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Was ist Wissen? Einige philosophische Überlegungen - Essay

Nadja El Kassar

/ 14 Minuten zu lesen

Ich weiß, dass ich Nadja El Kassar heiße. Ich weiß, dass Berlin die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist. Ich weiß, dass Mandeln keine Nüsse sind. Und ich weiß, wie man Fahrrad fährt. Ich weiß auch, wie es sich anfühlt, wenn man im Herbst bei Sonnenschein in einem Wald durch Laub geht. Ich weiß, dass ich noch einiges mehr weiß, aber so eine Liste von all dem, was man weiß, würde sehr lang und wäre gar nicht so einfach zu erstellen. Auch eine Liste von all dem, was die Menschheit, was "wir Menschen" wissen, ist sehr schwierig (vielleicht sogar unmöglich) anzufertigen. Dazu müsste man erst einmal einen Überblick gewinnen: Enzyklopädien, Lexika, Wikipedia sind Versuche, solche Listen allgemeinen Wissens zu erstellen.

Wenn man hinterfragt, was man weiß, oder etwas erklären soll, das man zu wissen glaubt, merkt man oft aber auch, dass man doch nicht weiß, was man zu wissen dachte. Wissen Sie, warum sich im Herbst die Blätter von Laubbäumen bunt färben? Wirklich jedes Detail der Erklärung? Oder eher so grob, dass es etwas mit Chlorophyll zu tun hat? Und wissen Sie mit so grober Ahnung dann, warum sich im Herbst die Blätter von Laubbäumen bunt färben? Allgemein gefragt: Wie viel muss man wissen, damit das Wissen auf die eigene "Das-weiß-ich"-Liste kommen darf? Und was gehört auf die "Das-weiß-ich-nicht"-Liste?

Bei der Suche nach dem eigenen Wissen stößt man unvermeidlich auf das eigene Unwissen, aber es ist noch schwieriger, eine Liste davon zu erstellen, was man nicht weiß. Denn dazu muss man auch erst einmal wissen, dass und was man nicht weiß. Unbestritten ist allerdings, dass sich sowohl die Liste all unseres Wissens als auch die unseres Unwissens beliebig verlängern ließe. Das hat auch damit zu tun, dass nicht alles Wissen explizit ist, vieles ist auch implizit.

Die spannende Frage, die in diesen Listen steckt und im Zentrum dieses Essays steht, ist: Was ist überhaupt Wissen? Diese Frage verstehen Philosoph:innen auf mindestens drei verschiedene Weisen: Erstens: Was für Arten von Wissen gibt es? Zweitens: Was macht Wissen aus? Und drittens: Was gilt als Wissen?

Fragen nach Wissen beschäftigen Denker:innen seit über 2000 Jahren. Die Antworten sind vielfältig und bis heute umstritten. Und auch in diesem Essay werden die Ansätze für Antworten auf diese drei Fragen unvollständig bleiben, denn jeder Ansatz hat blinde Flecken. Aber für alle drei Fragen erhalten wir Annäherungen an philosophische Antworten. Außerdem werden wir Querverbindungen zwischen Wissen und essenziellen Begriffen wie "Macht", "Gerechtigkeit" und "Unwissen(heit)" entdecken und so zumindest die Ausgangsfrage "Was ist Wissen?" und die verschiedenen Antworten darauf besser verstehen.

Was für Arten von Wissen gibt es?

In meiner Aufzählung von Dingen, die ich weiß, habe ich – typisch für Philosoph:innen – mit satzförmigem Wissen begonnen. Ich weiß, dass Tiger Säugetiere sind. Ich weiß, dass H2O die Summenformel von Wasser ist. Solches Wissen wird in Aussagesätzen ausgedrückt. Satzförmiges Wissen kann Wissen sein, das in Enzyklopädien gesammelt wird, es kann aber auch Wissen sein, das eher trivial ist, etwa das Wissen vom eigenen Namen. Dieses Wissen ist auch satzförmig, findet sich aber meist nicht in Lexika.

