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Whistleblower und Beschwerdestellen bei der Polizei | bpb.de

Whistleblower und Beschwerdestellen bei der Polizei

Nadja Maurer

/ 15 Minuten zu lesen

Bei der Polizei stellen berufsspezifische und organisatorische Besonderheiten eine große Hürde für potenzielle Whistleblower dar. Umso wichtiger sind effektive polizeiliche Beschwerdestellen. Diese Einrichtungen sind jedoch vielen noch unbekannt.

Denkt man an das Thema "Whistleblowing", kommen einem vermutlich nicht als erstes Beschwerdestellen für behördliches Fehlverhalten in den Sinn; stattdessen werden die meisten zunächst an die Aufdeckung geheimer staatlicher Informationen denken. Doch wie bei anders gelagerten Whistleblowing-Fällen auch verbindet sich mit der Forderung nach unabhängigen Beschwerdestellen die Hoffnung, Missstände und Fehlentwicklungen aufzudecken und die Meldebereitschaft durch den Schutz von hinweisgebenden Personen zu verbessern. Besonders bei der Polizei sind berufsspezifische und organisationale Besonderheiten ein enormes Hemmnis für potenzielle Whistleblower. Umso wichtiger sind effektive Beschwerdestellen, an die sich Bürgerinnen und Bürger, aber auch Polizisten wenden können. Diese Einrichtungen sind jedoch vielen noch unbekannt.

(Polizei-)Beschwerdestellen in Deutschland

Beschwerdestellen sind ein Instrument demokratischer Rechtsstaatlichkeit, um das Recht auf wirksame Beschwerde und öffentliche Überprüfbarkeit zu gewährleisten. Der Idee nach soll sich grundsätzlich jede und jeder an Beschwerdestellen wenden können, um Kritik an polizeilichen Maßnahmen zu äußern oder Fehlverhalten auch unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit zu melden. Die Meldung kann schriftlich oder mündlich erfolgen, Beschwerden müssen auf Wunsch vertraulich behandelt werden, und Hinweise können anonym abgegeben werden. Im europäischen Vergleich sind polizeiliche Beschwerdestellen in Deutschland vergleichsweise spät und hinsichtlich ihrer Handlungsspielräume eher zögerlich eingerichtet worden. Anders als in anderen Staaten bearbeiten Polizeibeschwerdestellen hierzulande auch Eingaben aus der Polizei selbst, die ohne Einhaltung des Dienstwegs an sie herangetragen werden können.

Die polizeiinternen Mechanismen zur Aufklärung von Fehlern und Fehlverhalten umfassen Instrumente wie die Beratungs-, Remonstrations- und Verschwiegenheitspflicht, das interne Berichtswesen und Stellen für interne Ermittlungen. Die Melde- und Unterrichtungspflicht umfasst jedoch nur Dienstvergehen, die mindestens die Schwelle zur Strafbarkeit überschreiten. Dies ist oft nicht der Fall, wie etwa die öffentlich gewordenen Chats von Polizeibeamten mit rassistischen oder rechtsextremen Äußerungen zeigen. Hierbei handelte es sich zwar um Dienstvergehen, nicht jedoch um strafrechtlich relevantes Verhalten.

Die Schaffung von Beschwerdemöglichkeiten über polizeiliches Handeln ist in Deutschland Aufgabe der Länder. Entsprechend heterogen sind die Beschwerdestellen der Bundesländer ausgestaltet: Sie unterscheiden sich bezüglich ihrer gesetzlichen Grundlagen, Mandate, Kompetenzen, Ressourcen und Befugnisse, etwa hinsichtlich ihrer Ermittlungsbefugnisse, der Akten- und Dateieneinsichtsmöglichkeiten, der Betretungsrechte für Polizeidienststellen oder der Auskunftsrechte gegenüber den Innenministerien. Unterschiedlich ausgestaltet sind sie auch hinsichtlich ihrer Verfahrenspraxen und Aufgabenbereiche: Einige Stellen sind für Beschwerden gegen alle behördlichen Entscheidungen zuständig, andere nur für jene der Polizei. Entsprechend variiert auch die Zusammenarbeit zwischen den Beschwerdestellen und den polizeilichen Dienststellen.

