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Variationen der Pandemiebekämpfung | Weltgesundheit | bpb.de

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Variationen der Pandemiebekämpfung Staatliche Handlungsstrategien gegen Covid-19

Thomas Gerlinger

/ 18 Minuten zu lesen

In den vergangenen Jahrzehnten war zumindest im wohlhabenden Teil der Welt kein Land von einer sich derart rasch ausbreitenden Infektionskrankheit mit einem so großen Bedrohungspotenzial wie Covid-19 betroffen. Die Bekämpfung der Pandemie erfolgte – wie zumeist bei Infektionskrankheiten – unter hohem Zeitdruck und unter den Bedingungen großer Unsicherheit. Der hohe Zeitdruck resultierte aus der leichten Übertragbarkeit des Virus und dem potenziell gefährlichen Krankheitsverlauf, die große Unsicherheit aus dem unzureichenden Wissen über das Virus. Letztere betraf vor allem die Übertragungswege, etwa die Rolle von Tröpfchen- und Schmierinfektion sowie von Aerosolen, und die Infektiosität des Virus, etwa den Zusammenhang von leichtem Krankheitsverlauf bei Kindern und Übertragbarkeit durch Kinder sowie die Dauer der Infektiosität von Infizierten. Damit war es auch nur schwer möglich, eine wissensbasierte Antwort auf die Frage nach geeigneten Präventionsmöglichkeiten zu geben, zum Beispiel nach dem sicheren Abstand zu Infizierten, dem Sinn eines Mund-Nasen-Schutzes und einer Schließung von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sowie der Dauer einer Quarantäne von Infizierten. Antworten auf diese Fragen waren – und sind in vielen Fällen heute noch – umstritten oder haben sich im Zeitverlauf geändert.

Die Ausgangssituationen zur Eindämmung der Pandemie und zur Begrenzung ihrer gesundheitlichen Folgen waren und sind von Land zu Land unterschiedlich. Dies betraf sowohl die Übertragungsgeschwindigkeit und die Verbreitungswege des Virus als auch die Präventionsmöglichkeiten. In Ländern und Regionen mit einer hohen Bevölkerungsdichte beziehungsweise einem hohen Bevölkerungsanteil in Ballungsgebieten und einer hohen räumlichen Mobilität verbreitet sich ein Virus im Allgemeinen schneller als in ländlichen. Auch Lebensformen, also die Rolle der Familie, die Integration von Alten in die Gesellschaft oder der Anteil von Single-Haushalten, und vor allem das Ausmaß von Armut in einer Gesellschaft, beispielsweise beengte Wohnverhältnisse oder die Angewiesenheit auf öffentliche Verkehrsmittel, können Einfluss auf die Verbreitung eines Virus und die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen haben. Die personelle und technische Ausstattung der für die öffentliche Gesundheit zuständigen Einrichtungen beeinflusst die Chancen, die Bevölkerung bei der Eindämmung des Virus zu unterstützen, die Einhaltung von Bestimmungen zu kontrollieren oder die Nachverfolgung potenziell Infizierter zu gewährleisten. Schließlich hängen die Sterbequote und die Häufigkeit schwerer Krankheitsverläufe auch davon ab, wie gut das medizinische Versorgungssystem auf die Behandlung einer großen Zahl Schwerstkranker vorbereitet ist.

Die Gesundheitssysteme sahen sich also mit der Herausforderung konfrontiert, auf unterschiedlichsten Feldern geeignete, auf die spezifischen Probleme zugeschnittene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu treffen.

Maßnahmen gegen die Pandemie

Wohl für alle Länder gilt, dass die Dynamik der weltweiten Virusübertragung anfangs unterschätzt wurde. Die Regierungen in Europa stuften die von dem neuen Virus ausgehende Gefahr im Frühjahr 2020 überwiegend als gering ein. Erst dramatische Bilder aus Norditalien, wenig später aus Spanien und auch aus Frankreich, sowie steigende Infektionszahlen veranlassten die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in anderen Ländern, rasch drastische Maßnahmen zu ergreifen. Viele Regierungen verfügten anschließend einen sogenannten Lockdown, also die weitgehende Schließung von Einrichtungen und Geschäften sowie Kontaktverbote oder weitreichende Kontaktbeschränkungen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Dies wurde begleitet von Maßnahmen zur Bereitstellung von Kapazitäten zur Behandlung der erwarteten hohen Zahl an Schwerstkranken, also Intensivbetten, Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung für das medizinische Personal.