Aber nicht alles Wissen ist satzförmig. Es gibt auch praktisches Wissen: Wissen, wie man Fahrrad fährt, Wissen, wie man Klavier spielt, Wissen, wie man einen Algorithmus programmiert. Dafür, dass ich weiß, wie man Fahrrad fährt, reicht es nicht, dass ich eine Beschreibung der relevanten Bedingungen und Körperbewegungen formulieren kann. Ich muss sie auch ausführen können. Praktisches Wissen ist nicht so einfach in Aussagesätze zu übersetzen, und es erschöpft sich auf keinen Fall darin. Man braucht die Praxis für praktisches Wissen, denn praktisches Wissen umfasst Dinge, die wir mit unserem Körper ausüben.

Eine verwandte Art dieses Wissens ist das phänomenale Wissen, also Wissen, wie sich etwas anfühlt – Zahnschmerzen, Muskelkater, aber auch Sonnenstrahlen auf der Haut oder Wasser, das die Füße umspielt. Auch dieses Wissen ist nicht bloß satzförmiges Wissen. Ich kann zwar in Worten beschreiben, wie sich Zahnschmerzen anfühlen (stechend, dumpf et cetera), aber letztlich ist das Gefühl nicht vollständig in Aussagesätze übersetzbar. Literat:innen üben sich immer wieder an diesen Übersetzungen, und sind da auch recht erfolgreich. Aber ohne die Erfahrung selbst, ohne das Gefühlte, ist es doch nicht ganz dasselbe.

Manchmal wird auch körperliches Wissen als eine Art von Wissen gezählt. Beispielsweise wissen Sie, wie Ihre Füße positioniert sind, während Sie diesen Text lesen, auch wenn Sie Ihre Füße nicht anschauen. Die Propriozeption ist der Wahrnehmungssinn, der diesem Wissen zugrunde liegt. Und vielleicht ist es auch körperliches Wissen, wenn Sie einem Ball ausweichen, der unerwartet auf Sie zufliegt, oder wenn Sie Treppen heruntergehen (können), ohne zu schauen, wo die Stufen sind. Es ist umstritten, ob dieses körperliche Wissen tatsächlich als Wissen zählen sollte. Denn kann etwas, das "irgendwie" in unseren Körpern zu finden ist, tatsächlich Wissen sein? Mediziner:innen und andere forschen zu körperlichem Wissen, und das Wissen, das sie dabei produzieren, ist satzförmig. Das körperliche Wissen selbst bleibt trotzdem körperlich. Damit sind wir direkt bei der nächsten Frage.

Was macht Wissen aus?

Warum könnte es merkwürdig klingen, wenn man die Fähigkeit, einem Ball auszuweichen, als Wissen bezeichnet? Weil weithin angenommen wird, dass Wissen etwas mit Wahrheit zu tun hat. Ich kann wissen, dass H2O die Summenformel von Wasser ist, weil die Überzeugung, dass H2O die Summenformel von Wasser ist, wahr ist. Wissen ist somit etwas, das wahr ist. Und die Fähigkeit, reflexartig etwas auszuweichen, ist nichts, das wahr ist oder wahr sein kann. Es ist eine Fähigkeit – die kann man besitzen oder nicht. Ähnliche Probleme finden sich beim praktischen Wissen. Auch dieses Wissen ist nicht wahr. Nichtsdestotrotz scheint Wahrheit Wissen auszumachen, also eine Bedingung von Wissen zu sein. Weil Wissen falsche Aussagen, also die Unwahrheit des Satzes, ausschließt, gehört Wahrheit in eine Definition von Wissen.

Manche Philosoph:innen argumentieren, dass praktisches Wissen, beispielsweise das Wissen, wie man Fahrrad fährt, tatsächlich auch satzförmiges Wissen ist. Denn es sei reduzierbar auf satzförmiges Wissen: Das heißt, ich kann lauter wahre satzförmige Aussagen über das Fahrradfahren-Können formulieren und damit das praktische Wissen, wie man Fahrrad fährt, erfassen. Allerdings haben wir bemerkt, dass es bei dieser Art Wissen einen direkten Bezug auf Körperbewegungen und Handlungen gibt, die nicht in Sätzen abgebildet werden können. Denn Sätze sind eben nicht das gleiche wie körpervermittelte Handlungen. Ähnliches gilt für das phänomenale Wissen, auch dieses ist nicht auf satzförmige Aussagen reduzierbar.

