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Im Dienst der Gesellschaft - Essay | bpb.de

Im Dienst der Gesellschaft - Essay

Georg Mascolo

/ 9 Minuten zu lesen

Whistleblower sind nicht nur für den Journalismus wichtige Quellen, ihr Mut und ihre Zivilcourage dienen auch der demokratischen Gesellschaft insgesamt. Ohne diese Hinweisgeber könnten Journalisten ihre Aufgabe, die Mächtigen zu kontrollieren, kaum erfüllen.

So also kann er beginnen, der Kontakt mit einer Whistleblowerin, deren Name schon bald darauf in aller Welt in den Nachrichten zu hören sein wird. Ein paar schnelle Klicks, dann steht zu der vereinbarten Zeit die Videoverbindung. Die Frau, die auf dem Bildschirm zu sehen ist, ist jung, Mitte 30 vielleicht. Ein auffallend großer Kopfhörer mit silbernen Ohrmuscheln sitzt über ihren blonden Haaren, nur die Augen verraten die große Anspannung. "Sean" nennt sie sich bei diesem ersten Treffen, ihren wahren Namen will sie nicht sagen, erst einmal jedenfalls. Denn noch hat sie nicht die Entscheidung getroffen, ob sie ihre Botschaft auch mit ihrem Namen verbunden wissen will. Oder ob sie im Verborgenen bleiben wird.

"Sean" hat lange für den Facebook-Konzern gearbeitet, und das an einer ganz besonderen Position: in einer Abteilung, die verhindern sollte, dass Hass, Hetze und kriminelle Aktivitäten auf der Plattform stattfinden können. Sie weiß viel. Und sie verfügt über Tausende Seiten interner Dokumente, mit denen sie ihre Vorwürfe gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber belegen will – aus Empörung darüber, dass auch Facebook so viel über die internen Missstände weiß und doch so wenig tut gegen Desinformation, Hass und Polarisierung auf seinen Seiten. Jetzt will sie, dass Journalistinnen und Journalisten das Material unabhängig auswerten und veröffentlichen. Kontakt zu einem US-Medium hat sie schon, aber auch in Europa soll berichtet werden. Mittelsleute empfahlen ihr einen Kontakt zum Rechercheverbund von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung". So kommt es zu diesem ersten Gespräch.

"Sean" heißt in Wirklichkeit Frances Haugen und ist eine der großen Whistleblowerinnen unserer Zeit. Seit dem Beginn ihrer Enthüllungen im Herbst 2021 wird sie von Parlamenten eingeladen und ist eine gefragte Gesprächspartnerin der Medien. "Ich hab’s nicht so mit der Öffentlichkeit", hatte sie in unserem ersten Gespräch noch vorsichtig gesagt – und sich dann letztlich doch entschieden, das Risiko der Offenbarung zu tragen. In ihrem Fall führte der Weg nicht in die Isolation, den wirtschaftlichen Ruin oder sogar ins Gefängnis – wie bei so vielen anderen, die der Gesellschaft einen solchen Dienst erweisen.

Whistleblowing und Journalismus

Was wäre der Journalismus ohne Menschen wie Frances Haugen, was wäre er ohne Whistleblower? Sie sind ein ganz besonderer Typus des Informanten für uns. Sie handeln weder für einen persönlichen oder politischen Vorteil noch wollen sie Rache nehmen (ja, das gibt es alles auch) oder gar Geld für ihre Informationen (was praktisch nie funktioniert). Sie sind empört über das, was sie an ihrem Arbeitsplatz, in der Industrie, einem Ministerium oder einem Geheimdienst, sehen. Meist protestieren sie zunächst innerhalb ihrer Organisation und drängen auf Veränderung. Und wenn dennoch nichts geschieht, suchen sie die Öffentlichkeit. Sie rufen sie zur Hilfe in der Hoffnung, dass die Missstände so schließlich doch ein Ende finden. Whistleblower sind Idealisten.

Kann es einen Zweifel daran geben, dass demokratische Staaten ein besonderes Interesse – ja, eine Pflicht – haben, diese Menschen bestmöglich zu schützen? Nicht nur Deutschland tut sich damit beschämend schwer. Aber dazu später.

