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Von Enzyklopädien zu Wikipedia und zurück?

Mathias Grote

/ 13 Minuten zu lesen

Möglicherweise werden Leser:innen 2041 unter dem Begriff "Wikipedia" etwas anderes verstehen als wir im Jahr 2021, in dem sich die Gründung des Online-Nachschlagewerkes zum 20. Mal jährt. Vielleicht verweist der Name der allgegenwärtigen Website dann auf das, was "Enzyklopädien" für uns darstellen, das heißt, auf ein ganzes Genre statt auf ein einzelnes Projekt.

Die halbe Strecke zu diesem vermuteten Begriffs- und Medienwandel mag ein geeigneter Moment sein, um die bereits etwas antiquiert klingende Enzyklopädie unter die Lupe zu nehmen. Dabei ist insbesondere zu fragen, was die besondere Verbindung zwischen enzyklopädischem Wissen und Buch ausgemacht haben könnte, die mit der Omnipräsenz von Wikipedia gekappt wurde: Gedruckte Konversationslexika wie der hergebrachte Brockhaus, kürzlich noch Garanten für rasch auffindbares und gesichertes Faktenwissen, haben mittlerweile ihre Produktion eingestellt, während viele Fachenzyklopädien vollständig in Datenbanken umgewandelt wurden.

Die Stärken und Schwächen des Projektes von Jimmy Wales, dem Wikipedia-Gründer, sind eingehend diskutiert worden: Offenheit für Leser:innen und Autor:innen, Genauigkeit und Aktualität sowie eine Verknüpfung der Inhalte wurden vor allem im ersten Jahrzehnt seiner Existenz gefeiert, während die Eintrübung des weltweiten politischen Klimas und die Konjunktur der "Fake News" einhergingen mit Klagen über Zensur in bestimmten Ländern, Unbeständigkeit, tendenziöse Artikel, einem Mangel vor allem an Autorinnen und einer versteckten, durch fehlende Zitation verschleierten Dominanz der Wikipedia als Quelle etwa im Journalismus. Ganz zu schweigen von dem "Artikel-Stumpf", dem wohl jede:r Nutzer:in dieser Seite bereits begegnet ist, den aber vermutlich die wenigsten trotz vorhandenen Wissens je zum Wachsen brachten. Kurzum, Wikipedia begleitet Bildung, Forschung, Medien und Alltag in ständig verfügbarer Form und scheint dabei – nicht sehr überraschend – politischen, ökonomischen und medialen Konjunkturen und Kalkülen unterworfen zu sein, die auch die Entwicklungen gedruckter Enzyklopädien mitbestimmten.

Wenn Letztere im Zentrum dieses Artikels stehen, ist damit weder eine Kulturkritik des Digitalen beabsichtigt, noch ein nostalgisches Schwelgen in der von dem Medienwissenschaftler Marshall McLuhan 1962 so getauften "Gutenberg-Galaxis" des gedruckten Buches. Vielmehr soll hier eine kursorische Bestandsaufnahme dessen vorgelegt werden, was manche tatsächlich als Verlust eines bekannten Kosmos empfinden, andere als eine fremde und anachronistische Ära – das Nachschlagen in dicken Büchern, die alles zu wissen versprachen.

Was waren diese Enzyklopädien, welche Funktion erfüllten sie in Wissenschaften und Öffentlichkeit, welche spezifischen Wandlungen machte das gedruckte und gebundene Buch durch, und inwiefern wurde auch dieses bereits lange vor dem Internet modernisiert? Auf welche Weise waren Enzyklopädien politische Projekte oder zumindest damit verbunden, wer verfasste die oft monumentalen Universal- und Fachenzyklopädien? Vermittelt über diese Fragen soll "Enzyklopädismus" als ein oft übersehenes oder gering geschätztes Segment der Wissensgenese fassbar gemacht werden. Dies nicht zuletzt auch um anzudeuten, was wir aus der verwickelten Geschichte der Enzyklopädien für die Sicherung und Kommunikation von grundlegendem oder allumfassendem Wissen im Digitalen lernen können.