Allerdings unterschieden sich die eingeschlagenen Handlungsstrategien, die im Folgenden anhand ausgewählter Gesundheitssysteme, auf die sich die Augen der Weltöffentlichkeit in besonderer Weise gerichtet haben, knapp charakterisiert werden sollen. Über den Erfolg der eingeschlagenen Strategien lassen sich nur mit großen Einschränkungen Aussagen treffen. Denn erstens sind die Statistiken nicht international vergleichbar. Die erfassten Infektionen beruhen auf unterschiedlichen Testhäufigkeiten, und die Zahl der Sterbefälle wird nicht nach international einheitlichen Kriterien ermittelt, sodass die Daten keine Antwort auf die Frage nach der tatsächlichen Ausbreitung des Virus geben. Zweitens ist es schwierig, einzelnen Maßnahmen bestimmte Effekte zuzuordnen. Drittens unterscheiden sich die sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen in den Staaten erheblich. Viertens ist die Pandemie noch nicht beendet und lassen sich aus der bisherigen Entwicklung keine Prognosen ableiten: Manche Länder, die im Frühjahr schwer von der Pandemie getroffen wurden, scheinen die Neuinfektionen im Frühherbst besser in den Griff bekommen zu haben, zum Beispiel Italien und mit etwas Zeitverzögerung auch Schweden; andere verzeichnen erneut, wie Spanien und Frankreich, oder erstmals, wie Israel, einen starken Anstieg.

Südkorea: Ein "Musterland"

Südkorea gilt weltweit als ein Vorbild bei der Covid-19-Bekämpfung. Nachdem sich aufgrund zweier Hotspots die Zahl der Infizierten im Land rasch erhöht hatte, intervenierte die Regierung sehr schnell mit einer Kombination aus Maßnahmen. In deren Zentrum stand eine außerordentlich große Zahl von Tests, mit deren Hilfe Infizierte identifiziert und isoliert werden konnten. Das war möglich, weil die Regierung auf rund 600 moderne Testzentren zurückgreifen konnte, die über eine Kapazität von etwa 15.000 bis 20.000 Tests pro Tag verfügten. Eine aufwendige, akribische Nachverfolgung durch mehrere Hundert eigens eingestellte und geschulte Fachkräfte trug dazu bei, Kontaktpersonen von Infizierten ebenfalls schnell ausfindig zu machen und testen zu können, auch wenn sie symptomlos waren. Dabei wurden zahlreiche Datenquellen genutzt, unter anderem auch Kreditkartenabrechnungen und die Aufzeichnungen von Überwachungskameras. Ferner wurden Tests in sensiblen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Pflegeheimen durchgeführt.

Schließlich setzte Südkorea stark auf den Einsatz moderner Informationstechnologie. Über verschiedene Apps und per SMS konnten die Bürger vor Infektionsfällen in ihrer näheren Umgebung gewarnt und auf mögliche Kontakte mit infizierten Personen hingewiesen werden. Allerdings lässt sich kaum feststellen, welche Rolle die digitale Infrastruktur bei der Pandemieeindämmung tatsächlich gespielt hat.

Im Ergebnis sank die Zahl der Neuinfektionen schnell und drastisch. Parallel wurden, wie in anderen Ländern auch, die Behandlungskapazitäten erhöht und zusätzliche Schutzausrüstungen für Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal beschafft. Auf diese Weise bekam das Land die Pandemie im Frühjahr 2020 bald in den Griff. Insgesamt ist die Zahl der Covid-19-Toten in Korea im weltweiten Vergleich sehr gering.

