenen Volkswirtschaften stärken würden.
Ein ganz eigener Fall mitgebrachten Wissens war das kulinarische Wissen, das die Grundlage für den beliebten und zur alltäglichen Konsumgewohnheit herangereiften Wirtschaftszweig der "ausländischen" Gastronomie bildete.
Das mitgebrachte kulinarische Wissen nahm zugleich eine Zwischenstellung ein zwischen dem Bereich der Wirtschaft und der im weitesten Sinne verstandenen Kultur. So sind (erinnerungs-)kulturelle Medien und Praktiken der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg in jüngerer Zeit sehr gut erforscht worden,
Neu organisiertes Wissen
Im Kontrast dazu stehen Bestrebungen, das mitgebrachte Wissen zukunftsfest zu machen und neu zu organisieren. Dabei ragt die Bedeutung von Schule als Bestandteil des Aufnahmeregimes heraus.
Weniger bekannt ist, dass neben die Wissensaneignung im deutschen Schulsystem immer wieder auch ein neu beziehungsweise selbst organisiertes Wissen von Migrant:innen durch muttersprachlichen Unterricht oder sogar eigene Schulen trat. In der Migrationsforschung werden die Selbstorganisations- und die individuellen Entfaltungskapazitäten (agency) von Migrant:innen häufig als "Autonomie von Migration" gefasst,
Ein gut erforschtes historisches Beispiel sind die sogenannten Displaced Persons (DPs), Überlebende des Holocaust, ehemalige Zwansgarbeiter:innen und aus politischen Gründen Geflüchtete aus Mittel- und Osteuropa, die nach dem Zweiten Weltkrieg im besiegten Deutschland auf die Weiterreise in alte und neue "Heimaten" hofften. Vielfach setzten DPs auf ein selbst organisiertes Wissen, unterstützt durch inter- und transnationale Wohlfahrts- und Flüchtlingshilfeorganisationen, um sich und ihren Kindern sowohl eine Tagesstruktur im anhaltenden Transitzustand als auch gute Startbedingungen für das erwartete Zielland zu verschaffen. Neben der Pflege von Sprache und kulturellen Traditionen aus dem mittel- und osteuropäischen Herkunfts- und Erfahrungsraum stand so ein intensiver Hebräisch- oder Englischunterricht.
Die Wissenszirkulation zwischen den DP-Lagern und der deutschen Nachkriegsgesellschaft war gering und in den 1950er Jahren oft schon "vergessen". Dafür übernahm die Wissenszirkulation im Lager und die Neuausrichtung von Wissensbeständen für die weitere Emigration eine wichtige Funktion für die Stabilisierung diasporischer Gemeinschaften. Dies galt noch für die in Deutschland verbliebenen DPs, die bis in die 1960er Jahre und mittlerweile von der Bundesrepublik finanziell unterstützt eigene Angebote muttersprachlichen Unterrichts oder zum Teil sogar, wie im Falle lettischer und litauischer DPs, eigene Schulen unterhielten.
Ab den 1960er Jahren entwickelten sich auch im Zuge der Arbeitsmigration Kurse des muttersprachlichen Unterrichts – jedoch nicht als Ergebnis bildungspolitischer Planung, sondern vor allem aufgrund des Engagements und der Nachfrage von Migrant:innen. Der Ausbau dieses freiwilligen Wissensangebots sorgte dafür, dass die Regierungen der Herkunftsländer in unterschiedlicher Intensität versuchten, Einfluss zu nehmen. Dazu gehörte nicht nur die Entsendung von Lehrkräften, sondern auch die Bereitstellung von Schulbüchern. Diese Konstellation konnte zu Konflikten führen. Ein Beispiel, das um 1970 für Aufsehen sorgte, war der griechische muttersprachliche Unterricht. In Griechenland hatte im April 1967 eine Gruppe von Offizieren die Regierungsmacht an sich gerissen und verfügte nun im Bildungswesen über eine stark national und militärisch geprägte Deutungsmacht, die über entsandte Lehrkräfte und mit Unterstützung der griechischen Botschaft auch Klassenzimmer, Elternabende und Feierstunden "Griechischer Schulen", so die Selbstbezeichnung, in der Bundesrepublik erreichte. Dagegen erhob sich aktiver, auch handgreiflicher Widerstand aus der griechischen community, der in manchen Städten auch von Studierenden örtlicher Hochschulen getragen wurde.