In einigen Bundesländern sind die Bürger- und Polizeibeauftragten als Hilfsorgane der Parlamente für die Ausübung der Kontrolle der Exekutive an die Legislative angegliedert, in anderen Ländern sind die Polizeibeschwerdestellen Teil der Exekutive und an die Innenministerien oder Polizeipräsidien angebunden. Mitunter sind auch die Polizeibehörden selbst für die Bearbeitung von Beschwerden über polizeiliches Fehlverhalten zuständig, und in manchen Bundesländern existieren sogar mehrere Stellen nebeneinander. Die Aufgaben der Beschwerdestellen lassen sich grundsätzlich in drei Zielsetzungen zusammenfassen: "Rechtsbehelf", "Mediation/Dialog" und "Monitoring/Verbesserung".

Ob Sachverhalte angemessen geklärt werden können und Betroffene zu ihrem Recht kommen, hängt wesentlich von den Möglichkeiten zur Einsichtnahme ab. Zwei Drittel der Beschwerdestellen in Deutschland haben Akteneinsicht und können auch die Beschwerten anhören, der Hälfte ist die Anhörung von Zeugen gestattet, ein Drittel hat Betretungsrechte für polizeiliche Dienststellen. Wenn zur Aufklärung von Sachverhalten die Ermittlungsbefugnis darauf beschränkt ist, Petenten anzuhören (was bei Bürgerbeauftragten häufig der Fall ist), wird zwar der Betroffenenperspektive Raum gegeben, ein wirksamer Rechtsbehelf für Betroffene von polizeilichem Fehlverhalten ist dadurch jedoch nicht gewährleistet. Die Polizeibeauftragten der Länder haben meist die Aufgabe, den Dialog zwischen der Zivilgesellschaft und der Polizei zu stärken und erstere dabei begleitend zu unterstützen. Dabei haben sie auf eine einvernehmliche Erledigung hinzuwirken, sie haben also vor allem eine Mediationsfunktion. Für die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten oder Disziplinarvergehen sind sie nicht zuständig.

Neben der Aufgabe, Rechtsbehelf zu garantieren oder ein Einvernehmen zwischen Beschwerenden und Beschwerten zu erzielen, können Beschwerdestellen im Idealfall auch problematische Tendenzen und Entwicklungen in Polizeibehörden aufzeigen. In jedem Bundesland gibt es mindestens eine Beschwerdestelle, die in selbst identifizierten Problemfeldern – etwa dem Extremismusbereich oder dem Verhalten Polizeibediensteter in sozialen Medien – Schwerpunkte setzen und initiativ tätig werden kann.

Angesichts dieser vielfältigen Unterschiede zwischen den Beschwerdestellen wäre es irreführend, sie grob in "unabhängig" oder "nicht unabhängig" zu unterteilen. Vielmehr zeigen sich unterschiedliche Grade von Unabhängigkeit und, je nach Konfiguration einer Beschwerdestelle, je eigene Wirkungspotenziale und Grenzen.

Vier von fünf Beschwerdestellen in Deutschland haben standardisierte Verfahren zur Bearbeitung von Beschwerden. Der Grad der Verfahrensmäßigkeit hängt dabei eng mit der Zielsetzung einer Beschwerdestelle zusammen: Ist das Ziel, einen Rechtsbehelf zu garantieren, ist die Ausrichtung notwendigerweise formalisierter, da eine juristische und schriftliche Bearbeitung des Sachverhalts vorgenommen wird. Besteht die Zielsetzung hingegen in Mediation und Dialogförderung, wird der Bearbeitungsprozess oft mit den Betroffenen gemeinsam, fallspezifisch und in Form von Gesprächen gestaltet.