In meinem Berufsleben haben Whistleblowerinnen und Whistleblower eine überragende Rolle gespielt, lange übrigens, bevor der Begriff im Journalismus seine weite Verbreitung fand. Um es bei ein paar wenigen Beispielen zu belassen: Nach der deutschen Einheit waren solche darunter, die mit dem giftigen Erbe der Stasi umgingen – und entdeckten, dass hohe und höchste Positionen in der letzten DDR-Regierung von Stasi-Spitzeln bekleidet wurden. Immer wieder aber wurde in einzelnen Fällen vertuscht und weggeschaut, und so suchten sie die Öffentlichkeit. In den 1990er Jahren waren es fassungslose BND-Mitarbeiter, die entdeckten, dass ihr Geheimdienst viel Geld für aus der zerfallenden Sowjetunion herausgeschmuggeltes atomares Material bot. Der Bundesnachrichtendienst trug dazu bei, die Gefahr erst zu schaffen, die er bekämpfen wollte. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages nahm sich schließlich der Sache an. Ebenfalls aus dem BND kamen 2015 auch die ersten Hinweise, dass die "NSA-Affäre", das anlasslose Abhören weltweiter Kommunikation, auch eine Affäre des deutschen Geheimdienstes war – und dass der Satz Angela Merkels, dass sich Ausspähen unter Freunden nicht gehöre, in Berlin nie Gültigkeit besaß. Der BND selbst hatte die US-amerikanischen Geheimdienste bei ihrer umfassenden Kommunikationsüberwachung unterstützt. Die dann über Jahre betriebene Vertuschung war atemberaubend. Nie habe ich Bundestagsabgeordnete aus dem Parlamentarischen Kontrollgremium – und nicht nur solche der Opposition – empörter erlebt. In der Corona-Pandemie waren es Whistleblowerinnen und Whistleblower, die es ermöglichten, die Beratungen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten zu verfolgen. Sie waren früh davon überzeugt, dass die unter beispiellosem Druck und oft größter Ungewissheit getroffenen Entscheidungen zwar nicht in Echtzeit berichtet werden sollten, aber jedenfalls mit zeitlichem Abstand. Weil Demokratie ohne Transparenz nicht sein kann. Ohne Whistleblowing würde eine der wichtigsten Aufgaben des Journalismus nicht funktionieren: diejenigen zu kontrollieren, die über Macht verfügen. Und sie dazu zu zwingen, Rechenschaft über die Gründe ihrer Entscheidungen abzulegen. Dies ist übrigens kein besonderes Recht für Journalistinnen und Journalisten, in der Demokratie gehört dieses Recht allen Bürgerinnen und Bürgern. Wir nehmen es nur stellvertretend für sie wahr.

Quellenschutz

In den von mir geschilderten Fällen gilt übrigens ausnahmslos, dass die Whistleblowerinnen und Whistleblower bis heute unentdeckt geblieben sind. Sie verlassen sich auf unser Versprechen, dass Quellen unbedingt geschützt werden. Viele sind bis heute stolz darauf, was sie getan und damit erreicht haben. Manche bereuen es, dass sie damals nicht die Öffentlichkeit gesucht haben. Andere sorgen sich bis heute um ihre Sicherheit. Selbst wenn strafrechtliche Vorwürfe verjährt sind, könnten Pensionen gekürzt werden. Oder es könnte zur Ächtung im Kollegenkreis kommen.

Als Geburtsstunde des modernen investigativen Journalismus gilt die "Watergate-Affäre". Zwei hartnäckige Lokalreporter der Washington Post hatten entscheidenden Anteil daran, dass ein korrupter US-Präsident, Richard Nixon, sein Amt verlor. Zu ihrer Hartnäckigkeit kam eine ganz besondere Quelle hinzu: "Deep Throat", den einer der Reporter, Bob Woodward, immer wieder konspirativ in einem Parkhaus bei Washington, D.C. traf. Es war der stellvertretende FBI-Direktor Mark Felt, der sich 2005 kurz vor seinem Tod selbst enttarnte. Aber die Geschichte von "Watergate" wäre für den Journalismus eine ganz andere, wenn Felt gegen seinen Willen enttarnt worden wäre.

