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Staatsgeheimnisse verpfeifen? | bpb.de

Staatsgeheimnisse verpfeifen? Whistleblowing im demokratischen Rechtsstaat

Bernhard W. Wegener

/ 14 Minuten zu lesen

Auf die Offenbarung von Staatsgeheimnissen durch Whistleblower reagieren auch demokratische Rechtsstaaten oft mit dem scharfen Schwert des Strafrechts. Chancen für eine bessere gesetzliche Regelung wurden mit dem Hinweisgeberschutzgesetz vertan.

Den prominentesten Whistleblowern unserer Zeit und ihren Helfern geht es nicht gut. Edward Snowden, der die anlasslose weltweite Kommunikationsüberwachung des US-Geheimdienstes NSA öffentlich machte, muss als neurussischer Staatsbürger in Moskau leben. Julian Assange, Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, ist Opfer einer seit fast 13 Jahren andauernden kafkaesken Freiheitsberaubung ohne Anklage. Chelsea Manning, die Kriegsverbrechen US-amerikanischer Soldaten im Irak aufdeckte, versuchte sich in einem US-Gefängnis umzubringen. Nur der unlängst mit 92 Jahren verstorbene Daniel Ellsberg, der der "New York Times" die "Pentagon Papers" zuspielte und so enthüllte, dass die US-Regierung jahrelang Öffentlichkeit und Kongress über den Vietnamkrieg belogen hatte, konnte ein relativ ungestörtes Leben genießen. Grob illegale Machenschaften der Nixon-Administration ließen den gegen ihn angestrengten Prozess platzen.

Die USA als zweifelhaftes Vorbild

Demokratische Rechtsstaaten – an ihrer Spitze die USA – haben ein schwieriges Verhältnis zu denjenigen, die aus Gewissensgründen und mit den besten Intentionen Staatsgeheimnisse der Öffentlichkeit zugänglich machen. Auch wenn diese Whistleblower weiten Teilen der Öffentlichkeit als Helden gelten: Ihre staatliche Verfolgung ist eben darum kaum weniger gnadenlos. Explizites Ziel dieser Verfolgung ist die Vergeltung der als Verrat empfundenen Informationspreisgabe und die maximale Abschreckung möglicher Nachahmer. Die strafrechtliche Verfolgung stützt sich in den USA insbesondere auf den Espionage Act von 1917 und damit auf ein aus Kriegszeiten stammendes, in seinen Tatbestandsmerkmalen konturenloses und in seinen Strafandrohungen drakonisches Instrument zur Verfolgung staatsgefährdenden Verrats. Kennzeichen der auf dieser Grundlage erfolgenden staatlichen Strafverfolgung ist die Nichtberücksichtigung der Motive der Whistleblower. Diese dürfen in den einschlägigen Verfahren mitunter nicht einmal vorgebracht werden.

All das ist umso bemerkenswerter, als gerade die USA als Mutterland der Whistleblower-Schutzgesetzgebung gelten. Erklärtes Ziel dieser Gesetzgebung ist die Aufdeckung von Missständen verschiedenster Art in privatwirtschaftlichen Unternehmen wie in der öffentlichen Verwaltung. Die Öffentlichkeit, die Legislative und die Exekutive selbst sollen durch Hinweisgeber in die Lage versetzt werden, ihrer Aufgabe als Kontrollorgane des demokratischen Gemeinwesens effektiv nachzukommen. Zu diesem Zweck werden Hinweisgeber unter besonderen Schutz gestellt; Nachteile sollen ihnen nicht entstehen. Manche Whistleblower-Gesetzgebung sieht sogar eine Belohnung und/oder Auszeichnung von Hinweisgebern vor. Außerdem werden mitunter spezielle Einrichtungen zur organisationsinternen oder -externen Meldung von Missständen in Unternehmen und in der öffentlichen Verwaltung geschaffen.