Als Instrument zur Qualitätssicherung der polizeilichen Arbeit werden die Erkenntnisse aus Beschwerdeverfahren mehrheitlich nicht genutzt. Das Beschwerdeaufkommen wird zwar in allen Bundesländern erfasst, aber weniger als die Hälfte der Stellen gibt ihre Analysen an die Polizei weiter, und nur ein Drittel gibt sie an die Politik. Ein Drittel der Beschwerdestellen führt zwar ein Monitoring durch, gibt die Ergebnisse aber nicht weiter. Knapp die Hälfte der Beschwerdestellen erfasst keine Merkmale von Beschwerdeführenden; hier wären bessere Kenntnisse durchaus sinnvoll, um gegebenenfalls Bevölkerungsgruppen, die sich nicht beschweren, zielgerichteter adressieren zu können und auf die Möglichkeit der Beschwerde aufmerksam zu machen. Ebenfalls die Hälfte der Beschwerdestellen erfasst Strukturmerkmale der beschwerten Polizisten. Solche Erhebungen können relevant sein, wenn Beschwerdestellen gezielt Veränderungen in der Polizei anstoßen wollen.

Whistleblowing durch Polizisten?

Whistleblowing wird in der Polizei als hochproblematisch wahrgenommen. Whistleblower laufen Gefahr, als "Nestbeschmutzer" gemobbt und systematisch ausgegrenzt zu werden. Interne Beschwerden über Kollegen gelten als schlimm genug, aber gegenüber einem Polizisten, der öffentlich Fehlentwicklungen thematisiert oder gegen Kollegen aussagt, schließen sich die Reihen. Der wohl bekannteste polizeiliche Whistleblower ist Frank Serpico. Nachdem seine unermüdlichen Versuche, bei seinen Vorgesetzten Gehör zu finden, gescheitert waren, machte er 1970 die in der New Yorker Polizei durch alle Hierarchieebenen um sich greifende Korruption öffentlich. Er wurde umgehend als "Denunziant" ausgegrenzt – es ging sogar so weit, dass seine Kollegen wegsahen und nicht einschritten, als er angeschossen und lebensgefährlich verletzt wurde. Serpico verließ die Polizei.

Ein "Schweigekodex" in Polizeibehörden kann nach dem Stand der Forschung als gegeben angenommen werden. Studien zeigen, dass eine Mehrheit der Polizisten auch dann falsch zugunsten von Kollegen aussagen würde, wenn sie durch die Lüge ihrerseits eine Straftat begehen. Die Bereitschaft, Straftaten von Kollegen anzuzeigen, ist eher vorhanden, wenn diese aus Eigennutz handeln und beispielsweise stehlen, sich systematisch bereichern oder Notsituationen von Menschen ausnutzen. Dagegen haben Polizisten oft kein Problem damit, Straftaten ihrer Kollegen wie Trunkenheit am Steuer außerhalb der Dienstzeit zu decken, den Einsatz unrechtmäßiger Vernehmungsmethoden, die Anwendung unrechtmäßiger Gewalt bei der Festnahme fliehender Tatverdächtiger oder die "Fabrikation" von Tatbeständen, um eine unrechtmäßige polizeiliche Maßnahme im Nachhinein zu legalisieren. Der im Hamburger Polizeiskandal 1994 ermittelnde Staatsanwalt formulierte im damaligen Untersuchungsausschuss seinen Eindruck, dass "die Aussagen der Beteiligten [Polizisten] so abgesprochen waren, wie es normalerweise nur im Bereich der Organisierten Kriminalität üblich ist".

Die starke Tendenz zur Tabuisierung von Fehlern ergibt sich aus Besonderheiten, die den Polizeiberuf von den meisten anderen Berufen unterscheiden: Polizeibeamte greifen qua ihres gesetzlichen Auftrags tagtäglich in Grundrechte der Bürger ein, etwa durch Personenkontrollen, Wohnungsdurchsuchungen oder den Einsatz physischen Zwangs. Polizeiliche Maßnahmen sind aber nur dann legal, wenn eine entsprechende Rechtsgrundlage vorliegt. Mit dem Strafverfolgungszwang unterliegen Polizisten überdies einer Handlungspflicht, die es in anderen Berufen in dieser Form kaum gibt. Einsatzsituationen sind insofern charakterisiert durch Handlungszwang unter den Bedingungen knapper Zeit, hoher Interaktionsdichte und der Notwendigkeit, Maßnahmen auf der Basis unvollständiger Informationen zu treffen. Das häufige Auftreten von Gefahrensituationen erhöht auch die Häufigkeit von Fehlern. Zudem ist der Prozess der Fehlerdiagnose ein Aushandlungsprozess, an dem Bürger, Medien, Interessengruppen, Staatsanwaltschaften und Gerichte beteiligt sind. Sowohl das Interesse Dritter an der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns als auch der persönliche Schaden für den eines Fehlers überführten Polizisten sind jeweils größer. Kurzum: Fehler bei der Arbeit passieren Polizisten häufiger als anderen Berufsgruppen und sind mit Blick auf die Folgen für den Einzelnen ungleich risikoreicher als für Menschen in den meisten anderen Berufen.