Leider ist es auch in Deutschland so, dass dem Staat die jeweils besten Voraussetzungen für einen umfassenden Quellenschutz abgerungen werden müssen. Besonders gefährlich war die Situation in den 1990er Jahren, als Staatsanwaltschaften reihenweise gegen Journalistinnen und Journalisten ermittelten, die Vertrauliches berichtet hatten. Sie nannten es "Beihilfe zum Verrat von Dienstgeheimnissen". Nach dieser Logik wären bald nur noch Theaterrezensionen und die Sportberichterstattung strafrechtlich unbedenklich geblieben. Durchsuchungen von Redaktionsräumen und Privatwohnungen von Journalistinnen und Journalisten sollten dazu führen, die Quellen der Medien aufzudecken. Erst ein Gesetz – es trägt den schönen Namen "Gesetz zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht" – beendete 2012 den gefährlichen Unsinn. 2015 wiederum hatten weder der Generalbundesanwalt noch das Bundesministerium der Justiz ein Geschichtsbuch zur Hand und leiteten, erstmals seit der "Spiegel-Affäre" 1962, ein Verfahren gegen Journalisten wegen Beihilfe zum Landesverrat ein. Nach einer Strafanzeige durch das Bundesamt für Verfassungsschutz ermittelte die Bundesanwaltschaft gegen "Netzpolitik.org". Der damalige Justizminister Heiko Maas stellte eine Gesetzesänderung in Aussicht. Darauf warten wir noch immer. Warum eigentlich?

Kürzlich, am 16. Juni 2023, ist in den USA einer der berühmtesten Whistleblower verstorben, Daniel Ellsberg. Die von ihm Nacht für Nacht fotokopierten "Pentagon Papers" legten die Lügen der US-Regierung über den Vietnamkrieg offen. Ellsberg hat oft darüber gesprochen, wie mühsam das nächtliche Kopieren von 7000 Seiten damals war (sogar sein Sohn half ihm dabei), und wie einfach es doch heute sei, dies am Computer mit einem Klick zu tun.

Zugleich verwies Ellsberg auf das für heutige Whistleblower gestiegene Risiko durch elektronische Spuren. Tatsächlich besteht das größte Risiko für Whistleblowerinnen und Whistleblower heute nicht mehr darin, dass die Polizei vor den Redaktionsräumen vorfährt und diese durchsucht. Stattdessen ist heute jedes Handy so leicht zu manipulieren, dass es Bild und Ton an die Überwacher liefert. Geodaten verraten jeden Ort, an dem sich Journalistinnen und Journalisten aufgehalten haben, und auch gleich die Uhrzeit dazu. Selbst um die Stromversorgung müssen sich die elektronischen Einbrecher nicht sorgen; der Nutzer selbst steckt das Gerät jeden Abend verlässlich an die Steckdose.

Wirklich besorgniserregend ist, dass für solche modernsten Überwachungstechniken ein riesiger Markt entstanden ist. Die Herstellerfirmen sitzen fast ausnahmslos in demokratischen Staaten in Europa, den USA und vor allem Israel, aber Diktaturen und Autokratien gehören zu ihren besten Kunden. Das Ziel solcher Überwachungsmaßnahmen und -techniken sind stets nicht nur Oppositionelle oder konkurrierende Politikerinnen und Politiker, sondern auch Journalistinnen und Journalisten und ihre Quellen. In Gefahr ist damit nichts anderes als die Zukunft des Widerspruchs. Es ist beschämend zu sehen, dass auch deutsche Polizeibehörden und Geheimdienste bei Firmen einkaufen, die kein Problem damit haben, Diktaturen zu beliefern – und dass praktisch alle europäischen Mitgliedstaaten eine Untersuchung des Europäischen Parlaments über diese Praktiken blockiert und unterlaufen haben.

Mut, Zivilcourage – und ihr Preis

Von Edward Snowden, dem beeindruckendsten Whistleblower, den ich kennengelernt habe, stammt der Satz, dass man einen solchen Markt für Überwachungstechnologien nicht dulden darf, so wie man schließlich auch keinen Markt für Massenvernichtungswaffen erlaubt. Edward Snowden sitzt heute nicht im Gefängnis, aber sein Gefängnis heißt Russland – ein Ort, an dem er nie sein wollte. Zu seinen großen Enttäuschungen gehört, dass ihm kein europäisches Land Asyl gewähren wollte, besonders hoffte er auf Deutschland. 2018 sagte er in einem Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung": "[W]as sagt es über unsere Welt, wenn der einzige Ort, an dem ein amerikanischer Whistleblower sicher sein kann, ausgerechnet Russland ist?" Drei Jahre zuvor noch hatte die SPD die englische Journalistin und WikiLeaks-Mitarbeiterin Sarah Harrison, die Snowden bei seiner Flucht unterstützt hatte, mit dem Sonderpreis des Internationalen Willy-Brandt-Preises geehrt. Für ihren "großen politischen Mut."