Frühneuzeitliche Wissensfluten

Klagen über Unmengen neuen, verstreuten und zweifelhaften Wissens durchziehen die Geschichte der Wissenschaften, besonders vernehmlich aber wurden sie in Europa nach der Verbreitung des Buchdrucks, unter dem Eindruck zunehmender Wissensflüsse sowie eines steigenden Interesses für Beobachtung und Experiment. Diese Fluten neuen Wissens mussten geordnet werden. Im 16. Jahrhundert führte dazu der Schweizer Universalgelehrte Konrad Gessner ein indexikalisches System zur Verzeichnung und Verschlagwortung von Wissensbeständen ein, das den Zugriff auf bestimmte Informationen erleichterte. Allerdings nannte Gessner diese kommentierte Bibliografie "Bibliotheca universalis" (1545); der Begriff "Enzyklopädie" als Buchtitel für ein umfassendes Nachschlagewerk verbreitete sich erst im 18. Jahrhundert. Selbst "Zedlers Universal-Lexicon" (1732–1754), ein mittlerweile digitalisiertes Mammut-Buch aus dem Hause des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedler, das retrospektiv als Musterbeispiel enzyklopädischen Wissens gelten kann, firmierte noch unter einem anderen Titel.

Eine bleibende Bedeutungsprägung erhielt die Enzyklopädie mit der von Denis Diderot und Jean Le Rond D’Alembert geschaffenen "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Metiers" (1751–1772). Mit diesem aus 17 Text- und 11 Bildbänden bestehenden Publikationsunternehmen wurde ein aufklärerisches Wissensprogramm konzipiert und umgesetzt: Dabei ging es nicht nur um eine Sammlung und Ordnung wissenschaftlicher Kenntnisse, sondern vor allem um deren produktive Anwendung in Handwerk und bildenden Künsten sowie um bildliche Vermittlung etwa technischer Vorgänge. In den Worten des Historikers Jürgen Osterhammel war die "Encyclopédie" ein "Organon öffentlichen Räsonnements" und "Forum wissenschaftlichen Fortschritts" und damit im Frankreich des Ancien Régime von Zensur betroffen. Die teilweise versteckte Kritik an Autoritäten, ihre Ironie, das Schreiben unter Pseudonymen wie auch die abenteuerlichen Geschichten des Drucks im Ausland und des Buchschmuggels bezeugen, auf welche Weise Enzyklopädismus als politisches Projekt verstanden wurde.

Baum des Wissens aus der "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Metiers" (1751) (© Wikimedia Commons)

Für Diderot und d’Alembert bedeutete die "Encyclopédie" mehr als eine beliebige Anhäufung von Wissen, vielmehr implizierte das bekannte Baumdiagramm aus der Einleitung, dem Discours préliminaire, eine systematische Ordnung der Wissenschaften und Kenntnisse, etwa bezogen auf Gedächtnis (mémoire), Vernunft (raison) oder Einbildungskraft (imagination) (Abbildung). Nun musste daraus ein praktisch zu nutzendes Buch werden, das die Artikel in alphabetischer und damit konventioneller Reihenfolge vorhielt. Der daraus entstehende Widerspruch war den Enzyklopädisten durchaus bewusst, sie sahen die Kohärenz aber eher im Zusammenhang der Kenntnisse als in deren Anordnung begründet. Anders ausgedrückt: Den Enzyklopädismus zeichnet ein systematischer Anspruch aus, der sich aber eine Offenheit für praktische Nutzung oder Erweiterung der Kenntnisse bewahren wollte.

Diese historischen Schlaglichter sollten klar gemacht haben, dass "Enzyklopädie" weit mehr als ein alphabetisch geordnetes Lexikon bezeichnet. Vielmehr war damit ein philosophisches und pädagogisches Programm der Sammlung, Ordnung und Vermittlung von Wissen verbunden. Bereits die griechischen Ausgangsbegriffe enkyklios paideia verweisen auf "allgemeines Wissen" oder "generelle Bildung." Ferner sollte deutlich geworden sein, dass man tatsächlich nie ein Buch nach seinem Cover bewerten sollte, wie ein englisches Sprichwort besagt – und so werden auch im Folgenden Bücher in die Betrachtung einbezogen, die unter anderen Titeln eine systematisch geordnete, umfassende und nutzbare Sammlung von Kenntnissen bereithielten.

Enzyklopädien im Jahrhundert der Zeitschriften

Die Zeit zwischen Französischer Revolution und dem Beginn des Ersten Weltkrieges war von dramatischen Veränderungen im Wissenschaftsbereich geprägt: Moderne Disziplinen wie die Biologie oder die Geschichtswissenschaften formierten sich, die Universitäten expandierten, vor allem in den Technik- und Ingenieurswissenschaften, und die Industrialisierung der Papierherstellung und des Drucks ermöglichte eine erhebliche Steigerung der Buch- und Zeitungsproduktion.