Die Berufsgruppe der Polizisten reagiert auf dieses Risiko mit stark ausgeprägten Solidaritätsnormen. Diese werden von Kritikern als "Korpsgeist" abgekanzelt, für Polizisten selbst ist das Narrativ der Gefahrengemeinschaft jedoch eine plausible Erklärung, weil es eine institutionalisierte Antwort auf die Frage anbietet, warum sie im Zweifel dem Kollegen gegenüber loyaler sind als dem Recht. Zwar geraten Polizisten während ihrer Berufsausübung, wenn auch selten, in gefährliche Situationen; in der alltäglichen Polizeiarbeit ist es jedoch um ein Vielfaches riskanter, Rechtsfehler zu begehen, für die der einzelne Polizist zur Verantwortung gezogen werden kann. Informell fühlen sich viele Polizistinnen und Polizisten daher verpflichtet, sich gegenseitig vor externer Kritik zu schützen.

Im Streifendienst oder bei Großeinsätzen vollziehen Polizisten ihre Arbeit vor den Augen beliebiger Kollegen. Eine im Einsatz beobachtete und nicht sofort zur Anzeige gebrachte Straftat der Kollegen ist wegen des Strafverfolgungszwangs ebenfalls eine Straftat, weshalb alle am Einsatz Beteiligten – Täter und Zeugen sind Kollegen – schnell eine Interessengemeinschaft mit dem Ziel der Leugnung der Tat bilden. Dieser polizeiliche Korpsgeist beruht aber weder auf geteilten Werten, normativen Überzeugungen und persönlichen Sympathien noch auf gemeinsamen Erlebnissen. Im Normalfall identifiziert sich der einzelne Polizist nicht übermäßig mit dem "Kollektiv Polizei" oder der Dienstgruppe, sondern Polizisten schweigen und lügen vor allem deshalb zugunsten ihrer Kollegen, weil sie ihrerseits auf deren Schweigen und Lügen angewiesen sind. Das Verhältnis von Polizisten zueinander ist eines der generalisierten Reziprozität, sodass es kaum eine Rolle spielt, welcher Fehler von wem und wann begangen worden ist. Eine zentrale Funktion des Kollektivs liegt darin, den Einzelnen von exklusiver Verantwortlichkeit für sein Handeln zu entlasten und die Risiken und Gefahren beruflicher Fehlleistungen zu delegieren und zu vergemeinschaften – die gegenseitige Loyalität, auch bei grobem Fehlverhalten, ist zugleich eine Art informale Berufsversicherung und eine "Komplizenschaft" durch wechselseitige Abhängigkeiten und Erpressbarkeiten. Jeder und jede Einzelne verbessert so seine beziehungsweise ihre Chancen maßgeblich, den Beruf langfristig ohne persönlichen Schaden ausüben zu können.