Diese Schutzgesetzgebung kommt denen, die echte oder vermeintliche staatliche Fehlentwicklungen aufzudecken suchen, aber regelmäßig nicht zugute. Ursächlich dafür sind vielfältige Ausnahmen im Hinweisgeberschutz. So werden etwa Tätigkeiten der Geheimdienst- und Sicherheitsbehörden oft pauschal aus dem Whistleblower-Schutzregime ausgeklammert. Ausgenommen sind regelmäßig auch solche Hinweise, die sich aus Dokumenten oder Informationen ergeben, die ihrerseits als geheim klassifiziert sind. Gerade diese Geheimhaltungsklassifizierung erweist sich in den USA schon seit Jahrzehnten als immer weiter um sich greifendes Gesamtproblem. Hier hat sich eine Manie der übermäßigen Geheimklassifizierung, in den USA spricht man von overclassification, entwickelt, die einen rationalen Umgang mit behördlichen Informationen im demokratischen Rechtsstaat inzwischen insgesamt gefährdet. Die politischen Auseinandersetzungen über den Umgang mit als geheimhaltungsbedürftig klassifizierten Unterlagen durch die Präsidenten Joe Biden und Donald Trump sind dafür nur Beispiele. Die jüngste der gegen den ehemaligen Präsidenten Trump erhobenen Klagen dreht sich exakt um dessen Umgang mit solchen Dokumenten – und stützt sich wiederum wenigstens teilweise auf den so umstrittenen Espionage Act von 1917.

Die Geheimhaltung staatlicher Informationen ist damit – wie es sich schon in der seinerzeit mit wahlentscheidenden Affäre um den richtigen Umgang mit E-Mails durch die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton abzeichnete – auch über den Kreis der eigentlichen Whistleblower-Problematik hinaus zu einem zentralen Instrument der politisch-administrativen Auseinandersetzung avanciert. Das erscheint umso problematischer, als in einer Situation grassierender overclassification der rechtlich einwandfreie Umgang mit den staatlichen Geheimhaltungsverlangen immer komplexer und unberechenbarer wird.

Die exzessive Einstufung staatlicherseits verwalteter Informationen ist dabei vielfältig motiviert. Sie dient den Institutionen und den einzelnen Amtsträgern als Instrument eigener Absicherung gegenüber politischer und haftungsrechtlicher Verantwortlichkeit. Sie entspricht dem schon von Max Weber eingehend beobachteten und analysierten bürokratischen Impuls zur Sicherung des eigenen überlegenen Wissens gegenüber dem Informationsverlangen Dritter und der Öffentlichkeit. Gerade dieser Gesichtspunkt spielt in den USA, die grundsätzlich weitreichende Informationszugangsrechte nach dem Freedom of Information Act und umfangreiche rechtliche Garantien der freien Presseberichterstattung kennen, eine wichtige Rolle.

Die Geheimhaltung erlaubt darüber hinaus insbesondere den Spitzen der Exekutive einen strategischen Umgang mit Herrschaftswissen. Die gezielte selektive Offenbarung eigentlich als geheim klassifizierter Informationen ist ein wesentliches Instrument im Umgang mit den Medien, der Öffentlichkeit und mit dem politischen Gegner. Zu Recht wird in der einschlägigen Literatur darauf hingewiesen, dass die allermeisten und praktisch bedeutsamsten informationellen Leaks von den politischen Behördenleitungen lanciert werden. Diese Durchstechereien an interessierte Kreise oder die Medien sind ein wesentliches politisches Machtinstrument, das seinerseits auf der Basis einer ausgeprägten Geheimhaltungskultur floriert. Strafrechtlich verfolgt werden diese High-Level-Leaker nur in den seltensten Fällen. So erweist sich auch die strafrechtliche Verfolgung von unautorisierten Informationsweitergaben in ihrer Selektivität noch als ein wichtiges Instrument politischer Opportunität.

Whistleblowing in Deutschland

Deutschland ist sicher keine Gesellschaft mit einer ausgeprägten Kultur des Whistleblowings. Dem steht die traditionelle Praxis der administrativen Regelgeheimhaltung und Amtsverschwiegenheit ebenso entgegen wie die Diskreditierung jeden "Denunziantentums" durch die entsprechenden Negativerfahrungen unter dem Nationalsozialismus und in der DDR. Immerhin zählt die "Spiegel-Affäre" von 1962 – nicht zuletzt wegen der Darstellung durch den "Spiegel" selbst – zu den Gründungsmythen des deutschen Investigativjournalismus, der dank dieser Affäre auch schon zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt eine verfassungsgerichtliche Absicherung erfahren hat. Die Geschichte der bekanntesten Deutschen, die sich um eine Aufdeckung staatlicher Missstände bemüht haben, veranschaulicht aber – wie die ihrer US-amerikanischen Gegenbilder – vor allem die persönlichen Risiken, die diese Art des Whistleblowings mit sich bringen kann. Zu denken ist etwa an den Herausgeber der "Weltbühne", Carl von Ossietzky, der 1929 gemeinsam mit Walter Kreiser die heimliche und illegale Aufstellung von Luftstreitkräften der Reichswehr aufgedeckt hatte und dafür vom Reichsgericht wegen des Verrats militärischer Geheimnisse zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden war.