Die Spezialisierung des Wissens in den Sprachen der entstehenden Nationalstaaten, aber auch der Aufschwung des Journalismus und wachsende lesende Öffentlichkeiten beeinflussten eine epochale Entwicklung in der Verbreitung von Wissen, die uns bis heute nicht verlassen hat: das moderne Periodikum. Ob nun als "Berichte" von Akademien, als "Jahrbücher" oder kommerzielle Zeitschriften, wissenschaftliche Neuigkeiten erschienen zusehends auf Papier als eine Masse immer schneller aufeinanderfolgender Aufsätze oder Artikel. Diese "Verstückung" von Wissensbeständen, die sich vielleicht noch Disziplinen zurechnen ließen, sicherlich aber nicht in das Schema eines vernünftigen Weltentwurfs der "Encyclopédie" passten, führte über die Zeit zu einem Verlust an Übersicht: Wie ließen sich die Massen von veralteten, möglicherweise aber doch gerade zielführenden Beiträgen zu den immer spezieller werdenden Problemen der Wissenschaften ordnen und durchsuchen? Verfahren und Genres wurden ersonnen, Kataloge, kurze Zusammenfassungen und – das bringt uns zurück zu den Enzyklopädien – großangelegte Synthesewerke, mit denen versucht wurde, den Wissensstand eines Faches gewissermaßen in einer Totale festzuhalten.

In seiner soziologischen Analyse des modernen Wissenschaftsbetriebes nannte der polnische Bakteriologe und Pionier der Wissenschaftsforschung Ludwik Fleck dieses von der "Zeitschriftwissenschaft" distinkte Segment der Forschungspraxis "Handbuchwissenschaft". Vermutlich werden sich viele Leser:innen sofort an maßgebliche Handbücher ihrer Disziplinen erinnern, die Studium und selbstständige Arbeit treu begleiteten – ob der "Gebhardt" der Geschichtswissenschaften, der "Ueberweg" als "Grundriss" der Philosophie, in der Chemie "Beilstein" oder "Gmelin" – oft führten diese mehrbändigen Werke ihre vergessenen Urheber Markennamen gleich im Titel. Solche enzyklopädischen Handbücher bildeten einen Grundstock der Dokumentation und Kommunikation innerhalb der neuen Disziplinen.

Die ebenso im 19. Jahrhundert aufblühenden Konversationslexika, neben "Brockhaus" und "Meyers" seien die "Encyclopaedia Britannica" und der französische "Larousse" erwähnt, schließen an den universalistischen Anspruch der aufklärerischen Enzyklopädien an, indem sie einer gebildeten bürgerliche Öffentlichkeit allgemein verständliches und verbindliches, auch in Unterhaltungen zu nutzendes Wissen anboten, allerdings nun in der Form eines simplen alphabetischen Lexikons, das mit dem Anspruch überparteilicher Autorität auftrat.

Festzuhalten bleibt, dass die vielbändigen "Wälzer" sowohl der Handbücher wie der Konversationslexika, die oft auch verlegerische Großunternehmen repräsentierten, nicht als anachronistische dicke Bücher verstanden werden dürfen, sondern gerade als ein Produkt der Modernisierung von Forschung und Lehre, von Kommunikation und kultureller Produktion. Diese Formen des Enzyklopädismus spiegeln ein für das 19. Jahrhundert charakteristisches kumulatives, kritisches und gleichsam überindividuell-objektives Konzept von Wissen. Dass diese "portionierten Fakten" nicht überall gern gesehen waren, illustriert Friedrich Nietzsches Warnung vor den "wandelnden Enzyklopädien" seiner Zeit. Enzyklopädien waren eben immer systematisch wie geistlos, hilfreich wie langweilig, überwältigend im Überblick und doch nur vollgestopft mit zusammengewürfelten Fakten.

Politik, Buch und Enzyklopädismus im kurzen 20. Jahrhundert

Aus der Vielzahl an universal- und fachenzyklopädischen Projekten, die sprachliche und technologische Grenzen überschritten, seien hier zwei Projekte vorgestellt, die die Weiterentwicklungen des Buches vor dem Computer beispielhaft illustrieren.