Die Unterstützung, auf die sich Polizisten gegenseitig verlassen können, sichern sie sich vor allem dadurch, dass sie sich bei der Verrichtung ihrer Arbeit gegenseitig in Ruhe lassen, und zwar auch dann, wenn Kollegen unrechtmäßig handeln und es sich aus Sicht der anderen eindeutig um schlechte (illegitime) und illegale Polizeiarbeit handelt. Polizisten tolerieren selbst "the worst of their kind in their midst" – auch den Kollegen, der zu exzessiver Gewalt neigt –, solange durch dessen Verhalten die Arbeit der übrigen Kollegen nicht übermäßig erschwert wird. Diese sogenannten Widerstandsbeamten sind als Kollegen zwar unbeliebt, werden aber geduldet. Die Schwäche dieser informalen "Versicherungsgemeinschaft" besteht in ihrer Unfähigkeit, klare Grenzen zwischen legitimem und illegitimem Verhalten zu ziehen und solche Mitglieder auszuschließen, die Situationen regelmäßig zum Entgleisen bringen. Das Herbeiführen totaler Regeleinhaltung böte keine praktikable Lösung, weil damit auch die funktional notwendigen Handlungsfreiheiten der Polizisten beeinträchtigt würden. Mithin besteht das Dilemma eines ständigen Spannungsverhältnisses zwischen zahlreichen Rechtsvorschriften, der Komplexität von Einsatzsituationen und informalen Kollegialitätserwartungen, das eine strikte Regelbefolgung auf Dauer unmöglich macht, wie der O-Ton eines Streifenpolizisten veranschaulicht: "Given the fact you can’t police by the book, if a bloke hasn’t got a few investigations in his file, he’s probably not doing his job. (…) If you are active as a policeman, you will have complaints against you."

Es wäre gleichwohl falsch, für die Gesamtorganisation Polizei pauschal und gleichmäßig verteilt Solidarität und Verschwiegenheit anzunehmen. Starke Solidarität gibt es innerhalb einzelner Einheiten, während zwischen diesen Einheiten und der Führungsebene eher ein wechselseitiges Misstrauen und eine vergleichsweise hohe Bereitschaft herrscht, Fehlverhalten von Polizisten auf anderen Hierarchieebenen an interne Ermittler zu melden. Dies spiegelt sich auch in den Polizeieingaben in den Beschwerdestellen. Häufige von Polizisten gemeldete Themen sind individuelle Anliegen und Konflikte mit Vorgesetzten auf anderer Hierarchieebene. Oft geht es um Beurteilungen, Versetzungen, Beförderungen oder Konflikte und Mobbing in Dienstgruppen. Ob diese Beschwerden Indikatoren für strukturelle Missstände und als "Whistleblowing" zu qualifizieren sind, ist aber zu bezweifeln.

Bürgerbeschwerden

Die Anlässe für Beschwerden gegen die Polizei sind vielfältig und oft banal. Mehrheitlich wird das Kommunikationsverhalten von Polizeibeamten kritisiert. Häufig wird die mutmaßliche Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen oder vermeintliche Untätigkeit bemängelt. Sehr häufig geht es um den fließenden oder ruhenden Verkehr.

Mittels Beschwerde kann kritikwürdiges (Fehl-)Verhalten von Polizeibeamten unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit bemängelt werden. Eindeutig normierte Fehler wie Verstöße gegen Polizeirecht, die Strafprozessordnung, das Grundgesetz oder die Dienstvorschriften ziehen disziplinarische oder strafrechtliche Folgen für Polizisten nach sich. Dagegen ist fraglich und unklar, wann, ob und wie Verhalten, das gegen keine Regel verstößt, fehlerhaft ist. Dies impliziert unter anderem, dass Auffassungen über "richtiges" Verhalten existieren. Beschwerdestellen erfüllen insofern die Funktion, Wahrnehmungen darüber, was "fehlerhaftes" und "kritikwürdiges" Verhalten ist oder nicht ist, zur Disposition zu stellen. Folglich geht es weniger darum, die (externe) Kontrolle über die Ermittlung und Disziplinierung von Fehlverhalten zu stärken. Beschwerdestellen sind vielmehr Arenen, in denen die Deutungshoheit über nicht-justiziables (Fehl-)Verhalten ausgefochten wird. Mehr als zwei Drittel der Beschwerdestellen klassifizieren eingehende Beschwerden nach einem Prüfschema, das zwischen "unberechtigter", "teils berechtigter" und "berechtigter" Kritik unterscheidet. Für Beschwerende ist dies bedingt hilfreich zur Klärung von Sachverhalten und entschieden kontraproduktiv für den angestrebten Perspektivwechsel mittels Dialog.