Für die rechtliche Beurteilung des Whistleblowings avant la lettre im Nachkriegsdeutschland wurde dann Werner Pätsch zur anstoßgebenden Figur. 1963 hatte Pätsch – Edward Snowden nicht unähnlich – als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes dessen illegale Praxis einer bei den US-amerikanischen und britischen Geheimdiensten in Auftrag gegebenen Post- und Telefonüberwachung deutscher Staatsbürger öffentlich gemacht. Der damalige Bundesinnenminister Hermann Höcherl hatte schon im Zuge der "Spiegel-Affäre" wegen der von der deutschen Polizei veranlassten und "etwas außerhalb der Legalität" angesiedelten Festnahme des deutschen "Spiegel"-Redakteurs Conrad Ahlers in Franco-Spanien den ihm unterstellten Beamten keine "moralische[n] Vorwürfe" machen wollen. Zu der von Pätsch aufgedeckten Abhörpraxis des Verfassungsschutzes meinte er dementsprechend lapidar, seine Beamten könnten "nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen".

Für Werner Pätsch dagegen kam ein solches rechtsstaatliches Augenzwinkern nicht zur Anwendung. Die Bundesanwaltschaft brachte seine Tat als staatswohlgefährdende Preisgabe von Staatsgeheimnissen zur Anklage und forderte zwölf Monate Haft ohne Bewährung. Der Bundesgerichtshof (BGH) dagegen war in seinem Urteil ersichtlich um eine abwägende Entscheidung bemüht. So betonte er die Bedeutung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung, das auch für Amtsträger das Recht umfasse, "Mißstände im öffentlichen Leben, insbesondere Gesetzes- und Verfassungsverstöße von Behörden, mit dem Ziel ihrer Abstellung zu rügen". Bringe eine solche "Rüge" die Erörterung von Staats- oder Amtsgeheimnissen mit sich, so sei dies aber nur dann nicht rechtswidrig, wenn die Preisgabe auf das Notwendige beschränkt und die Rüge zunächst über die zuständige Stelle oder die Volksvertretung erfolge. Erst wenn diese interne Rüge ohne Erfolg bleibe, könne gegebenenfalls die Öffentlichkeit angerufen werden. Eine Ausnahme von dieser später als "Stufentheorie" bezeichneten Rangfolge internen und externen Whistleblowings mochte der BGH nur (aber immerhin) dann anerkennen, wenn es sich um die Aufdeckung schwerer, nicht nur unbedeutender Verstöße gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung handelte. Nur solche Verstöße könnten auch unmittelbar der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.

Pätsch half diese Rechtsprechung nur teilweise. Der BGH übernahm nämlich – wenig plausibel – die rechtliche Argumentation des Verfassungsschutzes, wonach die eigene Überwachungstätigkeit durch die alliierten Kontrollbefugnisse gedeckt gewesen sei. Immerhin aber berücksichtigte er die inneren Vorstellungen und Intentionen Pätschs und verurteilte ihn wegen vorsätzlicher Verletzung der Amtsverschwiegenheit lediglich zu vier Monaten Haft auf Bewährung.

Die hier entwickelte – und auch vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gebilligte – Stufentheorie prägt die Rechtsprechung zum Whistleblowing im demokratischen Staatswesen bis heute. Sie bringt für potenzielle Hinweisgeber vor allem das Problem mit sich, sich grundsätzlich zunächst intern und damit regelmäßig gerade bei denjenigen über die von ihnen angenommenen Missstände beschweren zu müssen, die sie für deren Urheber halten. Die Gefahr, den Tätern Gelegenheit zur Vertuschung zu geben, in der Institution kaltgestellt zu werden oder gar zum Opfer von Vergeltungsmaßnahmen zu werden, ist dabei offensichtlich. Auch dafür bot schon der Fall Pätsch entsprechendes Anschauungsmaterial. Seine Vorgesetzten waren nämlich wenigstens teilweise in ein Netzwerk ehemaliger Nationalsozialisten und SS- und Gestapoangehörigen verstrickt. Sich ihnen gegenüber über die von ihnen angeordneten Überwachungsmaßnahmen zu beschweren, erschien Werner Pätsch nicht zu Unrecht wenig aussichtsreich und gefährlich.