Im Klima existenzieller und wissenschaftlicher Unsicherheit im Europa nach 1918 entstand im Umfeld des Wiener Kreises der Philosophie eine Enzyklopädie, deren Anspruch an Wissenschaftlichkeit und Kosmopolitismus sich explizit in die Nachfolge von Diderot und d’Alembert einreihte: die maßgeblich von dem Philosophen, Soziologen und Sozialreformer Otto Neurath vorangetriebene "International Encyclopedia of Unified Science". Während ihre Wurzeln unter anderem in der Arbeiterbildung der Sozialdemokratie liegen, wurde daraus nach 1930 ein Projekt, das die vom Wiener Kreis betriebene Vereinheitlichung der Wissenschaften in einem Buch abzubilden versuchte: von der Logik über Wissenschaftstheorie und die moderne Physik bis zu Biologie und Soziologie sollte ein systematischer Aufbau grundlegenden Wissens vorgelegt werden.

Wichtiger als die Inhalte des ab 1938 erschienenen Buches ist hier allerdings seine Konzeption: Neurath erdachte die "International Encyclopedia" als eine stets veränderliche, provisorische Ansammlung, aber doch nicht bloß konventionelle Integration des portionierten modernen Wissens. Die Abgeschlossenheit philosophischer "Systeme" lehnte er ab und war damit den Herausgebern der "Encyclopédie" in gewisser Weise wahlverwandt. Der Abgeschlossenheit setzte er eine "enzyklopädische Integration" der diversifizierten modernen Wissenschaften entgegen, die notwendigerweise unvollständig bleibe und die Vagheit neuer Theorien aufnehme.

Auch wenn sich hier ein Widerspruch zu den vereinheitlichenden Tendenzen des Wiener Kreises vermuten lässt, war Neuraths Konzept durchaus ernst gemeint: Enzyklopädien, im Plural als offene Sammlungen von Wissen, deren Struktur er mit den lose um ein Zentrum gruppierten Schalen einer Zwiebel verglich, wurden für ihn zu einem Modell dafür, wie Differenzierung und Spezialisierung begegnet werden könnte, ohne den Extremen eines starren Systemdenkens oder der Beliebigkeit einer Anhäufung von unzusammenhängenden Kenntnissen zu verfallen. Zur Veranschaulichung dieses enzyklopädischen Arbeitens formulierte er das Gleichnis eines Schiffes, das während der Fahrt auf offenem Meer umgebaut werde, und damit nicht von Grund auf, sondern nur allmählich und mithilfe des in Reichweite befindlichen Treibguts.

Wie sollte ein derartig flexibles Buch aussehen? Um Beweglichkeit zu gewährleisten, nahmen Neurath und seine Mitstreiter:innen den enzyklopädischen Wälzer in Wortsinne auseinander: Anstelle eines gebundenen Buches bildete die "International Encyclopedia" ein Set von 20 Heften, deren Zusammenhang erst durch den folgenden analytischen Index hergestellt wurde und die so bei den Leser:innen tatsächlich ein flexibel wachsendes Textkorpus bildeten. Das war sicher nicht neu, allerdings adressierte Neurath dieses der Moderne angepasste Buch als taugliches Medium für sich dauernd weiterentwickelnde, kooperative Wissenschaften.

Auch wenn die "International Encyclopedia" durch die Emigration vieler Beteiligter und Neuraths Tod 1945 nicht über die Anfänge hinauskam, ist sie ein beeindruckendes Zeugnis enzyklopädischen Arbeitens, das sich in eine seit der Wende zum 20. Jahrhundert bestehende Bewegung zur Modernisierung des Informationswesens einreihen lässt. Diese betraf nicht nur die neuen Verfahren der Bild- und Tonaufzeichnung, sondern auch das scheinbar althergebrachte Buch: So wurde der moderne Wälzer etwa zu Broschüre, Hefter oder Kartei umgewandelt, um den Arbeitsbedingungen der zeitgenössischen Wissenschaften zu entsprechen und flexible und offene Synthesen von Wissen zu ermöglichen – genau das war es, was hinter Neuraths Vorstellungen der "Enzyklopädie" steckte.