Die Ergebnisse eines nicht-repräsentativen Feedback-Fragebogens der Hamburger Beschwerdestelle deuten darauf hin, dass die Petenten überwiegend männlich, fast ausschließlich ältere deutsche Staatsbürger und Angestellte, Selbstständige und Ruheständler sind. Der Akt des Sich-Beschwerens ist sehr voraussetzungsreich: Es bedarf nicht nur des Vertrauens in Rechtsstaatlichkeit und in die Institution Polizei, sondern auch diverser Kompetenzen. Die Bevölkerungsgruppen, die mutmaßlich ernstzunehmende Kritik zu äußern hätten, sind vor allem Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Sprachbarrieren und marginalisierte Personen. Dies sind aber zugleich auch die Bevölkerungsgruppen mit geringer Beschwerdemacht, die die Möglichkeit der Beschwerde kaum nutzen. Insgesamt erreichen die Beschwerdestellen nur wenige Hinweise auf Rassismus oder Polizeigewalt. Bei polizeilich angebundenen Beschwerdestellen birgt der Strafverfolgungszwang der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Risiko einer "Gegenanzeige" für Petenten. Dies stellt für Betroffene von Polizeigewalt ein reales Hindernis dar, ihr Recht auf Beschwerde wahrzunehmen, weil sie fürchten müssen, selbst zu Beschuldigten in einem Strafverfahren zu werden.

Darüber, wie zufrieden Petenten mit der Bearbeitung ihrer Beschwerde sind, liegen keine verlässlichen Daten vor. Jede fünfte Beschwerdestelle holt Feedback ein, aber der Rücklauf ist in der Regel sehr gering. Insofern kommt es zu weiteren Verzerrungen, die den Aussagewert des Feedbacks einschränken, nämlich zugunsten von Petenten mit dezidiert hoher Beschwerdemacht, verfügbarer Zeit und einem ungebrochenen Vertrauen in Institutionen. Anzunehmen ist jedoch – und das ist nicht den Beschwerdestellen anzulasten –, dass Mediationsverfahren Beschwerdeführende oft unzufrieden zurücklassen, weil diese sich ja nicht mit der Intention beschweren, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, sondern den Wunsch nach Konsequenzen und Sanktionen für den handelnden Polizisten hegen. In dieser Hinsicht bräuchte es nicht nur die oft geforderte Fehlerkultur in Polizeibehörden, sondern auch eine zivilgesellschaftliche Beschwerdekultur.

Schluss

Beschwerdestellen steigern bislang nur sehr eingeschränkt die Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht von Polizeibehörden. Ihr Auftrag, eine Fehlerkultur zu kultivieren, wirft indes eigene Probleme auf:

Erstens muss in der Polizei das Problem der Fehlerleugnung besser adressiert werden. Fehlerfreie Polizeiarbeit ist ein wichtiges, aber unerreichbares Ideal. Damit die Arbeit der Beschwerdestellen eine Wirkung in Polizeiorganisationen entfalten kann, muss sie in den Polizeibehörden nicht nur formal, sondern vor allem informal unterstützt werden. Darauf können Behördenleitungen jedoch nur sehr begrenzt Einfluss nehmen. Solange Polizisten Recht in komplexen Situationen anwenden und durchsetzen, sind sie dem berufsinhärenten Risiko ausgesetzt, persönlich zurechenbare Rechtsfehler zu begehen, und werden Versicherungsgemeinschaften bilden, die den Einzelnen von exklusiver Verantwortlichkeit für sein Handeln entlasten. Whistleblowing wirkt in der Polizei stark zersetzend und ist mit hohen Kosten für die Hinweisgebenden verbunden. Neben kontinuierlichen internen Risikoanalysen empfiehlt sich ein konstruktiver Umgang mit Missständen. Für Whistleblower ist das Verhalten unmittelbarer Vorgesetzter maßgeblich: Sie können sie schützen oder offen unterstützen, aber auch ausgrenzen und abstrafen. Die unbeabsichtigten, aber abzusehenden Folgeprobleme einer intensivierten externen Kontrolle sind hingegen die Zunahme eines risikoaversen Entscheidungs- und Handlungsstils einerseits und einer defensiven Solidarität unter Polizisten andererseits. Der weitere Ausbau der Möglichkeit, Missstände und Fehlverhalten anonym zu melden, wäre notwendig, um die Furcht potenzieller Whistleblower vor formalen (etwa Gegenanzeigen wegen Strafvereitelung im Amt, wenn eine beobachtete Straftat eines Kollegen erst mit Verzögerung angezeigt wird) und informalen Sanktionen (dem Entzug kollegialer Unterstützung) abzuschwächen. Ein weiterer Ansatz wäre, die Ermittlungen gegen Polizeibeamte, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht Kollegen derselben Berufsgruppe zu überlassen. Freilich würde die Rechtsdurchsetzung (gegen Polizisten) auch weiterhin an Grenzen stoßen, diese dürften sich jedoch verschieben.