Ein wichtiger Grund für die schnelle und effektive Reaktion lag darin, dass Südkorea nach seinen Schwierigkeiten bei der Eindämmung der SARS-Epidemie 2013 und der MERS-Epidemie 2015 eine Reihe von Reformen umgesetzt hatte, um besser auf eine neue Epidemie vorbereitet zu sein. Dazu zählten die Weiterentwicklung von Notfallplänen und der starke Ausbau der Testkapazitäten. Die Erfahrung dieser beiden Epidemien dürfte auch die südkoreanische Bevölkerung in ihrer Disziplin bei der Einhaltung der Vorgaben bestärkt haben. Zu den geringen Infektionszahlen wird ebenfalls beigetragen haben, dass sich die Außengrenzen des Landes angesichts seiner geografischen Lage leicht überwachen lassen und daher die Einreise aus Risikogebieten kaum eine Rolle gespielt hat. Darüber hinaus verfügt Südkorea über ein personell und infrastrukturell gut ausgestattetes Gesundheitssystem und eine funktionierende Krankenversicherung. Südkorea hat die Erfolge in der Pandemiebekämpfung erzielt, ohne auf einen "Lockdown" wie in Teilen Europas zurückgreifen zu müssen. Zwar wurden Schulen und Universitäten geschlossen sowie größere Veranstaltungen verboten. Behörden, Geschäfte, Restaurants, Bars und Cafés blieben aber geöffnet. Südkorea orientierte sich mit seinem Vorgehen eng an den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die das Land dafür auch als weltweit vorbildlich rühmte.

Schweden: Ein Sonderweg

Schwedens Strategie hat weltweit Beachtung gefunden, weil sie deutliche Unterschiede zu denen anderer wohlhabender Staaten aufweist. Ähnlich wie viele andere Länder verfolgte Schweden das Ziel, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, und erhöhte die Kapazitäten für eine intensivmedizinische Versorgung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten erheblich. Die Einschnitte in das wirtschaftliche und soziale Leben fielen aber nicht so hart aus wie in vielen anderen Ländern Europas. Die schwedische Regierung setzte im Vertrauen auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger vor allem auf Empfehlungen und Appelle. Dazu zählten Empfehlungen zur persönlichen Hygiene (Niesetikette, Händewaschen), zur Beachtung eines sicheren Abstands zu anderen Personen sowie Hinweise, möglichst von zu Hause aus zu arbeiten und sich bei Krankheitsanzeichen in Quarantäne zu begeben. Eine Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, eine Schließung von Geschäften oder von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen erfolgte bisher nicht. Allerdings wurden ein Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen, ein landesweites Besuchsverbot in Pflegeheimen sowie Abstandsregelungen in Gaststätten verfügt.

Die Gründe für die weniger restriktive Strategie Schwedens sind unterschiedlich. Im Zentrum steht der hohe Stellenwert individueller Freiheit in der schwedischen Gesellschaft, der besonders hohe Hürden für die Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen mit sich bringt. Ferner spielen pragmatische Gründe eine wichtige Rolle. Die Regierung geht davon aus, dass Appelle an die Eigenverantwortung auf größere Akzeptanz stoßen sowie besser und vor allem auch langfristiger befolgt werden als Zwangsmaßnahmen. Daher halten die Verantwortlichen diese Strategie auch für nachhaltiger. Ferner gibt es Zweifel an der Wirksamkeit eines "Lockdowns", eines Mund-Nasen-Schutzes und von Reisebeschränkungen. Den Verzicht auf die Schließung von Kindertagesstätten und Grundschulen begründeten die Verantwortlichen mit den Nebenwirkungen dieser Maßnahme vor allem mit Blick auf sozial benachteiligte Kinder und die Berufstätigkeit der Eltern, insbesondere der Mütter. Anders als gelegentlich dargestellt, zielte die schwedische Regierung mit dem Teilverzicht auf Zwangsmaßnahmen nicht auf Herdenimmunität, also auf die Immunisierung eines Großteils der Bevölkerung – Schätzungen gehen von rund 60 Prozent aus – nach überstandener Infektion mit dem Virus, sondern betrachtete diese als einen möglichen Nebeneffekt. Auch war ihr Vorgehen nicht verknüpft mit einer Verharmlosung des Virus.