Das Hinweisgeberschutzgesetz und seine Defizite

Neuere Whistleblower-Schutzgesetze relativieren daher den rechtlichen Vorrang des internen Beschwerdeweges oder schaffen ihn gänzlich ab. Das gilt auch für die Whistleblower-Richtlinie der Europäischen Union, deren Umsetzung Deutschland erst unlängst und nur mit erheblicher Verspätung gelungen ist. Kern der Umsetzung ist das Hinweisgeberschutzgesetz vom 31. Mai 2023. Das Gesetz gilt dabei grundsätzlich nicht nur für Hinweisgeber aus dem Bereich der Privatwirtschaft. Hinweisgeberschutz wird vielmehr auch den Beamten oder sonstigen Beschäftigten der öffentlichen Hand garantiert. Außerdem sieht das Hinweisgeberschutzgesetz – wie von der EU-Richtlinie vorgegeben – für die Hinweisgeber eine grundsätzliche Wahlfreiheit vor: Sie können sich mit ihren Hinweisen zu möglichen Missständen an eine interne oder an eine externe behördliche Meldestelle wenden. Öffentliche Arbeitgeber werden verpflichtet, für von ihnen zu bestimmende Behörden oder Organisationseinheiten interne Meldestellen vorzusehen, die eigene Hinweismeldekanäle einzurichten und zu betreuen haben. Die internen Meldestellen sollen Hinweisen auf Missstände nachgehen, Kontakt mit den Hinweisgebern halten und bei begründetem Verdacht auf eine Korrektur der Missstände durch die zuständigen Stellen hinwirken. Der Bund errichtet darüber hinaus beim Bundesamt der Justiz eine externe Meldestelle, die organisatorisch getrennt und unabhängig einen eigenen externen Meldekanal für den Bereich der Bundesverwaltung betreibt. Neben Hinweisen an diese behördlichen internen oder externen Meldestellen erlaubt das Hinweisgeberschutzgesetz unter besonderen einschränkenden Bedingungen auch die Offenlegung der mutmaßlichen Missstände gegenüber der Öffentlichkeit.

All diese neuen Möglichkeiten des Whistleblowings in der öffentlichen Verwaltung werden aber durch die Regeln des Hinweisgeberschutzgesetzes über den Schutz von Staatsgeheimnissen entscheidend relativiert. Danach fällt eine Meldung oder Offenlegung dann nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes, wenn sie Informationen beinhaltet, die die nationale Sicherheit oder wesentliche Sicherheitsinteressen des Staates berühren. Ausgenommen werden auch alle Informationen von Nachrichtendiensten oder von Einrichtungen mit vergleichbar "sicherheitsempfindlichen" Aufgaben. Nicht umfasst sind zudem Informationen, die die Vergabe sicherheitsrelevanter öffentlicher Aufträge und Konzessionen betreffen.

Der deutsche Umsetzungsgesetzgeber beruft sich zur Rechtfertigung dieser weitreichenden Ausnahmen auf entsprechende Beschränkungen in der zugrundeliegenden EU-Richtlinie. In die Richtlinie sind diese Beschränkungen allerdings nicht aus inhaltlichen Gründen aufgenommen worden. Mit ihnen wird vielmehr allein auf die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten Rücksicht genommen. Weil der EU im Bereich des Schutzes der nationalen Sicherheit die Regelungszuständigkeit fehlt, muss sie auf entsprechende Vorgaben verzichten. Eine sachliche Rechtfertigung für den Bundesgesetzgeber, im Sicherheitsbereich nicht einmal die Einrichtung interner Meldestellen vorzusehen, ergibt sich daraus nicht. Für den Bereich der Nachrichtendienste wird dieses Defizit allerdings wenigstens teilweise durch die Möglichkeit kompensiert, sich mit Eingaben zu innerdienstlichen Missständen an das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages zu wenden.