Zweitens gibt es keinerlei empirische Anhaltspunkte dafür, dass sich die Makroebene (Rechtssystem) und die Mikroebene (die Beziehung zwischen beschwertem Polizisten und dem betroffenen Bürger) gegenseitig erreichen und beeinflussen. Hier ist Skepsis angebracht. Sickern die aus rechtsstaatlicher Sicht begrüßenswerten Ideen auf die Mikroebene herunter? Verbessern Polizeiorganisationen ihr Handeln aufgrund der Arbeit der Beschwerdestellen? Die Beschwerdestellen haben bislang nicht (nachweislich) die Beschwerdemacht von Betroffenen stärken können, weil viele Betroffene sie gar nicht erst aufsuchen. Können Beschwerdestellen damit Instrumente zum Monitoring der Polizei sein? Sie können es nur dann sein, wenn sie es stärker zu ihrer Aufgabe machen, diesen "Gap" zwischen Makro- und Mikroebene zu schließen, indem sie selbst gezielter thematische Schwerpunkte setzen und diese öffentlichkeitswirksam und zugleich in Kooperation mit den Polizeibehörden bearbeiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Eric Töpfer, Unabhängige Polizei-Beschwerdestellen. Eckpunkte für ihre Ausgestaltung, Berlin 2014.

  2. Vgl. Marie-Theres Piening/Marius Kühne/Eric Töpfer, Parlamentarische Polizeibeauftragte. Vermittlungs- statt Ermittlungsstellen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 130/2022, S. 17–28, hier S. 21f.

  3. Vgl. Eric Töpfer/Tobias Peter, Unabhängige Polizeibeschwerdestellen. Was kann Deutschland von anderen europäischen Staaten lernen?, Berlin 2017.

  4. Vgl. Piening/Kühne/Töpfer (Anm. 2), S. 27.

  5. Unter "Remonstrationspflicht" versteht man die Pflicht, Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anweisungen gegenüber den Vorgesetzten kenntlich zu machen.

  6. Die folgenden Ausführungen beruhen in Teilen auf der empirischen Auswertung einer Bund-Länder-Umfrage der Dienststelle Beschwerdemanagement und Disziplinarangelegenheiten (BMDA) der Polizei Hamburg, an der die Autorin beteiligt war.

  7. Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Unabhängige Polizeibeauftragte in den Ländern, Berlin 2022.

  8. Vgl. Jonas Botta, Unabhängige Polizeibeauftragte. Einfachgesetzliche Grundlagen, verfassungsrechtliche Bewertung und rechtspolitische Empfehlungen, in: Juristenzeitung 13/2022, S. 664–672.

  9. Vgl. Piening/Kühne/Töpfer (Anm. 2), S. 19.

  10. Vgl. ebd., S. 20.

  11. Vgl. Martin Herrnkind, Was der Whistleblower von den Kollegen zu erwarten hat, in: Polizei-heute 2/2006, S. 58–61.

  12. Vgl. Egon Bittner, The Functions of the Police in Modern Society. A Review of Background Factors, Current Practices, and Possible Role Models, Chevy Chase 1970, S. 69ff.