Ob die schwedische Strategie erfolgreich ist, lässt sich gegenwärtig nicht abschließend beurteilen. Den schwedischen Bürgerinnen und Bürgern wird im Allgemeinen eine große Disziplin attestiert, die zu ähnlichem Verhalten geführt habe wie in Ländern mit einem strengen "Lockdown". So sei der Aufenthalt am Arbeitsplatz ebenso wie die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs deutlich zurückgegangen. Im Frühjahr blieben die Infektionszahlen und die Sterbefälle in Schweden, bezogen auf die Bevölkerungszahl, hinter denen der besonders schwer betroffenen Länder Südeuropas und Großbritanniens zurück, war aber um ein Vielfaches höher als in anderen skandinavischen Ländern und in Deutschland. Zur Erklärung verwiesen die Verantwortlichen auf den sehr hohen Anteil von Sterbefällen in Pflegeheimen, auf die mehr als die Hälfte aller Covid-19-assoziierten Sterbefälle entfiel. Hier seien die Verantwortlichen in den Regionen nicht ausreichend vorbereitet gewesen. Im September und Oktober 2020, als die Infektionszahlen in den meisten Ländern Europas wieder stark anstiegen, verzeichnete Schweden im EU-Vergleich unterdurchschnittliche Zahlen an positiv getesteten Personen und Sterbefällen. Auch die Zahl der Covid-19-Intensivpatientinnen und -patienten stabilisierte sich auf niedrigem Niveau. So wurden die geschaffenen intensivmedizinischen Versorgungskapazitäten nicht genutzt und waren auch zu den Spitzenzeiten der Infektionsverbreitung nicht ausgelastet.

Großbritannien: "Lockdown" nach Laisser-faire

Großbritannien wurde später von der Pandemie getroffen als die Länder Süd-, West- und Nordeuropas. Die britische Regierung setzte zunächst auf die Strategie der Herdenimmunität und griff nicht zu einschneidenden Maßnahmen. Allerdings ist eine solche Strategie im Hinblick auf eine Infektionskrankheit wie Covid-19 allein aus ethischer Perspektive höchst fragwürdig, denn man setzt damit die gesamte Bevölkerung und insbesondere die bekannten Risikogruppen der Gefahr eines schwerwiegenden Krankheitsverlaufs, langwieriger oder bleibender Gesundheitsschäden und oder sogar des Sterbefalls aus. Zudem ist unsicher, ob und wie lange infizierte Personen tatsächlich immun sind und damit die Infektion nicht weitertragen können.

Entsprechend stieß diese Strategie auf deutliche Kritik, auch im Lichte sehr hoher Sterbezahlen durch das Virus. In einem offenen Brief forderten mehr als 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am 14. März 2020 die Regierung zu entschlossenen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus auf. Recht bald schwenkte die Regierung auf die in den meisten Ländern Kontinentaleuropas verfügten Schließungen von Behörden und Geschäften, das Verbot größerer Veranstaltungen, Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote und -einschränkungen um. Ein wichtiges Motiv war auch hier das Bestreben, den National Health Service (NHS), der aufgrund seiner chronischen Unterfinanzierung besonders schlecht auf einen solchen Krisenfall vorbereitet war, mit der Behandlung schwerkranker Covid-19-Patientinnen und -Patienten nicht zu überfordern. Parallel war die Regierung bemüht, die intensivmedizinischen Versorgungskapazitäten auszuweiten. Außerdem wurden die Testkapazitäten stark erhöht. Jedoch wiesen die Zahlen der Neuinfektionen und der Todesfälle in den folgenden Wochen weiterhin steil nach oben.

Anfang Mai 2020 stellte die Regierung einen stufenweisen Ausstieg aus dem "Lockdown" vor. Er sah erste Lockerungen von Ausgangsbeschränkungen und die Erlaubnis von Aktivitäten im Freien vor. Im Sommer wurden Schulen und Geschäfte sowie Restaurants und Cafés wieder geöffnet. Nachdem die Infektionszahlen im Herbst 2020 wieder deutlich anstiegen, griff die Regierung erneut zu Einschränkungen, etwa mit einer Sperrstunde für Pubs und Restaurants.

