Denkt man an das Thema "Whistleblowing", kommen einem vermutlich nicht als erstes Beschwerdestellen für behördliches Fehlverhalten in den Sinn; stattdessen werden die meisten zunächst an die Aufdeckung geheimer staatlicher Informationen denken. Doch wie bei anders gelagerten Whistleblowing-Fällen auch verbindet sich mit der Forderung nach unabhängigen Beschwerdestellen die Hoffnung, Missstände und Fehlentwicklungen aufzudecken und die Meldebereitschaft durch den Schutz von hinweisgebenden Personen zu verbessern. Besonders bei der Polizei sind berufsspezifische und organisationale Besonderheiten ein enormes Hemmnis für potenzielle Whistleblower. Umso wichtiger sind effektive Beschwerdestellen, an die sich Bürgerinnen und Bürger, aber auch Polizisten wenden können. Diese Einrichtungen sind jedoch vielen noch unbekannt.
(Polizei-)Beschwerdestellen in Deutschland
Beschwerdestellen sind ein Instrument demokratischer Rechtsstaatlichkeit, um das Recht auf wirksame Beschwerde und öffentliche Überprüfbarkeit zu gewährleisten.
Die polizeiinternen Mechanismen zur Aufklärung von Fehlern und Fehlverhalten umfassen Instrumente wie die Beratungs-, Remonstrations-
Die Schaffung von Beschwerdemöglichkeiten über polizeiliches Handeln ist in Deutschland Aufgabe der Länder. Entsprechend heterogen sind die Beschwerdestellen der Bundesländer ausgestaltet:
In einigen Bundesländern sind die Bürger- und Polizeibeauftragten als Hilfsorgane der Parlamente für die Ausübung der Kontrolle der Exekutive an die Legislative angegliedert,
Ob Sachverhalte angemessen geklärt werden können und Betroffene zu ihrem Recht kommen, hängt wesentlich von den Möglichkeiten zur Einsichtnahme ab. Zwei Drittel der Beschwerdestellen in Deutschland haben Akteneinsicht und können auch die Beschwerten anhören, der Hälfte ist die Anhörung von Zeugen gestattet, ein Drittel hat Betretungsrechte für polizeiliche Dienststellen. Wenn zur Aufklärung von Sachverhalten die Ermittlungsbefugnis darauf beschränkt ist, Petenten anzuhören (was bei Bürgerbeauftragten häufig der Fall ist), wird zwar der Betroffenenperspektive Raum gegeben, ein wirksamer Rechtsbehelf für Betroffene von polizeilichem Fehlverhalten ist dadurch jedoch nicht gewährleistet. Die Polizeibeauftragten der Länder haben meist die Aufgabe, den Dialog zwischen der Zivilgesellschaft und der Polizei zu stärken und erstere dabei begleitend zu unterstützen. Dabei haben sie auf eine einvernehmliche Erledigung hinzuwirken, sie haben also vor allem eine Mediationsfunktion. Für die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten oder Disziplinarvergehen sind sie nicht zuständig.
Neben der Aufgabe, Rechtsbehelf zu garantieren oder ein Einvernehmen zwischen Beschwerenden und Beschwerten zu erzielen, können Beschwerdestellen im Idealfall auch problematische Tendenzen und Entwicklungen in Polizeibehörden aufzeigen. In jedem Bundesland gibt es mindestens eine Beschwerdestelle, die in selbst identifizierten Problemfeldern – etwa dem Extremismusbereich oder dem Verhalten Polizeibediensteter in sozialen Medien – Schwerpunkte setzen und initiativ tätig werden kann.
Angesichts dieser vielfältigen Unterschiede zwischen den Beschwerdestellen wäre es irreführend, sie grob in "unabhängig" oder "nicht unabhängig" zu unterteilen. Vielmehr zeigen sich unterschiedliche Grade von Unabhängigkeit und, je nach Konfiguration einer Beschwerdestelle, je eigene Wirkungspotenziale und Grenzen.