Noch weitergehend nimmt das Hinweisgeberschutzgesetz alle Meldungen oder Offenlegungen insoweit grundsätzlich vom Schutz aus, als sie Verschlusssachen betreffen – also solche Informationen und Erkenntnisse, die von der Verwaltung selbst als geheimhaltungsbedürftig eingestuft worden sind. Gerade diese generelle Ausnahme von Verschlusssachen ist dazu geeignet, den Schutz der Hinweisgeber weithin auszuhebeln. Denn die Einstufung als Verschlusssache kann zum einfach zu gebrauchenden Instrument in der Hand derjenigen werden, die Missstände zu verbergen suchen. Die allzu großzügige Ausnahme des Hinweisgeberschutzgesetzes für Verschlusssachen droht damit einen weiteren Anreiz zu einer pauschalen und überzogenen Geheimhaltungsklassifizierung von Verwaltungsvorgängen zu setzen. Wie im US-amerikanischen Recht droht auch für Deutschland eine weitere Verstärkung des ohnehin schon zu beobachtenden Trends zur "Überklassifizierung". Schon heute ist der Bundesverwaltung der Überblick über die Zahl der als Verschlusssachen eingeordneten Dokumente verloren gegangen. Der potenzielle Missbrauch der Klassifizierung als Verschlusssache liegt auch deshalb nahe, weil die Kriterien für diese Einordnung überaus unbestimmt und wenig restriktiv ausgestaltet sind und die Einordnung selbst keiner hinreichend effektiven Kontrolle und Überprüfung unterliegt.

Zu alledem ist der Bundesgesetzgeber in einem bemerkenswerten Ausdruck restaurativer bürokratischer Geheimhaltungssehnsucht so weit gegangen, selbst für den schwächsten aller Geheimhaltungsgrade, "VS-Nur für den Dienstgebrauch", noch eine generelle Ausnahme vom Hinweisgeberschutz vorzusehen. Der in der Praxis zu beobachtende inflationäre Gebrauch dieser Verschlusssachenkategorie entwertet den Hinweisgeberschutz substanziell. Zwar sollen Informationen aus Dokumenten dieser niedrigsten Verschlusssachenkategorie wenigstens ausnahmsweise dem Hinweisgeberschutz unterfallen können. Auch dies soll aber nur für Hinweise auf strafbewehrte Verstöße gelten. Potenzielle Hinweisgeber müssen deshalb vorab die oft schwer zu beantwortende Frage nach der Strafbarkeit des von ihnen beobachteten Verhaltens klären. Auch wo ein strafbares Verhalten vorliegt, soll dann aber lediglich die Meldung an eine organisationsinterne Meldestelle zulässig sein. Auf die Effektivität solcher rein organisationsinternen Meldestellen ist aber nach den einschlägigen US-amerikanischen Erfahrungen nicht durchgängig Verlass. Der Bund traut der von ihm selbst beim Bundesamt der Justiz eingerichteten Meldestelle damit nicht einmal den verantwortungsvollen Umgang mit Verschlusssachen der niedrigsten Geheimhaltungsstufe zu. Auch eine Offenlegung der in Verschlusssachen dokumentierten Verstöße bleibt damit in jedem Fall ausgeschlossen.

Besserung

Mit dem Inkrafttreten des Hinweisgeberschutzgesetzes ist die europäisch forcierte Chance zu einer substanziellen Erweiterung der Möglichkeiten des Whistleblowings im staatlichen Gemeinwesen einstweilig weithin vertan. Vertan ist damit auch die Chance zu einer antibürokratischen, transparenzorientierten Stärkung der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung in Deutschland. Vertan ist schließlich die Gelegenheit zu einer Klärung und einfachgesetzlichen Konkretisierung der grundrechtlichen Aspekte des Whistleblowings. Anders als der US-Supreme Court hat nämlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon vor Jahren – in einer dem Pätsch-Fall nicht unähnlichen Konstellation – entschieden, dass die Offenlegung auch als "streng geheim" eingestufter Dokumente unter Umständen als von der Meinungsfreiheit geschützt anzusehen ist.