  13. Vgl. z.B. William A. Westley, Secrecy and the Police, in: Social Forces 3/1956, S. 254–257; Whitman Knapp, The Knapp Commission Report on Police Corruption, New York 1973; City of New York, Commission to Investigate Allegations of Police Corruption and the Anti-Corruption Procedures of the Police Department (Mollen Commission Report), New York 1994; Martin Weißmann, Organisiertes Misstrauen und ausdifferenzierte Kontrolle. Zur Soziologie der Polizei, Bielefeld 2023, S. 319; Michael Long et al., The Normative Order of Reporting Police Misconduct, in: Social Psychology Quarterly 3/2013, S. 242–267, hier 263f.; Carl B. Klockars/Sanja K. Ivković/M.R. Haberfeld (Hrsg.), The Contours of Police Integrity, Thousand Oaks 2004; Tom Barker/David Carter, "Fluffing up the Evidence and Covering Your Ass." Some Conceptual Notes on Police Lying, in: Deviant Behavior 1/1990, S. 61–73; Louise Westmarland/Michael Rowe, Police Ethics and Integrity: Can a New Code Overturn the Blue Code?, in: Policing and Society 7/2018, S. 854–870; Louise Westmarland/Steve Conway, Police Ethics and Integrity: Keeping the "Blue Code" of Silence, in: International Journal of Police Science & Management 4/2020, S. 378–392.

  14. Beim "Hamburger Polizeiskandal" ging es um die Ausübung unrechtmäßiger Gewalt gegenüber v.a. schwarzen Männern in Polizeigewahrsam.

  15. Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal) e.V., Entwicklung der BAG, 17.6.2023, Externer Link: http://www.kritische-polizisten.de/entwicklung/%231994.

  16. Vgl. Malin Wieslander, Learning the (Hidden) Silence Policy Within the Police, in: Studies in Continuing Education 3/2019, S. 308–325.

  17. Vgl. Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und innerer Sicherheit: die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003, S. 111; Weißmann (Anm. 13), S. 317.

  18. Vgl. Weißmann (Anm. 13), S. 338.

  19. Vgl. ebd., S. 369f.; Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 323f.

  20. Vgl. Weißmann (Anm. 13), S. 311.

  21. Vgl. Bittner (Anm. 12), S. 69f.

  22. Vgl. Everett Hughes, Mistakes at Work, in: Ders., The Sociological Eye. Selected Papers, Chicago 1951, S. 316–325; Weißmann (Anm. 13), S. 323, S. 363.

  23. Vgl. Weißmann (Anm. 13), S. 314ff.

  24. Vgl. ebd., S. 318, S. 371.

  25. Bittner (Anm. 12), S. 69.

  26. Vgl. Weißmann (Anm. 13), S. 314.

  27. Vgl. ebd., S. 368.

  28. Zit. nach Peter K. Manning, Rules, Colleagues, and Situationally Justified Actions, in: Ders./John van Maanen (Hrsg.), Policing: A View from the Streets, Santa Monica 1976, S. 71–90, hier S. 83.

  29. Vgl. Maurice Punch, Conduct Unbecoming. The Social Construction of Police Deviance and Control, London 1985, S. 183ff.

  30. Vgl. Polizei Hamburg, Tätigkeitsbericht 2021/22, Beschwerdemanagement und Disziplinarangelegenheiten, S. 34f.

  31. Vgl. ebd., S. 62f.

  32. Vgl. Piening/Kühne/Töpfer (Anm. 2), S. 24. In Schleswig-Holstein bezogen sich von 2016 bis 2020 insgesamt neun Beschwerden (3,6 Prozent) auf Polizeigewalt. Vgl. ebd., S. 26.

  33. Vgl. Weißmann (Anm. 13), S. 375f.

  34. Vgl. Luhmann (Anm. 19), S. 172–190; Weißmann (Anm. 13), S. 376.

  35. Vgl. Weißmann (Anm. 13), S. 377f.

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ist promovierte Sozialanthropologin. Sie arbeitet unter anderem im Bereich des Konfliktmanagements und zum Themenfeld Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Derzeit ist sie an der Forschungsstelle für strategische Polizeiforschung in Hamburg tätig.
E-Mail Link: nadja@cmaurer.org