Vier von fünf Beschwerdestellen in Deutschland haben standardisierte Verfahren zur Bearbeitung von Beschwerden. Der Grad der Verfahrensmäßigkeit hängt dabei eng mit der Zielsetzung einer Beschwerdestelle zusammen: Ist das Ziel, einen Rechtsbehelf zu garantieren, ist die Ausrichtung notwendigerweise formalisierter, da eine juristische und schriftliche Bearbeitung des Sachverhalts vorgenommen wird. Besteht die Zielsetzung hingegen in Mediation und Dialogförderung, wird der Bearbeitungsprozess oft mit den Betroffenen gemeinsam, fallspezifisch und in Form von Gesprächen gestaltet.
Als Instrument zur Qualitätssicherung der polizeilichen Arbeit werden die Erkenntnisse aus Beschwerdeverfahren mehrheitlich nicht genutzt. Das Beschwerdeaufkommen wird zwar in allen Bundesländern erfasst, aber weniger als die Hälfte der Stellen gibt ihre Analysen an die Polizei weiter, und nur ein Drittel gibt sie an die Politik. Ein Drittel der Beschwerdestellen führt zwar ein Monitoring durch, gibt die Ergebnisse aber nicht weiter. Knapp die Hälfte der Beschwerdestellen erfasst keine Merkmale von Beschwerdeführenden; hier wären bessere Kenntnisse durchaus sinnvoll, um gegebenenfalls Bevölkerungsgruppen, die sich nicht beschweren, zielgerichteter adressieren zu können und auf die Möglichkeit der Beschwerde aufmerksam zu machen. Ebenfalls die Hälfte der Beschwerdestellen erfasst Strukturmerkmale der beschwerten Polizisten. Solche Erhebungen können relevant sein, wenn Beschwerdestellen gezielt Veränderungen in der Polizei anstoßen wollen.
Whistleblowing durch Polizisten?
Whistleblowing wird in der Polizei als hochproblematisch wahrgenommen. Whistleblower laufen Gefahr, als "Nestbeschmutzer" gemobbt und systematisch ausgegrenzt zu werden. Interne Beschwerden über Kollegen gelten als schlimm genug, aber gegenüber einem Polizisten, der öffentlich Fehlentwicklungen thematisiert oder gegen Kollegen aussagt, schließen sich die Reihen.
Ein "Schweigekodex" in Polizeibehörden kann nach dem Stand der Forschung als gegeben angenommen werden. Studien zeigen, dass eine Mehrheit der Polizisten auch dann falsch zugunsten von Kollegen aussagen würde, wenn sie durch die Lüge ihrerseits eine Straftat begehen. Die Bereitschaft, Straftaten von Kollegen anzuzeigen, ist eher vorhanden, wenn diese aus Eigennutz handeln und beispielsweise stehlen, sich systematisch bereichern oder Notsituationen von Menschen ausnutzen. Dagegen haben Polizisten oft kein Problem damit, Straftaten ihrer Kollegen wie Trunkenheit am Steuer außerhalb der Dienstzeit zu decken, den Einsatz unrechtmäßiger Vernehmungsmethoden, die Anwendung unrechtmäßiger Gewalt bei der Festnahme fliehender Tatverdächtiger oder die "Fabrikation" von Tatbeständen, um eine unrechtmäßige polizeiliche Maßnahme im Nachhinein zu legalisieren.