Die Auseinandersetzungen um griechische Schulbücher, Lehrkräfte, Unterrichtspraktiken und Wissensbestände führten dazu, dass der muttersprachliche Unterricht in Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit diskreditiert wurde. Die Annahme, es gebe dort eine "politische Indoktrination",
Dennoch waren seit den späten 1970er und vor allem seit den 1980er Jahren zunehmend Ansätze zu beobachten, das neu organisierte Wissen im muttersprachlichen Unterricht auf das Leben in der deutschen Einwanderungsgesellschaft auszurichten, und in diesen Kontext gehörten auch erste Überlegungen zur Einrichtung und Gestaltung eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland.
Ordnendes Wissen
Ein helles Schlaglicht trifft seit einiger Zeit Praktiken der Kategorisierung und Differenzproduktion, wenn es um rassistische Kontinuitätslinien im Staatsangehörigkeitsrecht geht.
In jedem Fall rücken mit diesem ordnenden Wissen über Migration Akteur:innen und Logiken von Verwaltung und Wissenschaft in den Blickpunkt. Verbunden sind die beiden Sphären im Konzept der Verwissenschaftlichung des Sozialen, das durch die "dauerhafte Präsenz humanwissenschaftlicher Experten, ihrer Argumente und Forschungsergebnisse in Verwaltungen und Betrieben, in Parteien und Parlamenten, bis hin zu den alltäglichen Sinnwelten sozialer Gruppen, Klassen oder Milieus" gekennzeichnet ist.
In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten stand das Wissen in den Verwaltungen und das Wissen von Expert:innen aus den Sozialwissenschaften noch weithin in engem Schulterschluss, etwa bei gemeinsamer Wissensproduktion auf Fachtagungen zu Flüchtlingen und Aussiedler:innen aus Mittel- und Osteuropa. Vielmehr noch, die damalige "Flüchtlingsforschung" genoss kräftige Unterstützung durch das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (BMVt). Dieses sorgte nicht nur für finanzielle Förderung, sondern ließ mit seiner institutionellen Autorität auch Werke öffentlichkeitswirksam zirkulieren, deren Autor:innen heute aufgrund ihrer NS-Belastung höchst kritisch zu betrachten sind.
Die Migrationsforschung hat dieses ebenso unliebsame wie irritierende Kapitel der "Flüchtlingsforschung" bislang nicht als Bestandteil ihrer eigenen disziplinären Formierung rezipiert; hier hat sicherlich die politische Zäsur von 1969 nachgewirkt. Mit der sozialliberalen Koalition kam es zur Auflösung des BMVt und Überführung seiner Abteilungen in das weitaus größere Bundesinnenministerium. Nicht zu unterschätzen ist, dass in diesem Transfer manches Wissen über Migration und Flucht liegen blieb, und dass die bei aller politischen Ambivalenz starke und selbstverständliche Repräsentation von Expert:innen mit eigener Migrationserfahrung, wie sie das BMVt kennzeichnete, in einer Bundesinstitution bis ins 21. Jahrhundert nicht wieder erreicht wurde. Die Migrationsforschung stellte sich nun verstärkt sektoriell auf, mit Schwerpunkten auf den Bereichen Arbeitsmarkt und Bildungssystem. Wissenschaftler:innen saßen in Gremien der Ministerien in Bund und Ländern und übten sich in Politikberatung. Zugleich zeichnete sich seit den 1970er Jahren jedoch eine neue, historiografisch noch wenig beachtete Phase der Verwissenschaftlichung des Sozialen ab, die in einer zunehmenden Produktion eines gesellschaftskritischen Wissens bestand und damit die bisher zwischen Verwaltung und sozialwissenschaftlicher Expertise ausbalancierten Deutungshoheiten infrage stellte.