Künftige Verbesserungen des Hinweisgeberschutzgesetzes bleiben deshalb ein dringendes Desiderat. Kern dieser Reformen sollte die breite und effektive Zugänglichkeit einer zentralen Meldestelle für behördeninterne Missstände auf der Ebene des Bundes und der Länder sein. Die vom Hinweisgeberschutzgesetz in dieser Richtung unternommenen, nicht einmal halbherzig zu nennenden Schritte müssen mutig ausgreifend verstärkt werden. So muss den externen behördlichen Meldestellen die Kompetenz auch zur Prüfung von Informationen aus Verschlusssachen zugestanden werden. Die bloße Verschlusssachenklassifizierung darf künftig kein Instrument der Verschleierung behördlicher Missstände mehr sein. Zugleich sollte die Klassifizierungspraxis selbst kritisch hinterfragt und einer effektiven Kontrolle unterworfen werden. Und schließlich wären auch die Bedingungen zu klären, unter denen auch eine Offenlegung von staatlichem Fehlverhalten als grundrechtlich geschützter Dienst an der Gemeinschaft anzuerkennen ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. den Nachruf auf Ellsberg von Michael Sontheimer, "Whistleblower sind Helden", 17.6.2023, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-5e41331e-bed7-410e-86cf-ef666049dad1.

  2. Zum Begriff des Verrats im US-amerikanischen Kontext vgl. J. Richard Broughton, The Snowden Affair and the Limits of American Treason, in: Lincoln Memorial University Law Review 3/2015, S. 5–35. Zur Ethik der Täter und ihrer Taten siehe Candice Delmas, The Ethics of Government Whistleblowing, in: Social Theory and Practice 1/2015, S. 77–105; Patrick D. Anderson, On Moderate and Radical Government Whistleblowing: Edward Snowden and Julian Assange as Theorists of Whistleblowing Ethics, in: Journal of Media Ethics 3/2022, S. 38–52.

  3. Vgl. z.B. Markus C. Schulte von Drach, Mit einem 100 Jahre alten Gesetz gegen Whistleblower, 15.6.2017, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.3544419.

  4. Kritisch dazu Lindsay B. Barnes, The Changing Face of Espionage: Modern Times Call for Amending the Espionage Act, in: McGeorge Law Review 3/2014, S. 511–542; James Risen, Rashida Tlaib is Trying to Fix the Espionage Act, But Whistleblowers are Probably Out of Luck, 12.7.2022, Externer Link: https://theintercept.com/2022/07/12/whistleblower-espionage-act-reform; Brit McCandless Farmer, Reality Winner and the Debate over the Espionage Act, 24.7.2022, Externer Link: http://www.cbsnews.com/news/reality-winner-espionage-act-60-minutes-2022-07-24.

  5. Für einen internationalen Vergleich der verschiedenen Schutzregime siehe Kim Loyens/Wim Vandekerckhove, Whistleblowing From an International Perspective: A Comparative Analysis of Institutional Arrangements, in: Administrative Science 3/2018, S. 30–45.

  6. Zur Rechtslage in den USA siehe Mary-Rose Papandrea, Leaker Traitor Whistleblower Spy: National Security Leaks and the First Amendment, in: Boston University Law Review 94/2014, S. 449–544; Jason Zenor, Damming the Leaks: Balancing National Security, Whistleblowing and the Public Interest, in: Lincoln Memorial University Law Review 3/2015, S. 61–90.

  7. Vgl. Barnes (Anm. 4), S. 538.

  8. Vgl. zu dieser Kritik Webers und ihrer historischen Bedeutung Bernhard W. Wegener, Der Geheime Staat. Arkantradition und Informationsfreiheitsrecht, Göttingen 2006, S. 347–352, Externer Link: http://www.oer2.rw.fau.de/files/2023/06/Habil.pdf.

  9. Für einen (bislang vergeblich gebliebenen) Versuch, den aus dem Recht auf freie Meinungsäußerung des First Amendment folgenden Schutz der Presseberichterstattung auch auf die Whistleblower selbst zu erstrecken, siehe Papandrea (Anm. 6), S. 512ff.

  10. Vgl. dazu Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Spiegel-Affäre 1962 – ein Versagen der Justiz?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 8/2012, S. 225–229.

  11. Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), 1 BvR 586/62, 610/63 und 512/64, 5.8.1966 – Spiegel. Zwar wies das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des "Spiegel" gegen die Durchsuchung seiner Redaktionsräume und die Beschlagnahme von Dokumenten mit denkbar knapper Mehrheit zurück. Die Entscheidung enthielt aber auch eine eingehende Würdigung der Bedeutung der Pressefreiheit im demokratischen Rechtsstaat und der sich daraus ergebenden Garantien.