Über das Verhältnis von praktischem und satzförmigem Wissen gibt es eine umfangreiche Debatte in der Philosophie und angrenzenden Disziplinen, die allerdings in viele Detailfragen führt, weshalb ich sie hier ausklammere. Aber dass es so eine Debatte gibt, ist dennoch aufschlussreich für die Frage danach, was Wissen ausmacht. Die Debatte kann Zweifel daran nähren, dass praktisches und körperliches Wissen tatsächlich Arten von Wissen sind. Und der Zweifel zeigt, dass es eine Art von Wissen gibt, die von Philosoph:innen, aber auch gesellschaftlich privilegiert behandelt wird, sozusagen einen Sonderstatus innehat: das satzförmige Wissen. Dieses Wissen scheint den Kern von Wissen auszumachen.

Diese Aussagen sind nun allerdings keine Begründung, warum satzförmiges Wissen einen Sonderstatus hat, und auch keine Rechtfertigung, dass das so sein sollte. Ich weise hier nur darauf hin, dass dieses Wissen in zahllosen gesellschaftlichen Kontexten, beispielsweise in schulischen und akademischen, am höchsten bewertet wird. Dies sollte angesichts der mittlerweile fast schon überholten Analyse der "Wissensgesellschaft", in der wir angeblich leben, keine Überraschung sein. Es verdient aber dennoch, betont zu werden, dass schon die Bestimmung von Arten von Wissen umstritten sein kann und dominante Interpretationen die Definition von Wissen einseitig bestimmen und andere Ansätze ausschließen können. Das heißt: Schon die Definition von Wissen und Wissensarten hat mit Macht zu tun. Ich werde später darauf zurückkommen.

Trotz dieser problematischen Einschränkungen konzentriere ich mich bei der Frage, was Wissen ausmacht, auf satzförmiges Wissen. Auch für satzförmiges Wissen gibt es konkurrierende Bestimmungen; fest steht immerhin, dass es per definitionem tatsächlich satzförmig sein muss. Das heißt, es besteht letztlich aus Überzeugungen: Die Überzeugung, dass die Summenformel von Wasser H2O ist, macht mein Wissen, dass die Summenformel von Wasser H2O ist, aus.

Wir haben gesehen, dass Wahrheit zur Definition von satzförmigem Wissen gehört. Aber kann Wissen nicht auch falsch sein? Interessanterweise herrscht da in philosophischen Kontexten überwiegend Einigkeit: Nur etwas, das wahr ist, kann Wissen sein. Und wenn sich etwas, das man für Wissen gehalten hat, als falsch herausstellt, dann war es kein Wissen, sondern nur vermeintliches Wissen. Das geozentrische Weltbild etwa, das die Erde und den Menschen im Mittelpunkt des Universums sieht, wurde für Wissen gehalten, hat sich aber als vermeintliches Wissen herausgestellt, weil das heliozentrische Weltbild korrekt ist. Aber dass wir oft bloß vermeintliches Wissen haben, ist kein Anlass, Wahrheit aus der Definition von Wissen zu streichen. Wahrheit macht Wissen aus. Wahrheit ist zentral für Wissen. Das erkennen wir auch daran, dass häufig Fakten beziehungsweise Tatsachen Gegenstand von Wissen sind.

Welche Bedingungen gelten noch für Wissen? Wissen soll gerechtfertigt sein: Die Rechtfertigung liefert das Fundament für Wissen. Ich weiß, dass sich im Herbst die Blätter von Laubbäumen bunt färben, weil ich es in verschiedenen Herbsten zuvor gesehen habe. Meine Wahrnehmung liefert also eine Rechtfertigung für mein Wissen. Ich weiß es aber auch, weil ich es in der Schule gelernt habe, zusammen mit der Erklärung, dass, weil das grüne Chlorophyll entzogen wird, andersfarbige Pigmente übrigbleiben. Und vielleicht weiß ich auch noch, warum und wie das Chlorophyll aus den Blättern entzogen wird. Das sind weitere Rechtfertigungen für mein Wissen, dass sich im Herbst die Blätter von Laubbäumen bunt färben. Die Rechtfertigungskette geht natürlich noch weiter und umfasst auch implizites Wissen. Wichtig für unsere Frage nach der Definition von Wissen ist, dass eine Rechtfertigungskette zu Wissen dazugehört.