Die starke Tendenz zur Tabuisierung von Fehlern ergibt sich aus Besonderheiten, die den Polizeiberuf von den meisten anderen Berufen unterscheiden: Polizeibeamte greifen qua ihres gesetzlichen Auftrags tagtäglich in Grundrechte der Bürger ein, etwa durch Personenkontrollen, Wohnungsdurchsuchungen oder den Einsatz physischen Zwangs. Polizeiliche Maßnahmen sind aber nur dann legal, wenn eine entsprechende Rechtsgrundlage vorliegt. Mit dem Strafverfolgungszwang unterliegen Polizisten überdies einer Handlungspflicht, die es in anderen Berufen in dieser Form kaum gibt. Einsatzsituationen sind insofern charakterisiert durch Handlungszwang unter den Bedingungen knapper Zeit, hoher Interaktionsdichte und der Notwendigkeit, Maßnahmen auf der Basis unvollständiger Informationen zu treffen. Das häufige Auftreten von Gefahrensituationen erhöht auch die Häufigkeit von Fehlern. Zudem ist der Prozess der Fehlerdiagnose ein Aushandlungsprozess, an dem Bürger, Medien, Interessengruppen, Staatsanwaltschaften und Gerichte beteiligt sind. Sowohl das Interesse Dritter an der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns als auch der persönliche Schaden für den eines Fehlers überführten Polizisten sind jeweils größer. Kurzum: Fehler bei der Arbeit passieren Polizisten häufiger als anderen Berufsgruppen und sind mit Blick auf die Folgen für den Einzelnen ungleich risikoreicher als für Menschen in den meisten anderen Berufen.
Die Berufsgruppe der Polizisten reagiert auf dieses Risiko mit stark ausgeprägten Solidaritätsnormen.
Im Streifendienst oder bei Großeinsätzen vollziehen Polizisten ihre Arbeit vor den Augen beliebiger Kollegen. Eine im Einsatz beobachtete und nicht sofort zur Anzeige gebrachte Straftat der Kollegen ist wegen des Strafverfolgungszwangs ebenfalls eine Straftat, weshalb alle am Einsatz Beteiligten – Täter und Zeugen sind Kollegen – schnell eine Interessengemeinschaft mit dem Ziel der Leugnung der Tat bilden. Dieser polizeiliche Korpsgeist beruht aber weder auf geteilten Werten, normativen Überzeugungen und persönlichen Sympathien noch auf gemeinsamen Erlebnissen.
Die Unterstützung, auf die sich Polizisten gegenseitig verlassen können, sichern sie sich vor allem dadurch, dass sie sich bei der Verrichtung ihrer Arbeit gegenseitig in Ruhe lassen, und zwar auch dann, wenn Kollegen unrechtmäßig handeln und es sich aus Sicht der anderen eindeutig um schlechte (illegitime) und illegale Polizeiarbeit handelt.
Es wäre gleichwohl falsch, für die Gesamtorganisation Polizei pauschal und gleichmäßig verteilt Solidarität und Verschwiegenheit anzunehmen. Starke Solidarität gibt es innerhalb einzelner Einheiten, während zwischen diesen Einheiten und der Führungsebene eher ein wechselseitiges Misstrauen und eine vergleichsweise hohe Bereitschaft herrscht, Fehlverhalten von Polizisten auf anderen Hierarchieebenen an interne Ermittler zu melden.
Bürgerbeschwerden
Die Anlässe für Beschwerden gegen die Polizei sind vielfältig und oft banal. Mehrheitlich wird das Kommunikationsverhalten von Polizeibeamten kritisiert. Häufig wird die mutmaßliche Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen oder vermeintliche Untätigkeit bemängelt. Sehr häufig geht es um den fließenden oder ruhenden Verkehr.
Mittels Beschwerde kann kritikwürdiges (Fehl-)Verhalten von Polizeibeamten unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit bemängelt werden. Eindeutig normierte Fehler wie Verstöße gegen Polizeirecht, die Strafprozessordnung, das Grundgesetz oder die Dienstvorschriften ziehen disziplinarische oder strafrechtliche Folgen für Polizisten nach sich. Dagegen ist fraglich und unklar, wann, ob und wie Verhalten, das gegen keine Regel verstößt, fehlerhaft ist. Dies impliziert unter anderem, dass Auffassungen über "richtiges" Verhalten existieren. Beschwerdestellen erfüllen insofern die Funktion, Wahrnehmungen darüber, was "fehlerhaftes" und "kritikwürdiges" Verhalten ist oder nicht ist, zur Disposition zu stellen. Folglich geht es weniger darum, die (externe) Kontrolle über die Ermittlung und Disziplinierung von Fehlverhalten zu stärken. Beschwerdestellen sind vielmehr Arenen, in denen die Deutungshoheit über nicht-justiziables (Fehl-)Verhalten ausgefochten wird. Mehr als zwei Drittel der Beschwerdestellen klassifizieren eingehende Beschwerden nach einem Prüfschema, das zwischen "unberechtigter", "teils berechtigter" und "berechtigter" Kritik unterscheidet. Für Beschwerende ist dies bedingt hilfreich zur Klärung von Sachverhalten und entschieden kontraproduktiv für den angestrebten Perspektivwechsel mittels Dialog.