Unter dramatisch veränderten politischen und ökonomischen Bedingungen und mit einem gänzlich anderen Interesse entstand nach 1945 eine enzyklopädische Buchreihe, die eine weitere Transformation des modernen Buches veranschaulicht. "Rowohlts deutsche Enzyklopädie" (rde), eine preiswerte und überaus erfolgreiche Taschenbuchserie in der jungen Bundesrepublik, setzte sich aus kurzen Monografien bekannter Wissenschaftler:innen wie Werner Heisenberg, Margaret Mead, José Ortega y Gasset oder Helmut Schelsky zusammen, die durch ein gemeinsames Register und einführende "enzyklopädische Stichworte" eine konzeptuelle Klammer erhielten. Auch rde kann durchaus als Bildungsprogramm begriffen werden. Der politisch durch seine Aktivität im Nationalsozialismus geprägte, konservative Herausgeber Ernesto Grassi schuf damit, so der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, "eine Art wissenschaftlichen Baedeker" für ein lesehungriges Publikum, der Geistes- und Naturwissenschaften auf ein gemeinsames europäisches Bildungsideal zurückführen wollte, jedoch eine kritische Beschäftigung mit der Vergangenheit des eigenen Landes aussparte.

Neuraths und Grassis enzyklopädische Projekte deuten neben vielerlei Unterschieden, allen voran ihre geradezu konträre politische Orientierung und philosophische Ausrichtung, eine fortgesetzte Arbeit am enzyklopädischen Buch im 20. Jahrhundert an. Eine umfänglichere Darstellung dieser Transformationen müsste vor allem auch die Technisierung im Bereich der Fachliteratur in Betracht ziehen. Dazu gehören die Verarbeitung von Informationen mit Lochkarten, die Anfänge der elektronischen Datenverarbeitung, die heute schon fast wieder vergessenen Mischformen von Buch und digitalen Medien wie Mikrofiches oder Magnetbänder sowie generell Bild- und Filmenzyklopädien.

Jenseits von Wikipedia?

So weit sich diese Einblicke in die Geschichte enzyklopädischer Bücher von der Alltagswelt heutiger Wikipedia-Nutzer:innen entfernt haben: Es scheinen doch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen diesen verschiedenen Welten vorzuliegen. So verdeutlicht der quasi anonym schreibende Wikipedianer ein durchgängiges Charakteristikum enzyklopädischen Arbeitens: Während Intellektuelle oder Wissenschaftler:innen enzyklopädische Projekte oft nutzten, um als Galionsfiguren daraus sozialen oder auch monetären Mehrwert zu ziehen, blieben deren eigentliche Autor:innen meist unsichtbar – durch Pseudonym oder Anonymität, oft aber auch als "Redakteure" oder "Mitarbeiter," deren Texte gerade wegen fehlender Originalität einer namentlichen Autorschaft nicht wert scheinen oder die bewusst "aus dem Off" sprechen sollten. Es gibt zudem Hinweise dafür, dass derartige wissenschaftliche Routinearbeit als Brotberuf oftmals von sozialen Gruppen erledigt wurden, denen ein Aufstieg zu höher bewerteten Tätigkeiten nicht möglich war.

Auch in der moralischen Ökonomie des gegenwärtigen wissenschaftlichen Publizierens besitzen Wikipedia-, Handbuch- oder Lexikonartikel und dergleichen einen geringen Status – so wäre die Berechnung eines impact factors wegen fehlender Zitationen wohl unmöglich. Daher bleibt der Enzyklopädist, wie Ulrich Schneider bereits für "Zedlers Universal-Lexicon" im 18. Jahrhundert feststellte, ein Phantom, und folglich dürften viele Wissenschaftler:innen, Journalist:innen oder Autor:innen die Arbeit an solchen derivativen Texten oft hintanstellen – Wikipedias sinkende Autorenzahlen sind ein Indiz dafür. Dass diesem Missstand weder durch verlegerisches Locken mit Prestige für Herausgeber:innen noch durch gut gemeinte Aufrufe beizukommen ist, scheint ebenso unbestreitbar wie der kollektive Nutzen enzyklopädischer Publikationen. Es wäre also darüber nachzudenken, inwiefern eine derartige "epistemische Infrastrukturaufgabe" besser in die Ökonomie von Wissenschaft und Publizistik eingebunden werden könnte und welche Rolle dabei Wissenschaftspolitik, aber auch Verlage, Bibliotheken und andere Institutionen einnehmen sollten – ohne damit staatliche Enzyklopädie-Programme einfordern zu wollen.