Sokrates verwendet im Dialog mit Menon ein anschauliches Bild, um zu erklären, warum Rechtfertigung für Wissen so wichtig ist, und wahre Überzeugung allein nicht reicht: Beim Wissen ist die wahre Überzeugung noch durch die Rechtfertigung "angebunden" (wie mit Seilen) und kann so nicht entschwinden. Und manchmal sieht es auch so aus, dass die Begründung sogar Wissen garantiert. Aber da kommt doch wieder das Problem des vermeintlichen Wissens dazu, denn eine Begründung kann ja auch falsch sein, und dann führt sie nicht zu Wissen. Bevor man zum Beispiel wusste, dass Sauerstoff Feuer nährt, wurden im 17./18. Jahrhundert Verbrennungsprozesse unter anderem mit dem Stoff "Phlogiston" in Verbindung gebracht. Die Erklärungen waren zwar bis zu einem gewissen Grad plausibel, aber letztlich falsch, weil Phlogiston nicht existiert. Um diese Eventualitäten in der Definition von Wissen zu vermeiden, haben sich Philosoph:innen verschiedene Zusätze zur Definition überlegt.

Ein sehr wichtiger Zusatz ist, dass Wissen gewiss ist. Das ist mehr als die Wahrheitsbedingung. Gewissheit meint nämlich auch Unerschütterlichkeit. Anders gesagt: Nur diejenige wahre Überzeugung, die auch irritationsfest ist, kann Wissen sein. Wissen ist demnach nur das, was gerechtfertigterweise bestehen bleibt, wenn es durch Einwände angegriffen wird. Um das Problem, dass Wissen sich als vermeintliches Wissen entpuppen kann, zu umgehen, wird eine weitere Bedingung eingeführt: Wissen soll irrtumssensibel sein, das heißt, es soll möglich sein, vermeintliches Wissen durch gerechtfertigte Kritik zu widerlegen. Wissen wird durch diese Zusätze genauer definiert, aber auch eingebunden in Erkenntnisprozesse, in den wissenschaftlichen und sozialen Austausch über Wissen.

Für (satzförmiges) Wissen müssen also folgende fünf Bedingungen erfüllt sein: (Satzförmiges) Wissen ist wahre, gerechtfertigte Überzeugung (übrigens die klassische Bestimmung von Wissen in der Philosophie), die irrtumssensibel und irritationsfest ist.

Was aber ist dann mit Wissen, das auf "alternativen Fakten" aufbaut? Was ist mit Wissen, das irrtumssensibel sein müsste, aber die Wissenden scheren sich nicht um diesen Aspekt? Tatsächlich kann die Definition von satzförmigem Wissen nicht widerlegt werden durch ein eigenwilliges Verständnis von Wissen, die Behauptung von "alternativen Fakten" oder sturer Wiederholung von ungerechtfertigten Aussagen. Denn eine philosophische Definition soll nicht abbilden, wie ein Begriff falsch oder missbräuchlich gebraucht wird und sich diesem Gebrauch anpassen; sondern sie soll bestimmen, wie der Begriff gebraucht werden soll.

Der eigenwillige Umgang mit dem Wort "Wissen" ist nichtsdestotrotz aufschlussreich. Er zeigt an, dass Wissen Teil von sozialen, erkenntnisorientierten Praktiken ist. Wissen hat immer etwas mit wissenden Personen (oder Subjekten) zu tun. Wie stark diese Verbindung ist, und ob es nicht doch Wissen ohne Personen und ohne ihren Einfluss geben kann, ist ein weiterer Knotenpunkt, an dem sich die Frage "Was ist Wissen?" vielfältig verzweigt. Wie viele andere gehe ich davon aus, dass Menschen in Wissensprozesse eingreifen. Sie wollen bestimmen, was als Wissen gilt. Das ist einer der Gründe dafür, warum Wissen mit Macht zu tun hat.

Was gilt als Wissen?

Ich habe eine normative Definition von Wissen vorgestellt, aber es ist bekannt, dass Wissen auch durch Anerkennung sozial bestimmt wird. Das heißt nicht unbedingt, dass Wissen nur ein Konstrukt ist, sondern erstmal nur, dass soziale Prozesse mitbestimmen, was als Wissen bezeichnet wird. Das haben wir bereits bei der Frage, ob körperliches Wissen überhaupt Wissen ist, gesehen. Hier sind auch soziale und wissenschaftliche Prozesse am Werk, die eine Antwort darauf, was als Wissen gilt, mitbestimmen. Diese Prozesse sind auch durchzogen von Macht: Wer liefert die dominante Interpretation? Wer bestimmt, was als Wissen gilt?