  12. Ossietzky kann als Journalist sicher nicht als Whistleblower im engeren Sinne angesehen werden. Die hier entscheidende Intention der Aufdeckung staatlicher Missstände erlaubt aber eine solche Zuordnung. Bezeichnenderweise wurde auch Edward Snowden 2014 von der Internationalen Liga der Menschenrechte mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet. Vgl. dazu Julian Dörr/Verena Diersch, Zur Rechtfertigung von Whistleblowing: Eine ordnungsethische und legitimationstheoretische Perspektive der Whistleblower-Fälle Carl von Ossietzky und Edward Snowden, in: Zeitschrift für Politik 4/2017, S. 468–492.

  13. Vgl. David Johst, Whistleblower Werner Pätsch – Der Edward Snowden der Sechziger, 7.11.2013, Externer Link: http://www.zeit.de/2013/46/abhoer-affaere-werner-paetsch-1963.

  14. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 4/46 vom 8.11.1962, S. 2017f.

  15. Vgl. Gutes Gewissen, 17.9.1963, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-7e9f3625-0002-0001-0000-000046172002.

  16. BGH, 8 StE 1/65, 8.11.1965, z.B. in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1966, S. 1227ff. – Pätsch.

  17. Die rechtspolitische Beurteilung der BGH-Entscheidung war schon seinerzeit hoch umstritten. Vgl. z.B. Adolf Arndt, Die Kunst im Recht, in: NJW 1966, S. 25–28; Pätsch-Urteil – Wägen, wägen, 20.3.1966, Externer Link: http://www.spiegel.de/a-a91a9b8a-0002-0001-0000-000046266055; Wolfgang Zillmer, Ist die Preisgabe illegaler Staatsgeheimnisse strafbar?, in: NJW 1966, S. 910ff. Sie ist es bis heute geblieben. Vgl. einerseits Johst (Anm. 13, "Bruch mit der staatsautoritären Tradition"), andererseits Robert Brockhaus/Simon Gerdemann/Christian Thönnes, Immer noch lückenhaft. Zum aktuellen Regierungsentwurf für ein Whistleblower-Schutzgesetz, 8.8.2022, Externer Link: https://verfassungsblog.de/immer-noch-luckenhaft ("restriktive Pätsch-Rechtsprechung").

  18. Vgl. BVerfG, 1 BvR 690/65, 28.4.1970 – Pätsch. Zu den verfassungsrechtlichen Aspekten siehe Jan-Philipp Redder, Der verfassungsrechtliche Schutz von Whistleblowern, Berlin 2020.

  19. Vgl. Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, BGBl. 2023 I Nr. 140 v. 2.6.2023.

  20. Vgl. hierzu Robert Brockhaus/Simon Gerdemann/Christian Thönnes, Alles unter Verschluss. Zur Rolle von Verschlusssachen bei der Umsetzung der Whistleblowing-Richtlinie, 7.1.2021, Externer Link: https://verfassungsblog.de/alles-unter-verschluss; dies. (Anm. 17).

  21. Bemerkenswert ist dies nicht zuletzt im Vergleich zu den weitaus deutlicheren Schutzbestimmungen und Transparenzambitionen im Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen für ein Whistleblower-Schutzgesetz von 2018, vgl. hierzu BT-Drs. 19/4558.

  22. Vgl. Papandrea (Anm. 6), S. 473, S. 493, S. 542f.; Shirin Sinnar, Protecting Rights from Within? Inspectors General and National Security Oversight, in: Stanford Law Review 65/2013, S. 1027–1086; Zenor (Anm. 6), S. 83.

  23. Eine eindeutige Stellungnahme des US-Supreme Courts zu dieser Frage mag ungeachtet Garcetti v. Ceballos, 547 U.S. 410 (2006), noch ausstehen, aber wie Papandrea (Anm. 6, S. 512ff.) zu Recht ausführt, erscheint dessen bisherige Rechtsprechung in diesem Kontext "admittedly not promising".

  24. EGMR, 40238/02, 8.1.2013 – Bucur und Toma v. Rumänien. Zur Notwendigkeit der Anpassung des deutschen und europäischen Rechts an diese Judikatur mit Blick auf das Whistleblowing im nicht-staatlichen Bereich siehe Frank Meyer, LuxLeaks, Cum-Ex & Co. Neue Leitlinien des EGMR für Whistleblowing in transnationalen Kontexten und gesetzgeberischer Handlungsbedarf, in: Juristenzeitung 7/2023, S. 261–270.

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