Zudem ließe sich aus diesem kursorischen Überblick in die Wissensgeschichte der Enzyklopädien eine größere Sensitivität für deren spezifische mediale Qualitäten und politische Ökonomien ableiten. Der französische Philosoph Michel Serres charakterisierte den gegenwärtigen Umgang mit Kommunikation und Wissen treffend durch das stets tippende und scrollende "Däumchen" (petite poucette) des Smartphone-Nutzers. Gerade in dieser Situation scheinen die Stärken des gedruckten Buches – etwa die Einheit seiner materiellen Gestalt, die Ökonomie des Blätterns und Nachschlagens – sowie die dadurch ermöglichten Formen der Lektüre nicht aus dem Blick zu geraten. Dies gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass einem aufmerksamen Beobachter der Wissenschaften und ihrer öffentlichen Wirkung wie Ludwik Fleck der Zusammenhang zwischen der wissenschaftlichen "Tatsache" und den Handbuch-Wälzern seiner Zeit nicht entging.

Hybridmodelle jenseits der Dichotomie von print versus digital sowie Formen digitalen Publizierens und Lesens jenseits der Website deuten auf Potenziale einer nicht rein technischen Weiterentwicklung auch des Enzyklopädischen hin. Um das eingangs formulierte Gedankenspiel weiterzuführen: Man darf hoffen, dass das, was zu ihrem 40. Geburtstag unter "Wikipedia" verstanden werden könnte, nämlich ganz allgemein "Enzyklopädien", sich von der gegenwärtigen Form des Internet-Lexikons um Einiges entfernt haben wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Oliver Jungen, Die Kapitulation des Brockhaus, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 10/2016, S. 5–16.

  2. Vgl. Adrian Lobe, Gekaufte Wahrheiten auf Wikipedia, 25.6.2019, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.4496890; Bundeszentrale für politische Bildung, Online-Dossier Wikipedia, 2012, Interner Link: Wikipedia.

  3. Vgl. Helmut Zedelmaier, Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung, Tübingen 2015, S. 22ff.

  4. Siehe Externer Link: http://www.zedler-lexikon.de und vgl. Ulrich Johannes Schneider, Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2013, S. 38ff.

  5. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München, 2009, S. 43.

  6. Vgl. Robert Darnton, Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots "Encyclopedie", oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?, Berlin 1993.

  7. Die Spannung zwischen dem Gedanken eines philosophischen Systems und seiner praktischen Umsetzung drückte der Discours in der paradoxen Formulierung aus, dass man einen systematischen Geist (esprit systématique), aber keinen Systemgeist (esprit de système) verfolgen solle. Vgl. Denis Diderot/Ralph-Rainer Wuthenow, Enzyklopädie: Philosophische und politische Texte aus der Encyclopédie sowie Prospekt und Ankündigung der letzten Bände, München 1969.

  8. Vgl. Ann M. Blair, Too Much to Know: Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven 2010, S. 12; siehe auch Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn 1977, S. 2.

  9. Vgl. Lothar Müller, Weiße Magie: Die Epoche des Papiers, München 2012.

  10. Vgl. Alex Csiszar, The Scientific Journal: Authorship and the Politics of Knowledge in the Nineteenth Century, Chicago 2018; Christoph Meinel (Hrsg.), Fachschrifttum, Bibliothek und Naturwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1997.

  11. Enzyklopädische Handbücher lassen sich von gleichnamigen kleineren, anleitenden Formaten (im Sinne des lateinischen manuale) unterscheiden. Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt/M. 1980 [1935], S. 146ff.; Angela Creager/Mathias Grote/Elaine Leong, Introduction, in: The British Journal for the History of Science, BJHS Themes 5/2020: Learning by the Book. Handbooks and Manuals in the History of Science, S. 1–13.

  12. Vgl. Ulrike Spree, Das Streben nach Wissen: Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Tübingen 2000.

  13. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870–1873, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1988, S. 274. Vgl. auch Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, Frankfurt/M. 2007; Osterhammel (Anm. 5).

  14. Vgl. Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hrsg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Bd. 2, Wien 1981, S. 873ff.

  15. Vgl. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 1979.

  16. Michael Hagner, Ernesto Grassi und die zwei Kulturen in rowohlts deutscher enzyklopädie, in: Jahrbuch für Buch-und Bibliotheksgeschichte 2/2017, S. 151–171, hier S. 171.

  17. Vgl. Schneider (Anm. 4), S. 218.

  18. Vgl. Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin 2016.

  19. Vgl. Michael Hagner, Zur Sache des Buches, Göttingen 2015.

  20. Vgl. Mathias Grote, Total Knowledge? Encyclopedic Handbooks in the Twentieth-Century Chemical and Life Sciences, in: BJHS Themes (Anm. 11), S. 187–203.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Mathias Grote für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Philosoph, promovierter Biologe und habilitierter Historiker. Er forscht als Heisenberg-Fellow der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail Link: mathias.grote@hu-berlin.de