Wir sehen die Auswirkungen von diesen Geltungsprozessen in verlorenem Wissen, zum Beispiel über die medizinische Wirksamkeit bestimmter Pflanzen. Dieses Wissen ist verschüttet, weil es nicht tradiert wurde, manchmal durch bewusste Unterdrückung, manchmal unabsichtlich. Ein Beispiel für verlorenes Wissen liefert der Pfauenstrauch. Diese Pflanze wurde von Sklavinnen auf den Westindischen Inseln verwendet, um Abtreibungen vorzunehmen, um nicht Kinder zu gebären, die ein Leben in Sklaverei führen müssten. Die Naturforscherin Maria Sibylla Merian etwa hat die Verwendung des Pfauenstrauchs vor 300 Jahren in ihren Schriften erwähnt. Im Zuge des Kolonialismus wurde viel Wissen über die Verwendung von Pflanzen nach Europa gebracht, beispielsweise dass Chinin, gewonnen aus der Rinde des Chinarindenbaums, wirksam gegen Malaria ist. Aber das Wissen, auf welche Weise der Pfauenstrauch als Abtreibungsmittel eingesetzt werden kann, blieb den europäischen Frauen der Zeit verborgen, dabei wäre es für sie wahrscheinlich von Nutzen gewesen.

Die Tatsache, dass Wissen mit Anerkennung und Geltung zu tun hat, unterstreicht noch einmal die enge Verbindung zwischen Wissen und Macht. Was als Wissen gilt, können die Mächtigen manchmal mitbestimmen. Ein Blick in die Geschichte scheint nahezulegen, dass diese Bestimmungsmacht unbegrenzt ist: Aussagen, die weder wahr noch gerechtfertigt sind, wurden und werden dann durch Zwang oder auch durch stumpfes Weiterbehaupten zu Wissen deklariert. Sie sind dann meist vielmehr Teil einer Ideologie. So erleben wir es heutzutage beispielsweise im Fall von Klimawandelleugner:innen, die sich durch stichhaltige wissenschaftliche Widerlegungen nicht davon abbringen lassen, ihre nachweislich falschen Aussagen weiter zu behaupten.

Ab- und Anerkennungsprozesse betreffen nicht nur das Wissen, sondern auch die Wissenden. Nicht jede Wissende wird als Wissende anerkannt, nicht jeder Wissende darf auch wissen. Die Sklavinnen der Westindischen Inseln im 18. Jahrhundert galten den kolonialen Obrigkeiten nicht als Wissende; sowohl ihr Wissen als auch sie selbst wurden ignoriert. Die Frauen haben damit epistemische Ungerechtigkeit erfahren. "Epistemische Ungerechtigkeit" bezeichnet Prozesse und Mechanismen, durch die eine Person, die etwas weiß, nicht als Wissende behandelt wird, beispielsweise, weil sie aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht gehört wird.

Zum Abschluss: Kein Wissen ohne Unwissen

Welche Antworten auf die drei Interpretationen von "Was ist Wissen?" haben wir also entwickelt? Wissen kann unterschiedlicher Art sein: Es kann satzförmig, praktisch oder phänomenal sein. Satzförmiges Wissen ist wahre, gerechtfertigte Überzeugung, die gewiss, aber auch irrtumssensibel und irritationsfest ist. Anerkennungsprozesse prägen auch, was als Wissen gilt. Aber nicht alles, was als Wissen gilt, ist auch tatsächlich Wissen. Falsche Aussagen etwa können nur vermeintliches Wissen sein.

Die Fragen nach der Geltung von Wissen weisen zurück auf eine Facette von Wissen, die ich einleitend bereits erwähnt habe: Unwissen. Ist das, was nicht Wissen ist, Unwissen? Zum Abschluss möchte ich kurz aufzeigen, warum wir bei der Frage, was Wissen ist, gar nicht umhinkommen, auch über Unwissen zu sprechen.