Die Ergebnisse eines nicht-repräsentativen Feedback-Fragebogens der Hamburger Beschwerdestelle deuten darauf hin, dass die Petenten überwiegend männlich, fast ausschließlich ältere deutsche Staatsbürger und Angestellte, Selbstständige und Ruheständler sind.
Darüber, wie zufrieden Petenten mit der Bearbeitung ihrer Beschwerde sind, liegen keine verlässlichen Daten vor. Jede fünfte Beschwerdestelle holt Feedback ein, aber der Rücklauf ist in der Regel sehr gering. Insofern kommt es zu weiteren Verzerrungen, die den Aussagewert des Feedbacks einschränken, nämlich zugunsten von Petenten mit dezidiert hoher Beschwerdemacht, verfügbarer Zeit und einem ungebrochenen Vertrauen in Institutionen. Anzunehmen ist jedoch – und das ist nicht den Beschwerdestellen anzulasten –, dass Mediationsverfahren Beschwerdeführende oft unzufrieden zurücklassen, weil diese sich ja nicht mit der Intention beschweren, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, sondern den Wunsch nach Konsequenzen und Sanktionen für den handelnden Polizisten hegen. In dieser Hinsicht bräuchte es nicht nur die oft geforderte Fehlerkultur in Polizeibehörden, sondern auch eine zivilgesellschaftliche Beschwerdekultur.
Schluss
Beschwerdestellen steigern bislang nur sehr eingeschränkt die Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht von Polizeibehörden. Ihr Auftrag, eine Fehlerkultur zu kultivieren, wirft indes eigene Probleme auf:
Erstens muss in der Polizei das Problem der Fehlerleugnung besser adressiert werden. Fehlerfreie Polizeiarbeit ist ein wichtiges, aber unerreichbares Ideal. Damit die Arbeit der Beschwerdestellen eine Wirkung in Polizeiorganisationen entfalten kann, muss sie in den Polizeibehörden nicht nur formal, sondern vor allem informal unterstützt werden. Darauf können Behördenleitungen jedoch nur sehr begrenzt Einfluss nehmen.
Zweitens gibt es keinerlei empirische Anhaltspunkte dafür, dass sich die Makroebene (Rechtssystem) und die Mikroebene (die Beziehung zwischen beschwertem Polizisten und dem betroffenen Bürger) gegenseitig erreichen und beeinflussen. Hier ist Skepsis angebracht. Sickern die aus rechtsstaatlicher Sicht begrüßenswerten Ideen auf die Mikroebene herunter? Verbessern Polizeiorganisationen ihr Handeln aufgrund der Arbeit der Beschwerdestellen? Die Beschwerdestellen haben bislang nicht (nachweislich) die Beschwerdemacht von Betroffenen stärken können, weil viele Betroffene sie gar nicht erst aufsuchen. Können Beschwerdestellen damit Instrumente zum Monitoring der Polizei sein? Sie können es nur dann sein, wenn sie es stärker zu ihrer Aufgabe machen, diesen "Gap" zwischen Makro- und Mikroebene zu schließen, indem sie selbst gezielter thematische Schwerpunkte setzen und diese öffentlichkeitswirksam und zugleich in Kooperation mit den Polizeibehörden bearbeiten.