So ist gegenüber der in der heutigen Migrationspädagogik verbreiteten Abgrenzung von einer früheren, vermeintlich der staatlichen Nachfrage zuarbeitenden "Ausländerpädagogik" der 1970er und 1980er Jahre festzuhalten, dass sich seinerzeit vor allem an Pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen für Soziale Arbeit oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie dem Deutschen Jugend-Institut Arbeitsgruppen zusammenfanden, in denen nicht nur Wissenschaftler:innen mit eigener Migrationserfahrung vertreten waren, sondern die sich zum Teil auch in scharf zuspitzender Wortwahl und Thesenbildung gegen die bisherige staatliche Migrationspolitik aussprachen.
Abgrenzungen und Aussichten
Die hier vorgestellten Überlegungen zum Wissen in der Migrationsgesellschaft zeigen insofern eine neue Perspektive auf, als sie nicht vorrangig von der Frage geleitet sind, wie rasch Migrant:innen sich "integrierten", sondern vom Interesse daran, welche Möglichkeiten es gab, mitgebrachtes Wissen zu pflegen, es in der neuen Situation zu verändern und zu gesellschaftlicher Anerkennung zu bringen. Allerdings kam es auch zu klaren Abgrenzungen, welches Wissen gesellschaftlich anerkannt wurde und welches nicht. An den Auseinandersetzungen um das "richtige" Wissen waren nicht allein Migrant:innen einerseits und eine deutsche "Mehrheitsgesellschaft" andererseits beteiligt, vielmehr kam es regelmäßig auch zu Kontroversen innerhalb von communities und Diasporen.
In der Bundesrepublik war in den Nachkriegsjahrzehnten, insbesondere in den 1950er Jahren, die Abgrenzung von einem als kommunistisch beziehungsweise "sowjetisch" klassifizierten Wissen zeittypisch. Dies war für politisch Exilierte aus Mittel- und Osteuropa ebenso relevant wie für den Umgang mit deutschen Aussiedler:innen sowie mit Geflüchteten und Übergesiedelten aus der DDR. Seit den 1970er Jahren etablierte sich als neues Kriterium die Konformität mit dem Grundgesetz. Dies bezog sich nicht allein auf den abstrakt-nüchternen "Verfassungspatriotismus", sondern auch auf das zum neuen Erfolgsnarrativ gereifte "Modell Deutschland", das von Sozialstaatlichkeit, Bildungschancen, geglückter Demokratisierung und Wohlstand kündete und die Selbstanerkennung der Bundesrepublik beflügelte. Somit gingen Abgrenzungen regelmäßig mit jeweils aktualisierten Selbstbeschreibungen der deutschen Gesellschaft einher. In Diskussionen um den islamischen Religionsunterricht war es etwa die Gleichberechtigung der Frau, die zum normativen Kriterium für die Anerkennung von Wissen avancierte, während in den 1990er Jahren – im Zuge einer Konjunktur des Nationalen nach der Wiedervereinigung – der umstrittene Versuch hinzutrat, eine deutsche "Leitkultur" zu formulieren.
Während diese Abgrenzungen in erster Linie das mitgebrachte und neu organisierte Wissen von Migrant:innen betrafen, mag es einen nachhaltigen Perspektivenwechsel bewirken, wenn zukünftig stärker als bislang Menschen mit eigenen oder familiären Migrationserfahrungen das ordnende Wissen in Verwaltung und Wissenschaft prägen werden und wenn die aktuellen Debatten zu Rassismus und zum sozialen Konstrukt race zu Veränderungen an aus- und abgrenzenden Kategorisierungen von Migration führen. Dass diese Debatten intensiv geführt werden, bezeugt nachdrücklich die zentrale Stellung von Inklusions- und Exklusionsprozessen in der Migrationsgesellschaft, die ebenso emotional und performativ