Kurz gesagt: Es gibt kein Wissen ohne Unwissen. Was meint das? Zunächst meint es die Beobachtung, dass eine Person, bevor sie Wissen erworben hat, unwissend war. Mein Unwissen kommt vor meinem Wissen; bevor ich etwas weiß, wusste ich es nicht. Unwissen und Wissen sind also zeitlich aneinandergekoppelt.

Der Philosoph Blaise Pascal lieferte im 17. Jahrhundert eine weitere notwendige Verbindung zwischen Wissen und Unwissen: Er beschrieb Wissen als eine große Kugel in einem Meer von Unwissen. Und mit diesem Bild erkennen wir, dass immer, wenn neues Wissen dazu kommt, die Kugel wächst, aber auch das Unwissen. Denn wenn man mehr weiß, entsteht auch mehr Unwissen, weil man nun mehr weiß, zu dem man gleichzeitig Entsprechendes nicht weiß. Wissen und Unwissen koexistieren also stets und lassen sich, wenn überhaupt, nicht allein, sondern nur in Kombination verstehen.

In diesen Versuchen die Frage zu beantworten, was Wissen ist, zeigt sich, dass Wissen mit vielen weiteren Begriffen unauflöslich verknüpft ist. Insbesondere die enge Verbindung zwischen Wissen und Unwissen ist bedeutsam. Das Wissen vom eigenen Unwissen machte Sokrates übrigens – laut dem Orakel von Delphi – zum weisesten aller Menschen. Nehmen wir das doch als Anregung, auch über die Frage nachzudenken: Was ist Unwissen?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Andere Disziplinen stellen andere Fragen, zum Beispiel: Wie entsteht Wissen? Wie wird Wissen verbreitet? Wie verliert Wissen an Bedeutung? Es gibt Überschneidungen mit den Fragen dieses Essays, die ich hier aber nicht ausführen kann.

  2. Natürlich hat auch das Wissen vom eigenen Namen für einen selbst existenzielle Bedeutung, aber grundsätzlich gilt es als selbstverständliches Wissen, das nicht in Lexika festgehalten wird.

  3. Man könnte auch moralisches Wissen als weitere Art von Wissen anführen. Es gibt allerdings ausführliche Diskussionen, ob es sich hierbei überhaupt um Wissen handelt und was dieses ausmachen würde (wissen, was moralisch gut ist?). Da diese Diskussionen von der Hauptfrage ablenken, sei hier nur in dieser Fußnote darauf hingewiesen.

  4. Dass ich weiß, wie man Fahrrad fährt, ist wahr; dabei ist aber nicht mein praktisches Wissen wahr, sondern die Aussage über mein praktisches Wissen – und das ist klassisch satzförmiges Wissen.

  5. Vgl. David Löwenstein, "Wissen, dass" und "Wissen, wie", in: Martin Grajner/Guido Melchior (Hrsg.), Handbuch Erkenntnistheorie, Stuttgart 2019, S. 116–121.

  6. Auch das Wissen von nicht menschlichen Tieren scheint durch das satzförmige Wissen ausgeschlossen zu werden. Allerdings gibt es weit entwickelte Argumentationen dafür, dass Tiere sehr wohl Wissen besitzen.

  7. Vgl. Lutz Wingert, Lebensweltliche Gewissheit versus wissenschaftliches Wissen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6/2007, S. 911–927.

  8. Vgl. ebd.

  9. Vgl. Maria Sibylla Merian, Metamorphosis insectorum Surinamensium, Amsterdam 1705.

  10. Für eine Analyse der Mechanismen hinter der (Nicht-)Tradierung von Wissen siehe Londa Schiebinger, Agnotology and Exotic Abortifacients: The Cultural Production of Ignorance in the Eighteenth-Century Atlantic World, in: Proceedings of the American Philosophical Society 3/2005, S. 316–343.

  11. Vgl. Miranda Fricker, Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford–New York 2007.

  12. Alternativ kann man hier auch von Nichtwissen sprechen.

  13. Vgl. Jürgen Mittelstrass, Nichtwissen: Preis des Wissens?, in: Schweizerische Technische Zeitschrift 6/1996, S. 32–35.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Nadja El Kassar für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist habilitierte Philosophin mit Lehrauftrag an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und derzeit Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin. Zu ihren Schwerpunkten zählen unter anderem Erkenntnistheorie und Unwissen. E-Mail Link: nadja.elkassar@gess.ethz.ch