Die Frage, ob Edward Snowden der wirkmächtigste Whistleblower der jüngeren Geschichte ist, lässt sich schwer beantworten. Ja, die halbe Welt kennt seinen Namen und seine Enthüllungen, es gibt sogar eine T-Shirt-Kollektion mit seinem Bild. Aber glücklicherweise ist die Konkurrenz groß. Neben ihm gab und gibt es andere: Jene unbekannten Whistleblowerinnen und Whistleblower etwa, die unter Lebensgefahr Dokumente über die Unterdrückung der uigurischen Minderheit in China aus dem Land schafften. Oder der Mann, den die Welt nur unter dem Namen "John Doe" kennt und dem wir die "Panama Papers" verdanken.

Diese erlaubten einen Blick in eine Schattenwelt. Nicht jede Briefkastenfirma dient kriminellen Zwecken, aber am Ende von so ziemlich jedem Verbrechen findet sich eine Briefkastenfirma. Die Leaks aus der Finanzwelt (nach den "Panama Papers" kamen weitere) sind bis heute von großer Bedeutung; ein schneller Blick in die Sanktionslisten gegen Wladimir Putins Freunde und andere russische Superreiche genügt als Beweis. Diese Listen stützen sich auf das, was ohne den Mut von Whistleblowerinnen und Whistleblowern niemals öffentlich geworden wäre. Beim Geld übrigens, auch das zeigen die zugänglich gemachten Informationen, waren weite Teile Europas so blind wie beim Gas: Jedes Geschäft, das gemacht werden konnte, wurde auch gemacht. Und neben der Enthüllung krimineller Aktivitäten erlauben diese Leaks auch einen Blick auf das, was verharmlosend "Steuergestaltung" genannt wird. Einmal fanden wir in solchen Dokumenten Informationen darüber, wie der amerikanische Computerkonzern Apple 2014 eine neue Niederlassung suchte. Die Fragen des Konzerns an die beauftragte Anwaltskanzlei lauteten etwa, ob am entsprechenden Standort Geschäftsberichte veröffentlicht werden müssten oder ob Informationen über die Firma öffentlich eingesehen werden könnten – und ob es in dem Land eine glaubwürdige Oppositionspartei oder Bewegung gäbe, die die damalige Regierung ablösen könnte. Abschalteinrichtungen für Anstand gibt es nicht nur in der Automobilbranche.

Oft dauert es lange, bis der Mut von Whistleblowerinnen und Whistleblowern auch öffentlich anerkannt wird. Barack Obama etwa lobte vor seiner Präsidentschaft Whistleblower für ihre Zivilcourage und ihren Dienst an der Gesellschaft, als Präsident ging er dann hart gegen sie vor. Sein Justizminister fand anerkennende Worte für Edward Snowden – aber erst, als er nicht mehr Justizminister war. Es geht also nicht nur darum, wen man fragt, sondern immer auch darum, wann man fragt. Hollywood ist oft schneller und errichtet diesen Menschen filmische Denkmale – es ist aber weder für Amnestie oder Straffreiheit noch für ausreichenden gesetzlichen Schutz zuständig.

Frances Haugen jedenfalls hätte man nicht raten können, es in Deutschland als Whistleblowerin zu versuchen. Eine kleine Geschichte des deutschen Staatsversagens beim Schutz dieser Menschen geht so: Seit 2008 gab es sechs Gesetzesinitiativen zum Schutz von Whistleblowern, aber alle scheiterten. Erst 2019 zwang eine EU-Richtlinie Regierung und Parlament zum Handeln. Es folgte ein unwürdiges parlamentarisches Gezerre. Heraus kam erst jüngst ein Gesetz, das zwar ein Fortschritt ist, aber lange noch nicht gut genug.

Der Umgang mit Menschen wie Edward Snowden oder Frances Haugen ist immer ein guter Gradmesser für den Zustand eines demokratischen Gemeinwesens. Zu oft diskutieren wir darüber, woran uns unsere Geschichte hindert. Zu selten sprechen wir darüber, wozu sie uns verpflichtet. Diese Form von Zivilcourage zu würdigen und die Menschen, die sie zeigen, zu schützen, gehört unbedingt dazu.

ist Autor und Journalist. Er war Chefredakteur des "Spiegel" und leitete die Recherche-Kooperation von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung", die zahlreiche Preise für ihre investigativen Recherchen – unter anderem für jene zu den "Panama Papers" – erhielt.