Die Covid-19-Strategie der britischen Regierung wurde in Großbritannien selbst scharf kritisiert. Vor allem sei der "Lockdown" zu spät erlassen worden. Der damalige Regierungsberater Neil Ferguson ging davon aus, "dass mindestens die Hälfte der mehr als 45500 Sterbefälle in Großbritannien hätten verhindert werden können, wäre der Lockdown im März eine Woche früher durchgesetzt worden". Die Lockerungsmaßnahmen kritisierten viele wiederum als voreilig, widersprüchlich und unklar. Zudem galten sie nur für England, nicht aber für Schottland, Wales und Nordirland, die zunächst am "Lockdown" festhielten. Großbritannien zählte im Herbst 2020 neben Spanien, Italien und Frankreich zu den am schwersten von der Pandemie betroffenen Ländern in Europa.

USA und Brasilien: Zentralstaatliche Verharmlosung und föderaler Flickenteppich

Die USA und Brasilien sind Staaten, deren Verfasstheit, ökonomische Leistungsfähigkeit und Gesundheitssysteme höchst unterschiedlich sind. Dessen ungeachtet sind sie mit ihren Staatschefs Donald Trump und Jair Bolsonaro besonders markante Beispiele für Länder, in denen die Regierungen Covid-19 verharmlosen. In Europa war in dieser Hinsicht der britische Premierminister Boris Johnson ein Verwandter im Geiste. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade diese drei Staats- und Regierungschefs sich mit ihrem demonstrativen Verzicht auf persönliche Schutzmaßnahmen mit Covid-19 infizierten.

Allerdings stehen die USA und Brasilien auch dafür, dass die nationalen Regierungen in föderal organisierten Staaten einen beschränkten Einfluss auf den Umgang mit der Pandemie haben, weil die Zuständigkeit für Maßnahmen zur öffentlichen Gesundheit bei den jeweiligen Bundesstaaten liegt. Vielfach verfolgten die Bundesstaaten in beiden Ländern eine eigene Strategie und griffen zu "Lockdown"-Maßnahmen. In den USA waren dies Bundesstaaten mit Gouverneuren der Demokratischen Partei. Bisweilen griffen auch republikanische Gouverneure zu einschneidenden Maßnahmen, oft allerdings erst dann, wenn dies angesichts der Infektionslage alternativlos war. Auch in Brasilien ergriffen Gouverneure in besonders stark von der Pandemie betroffenen Gebieten zu entsprechenden Maßnahmen. Dies führte zu einem unübersichtlichen Flickenteppich.

Eine landesweite Koordination föderaler Maßnahmen, wie sie in Deutschland stattfand, hat es bisher weder in den USA noch in Brasilien gegeben. Stattdessen führten die Staatschefs persönlich und ihre Regierungen insgesamt nachgerade einen Kulturkampf über den Umgang mit dem Virus: Sie verurteilten Schließungen, Kontakteinschränkungen und -verbote scharf und riefen die Bevölkerung in den betroffenen Bundesstaaten zu Protest und Widerstand gegen solche Auflagen auf.

Die Verharmlosung des Virus und der partielle Verzicht auf rigorose Prävention werden in beiden Ländern ergänzt durch eine extreme soziale Ungleichheit und eine unzureichende medizinische Versorgungsinfrastruktur, die vor allem sozial Benachteiligten den Zugang zu einer angemessenen Versorgung erschwert oder gar verwehrt. So erreichten die USA und Brasilien weltweit Spitzenwerte bei den Infektionszahlen, den Zahlen der im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen und der Zahl der Sterbefälle im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Auch wenn diese Indikatoren nur eingeschränkt vergleichbar und daher mit Vorsicht zu interpretieren sind, gibt es doch keinen Zweifel darüber, dass ein erheblicher Teil der Infektionen und der Todesfälle bei einer konsequenteren Prävention und einer besseren Ausstattung des medizinischen Versorgungssystems vermeidbar gewesen wäre.

Nationalstaatlicher Egoismus

In der Reaktion auf die Pandemie dominierten weltweit nationale Egoismen. Unter Zeitdruck gingen die Nationalstaaten eigene Wege und ergriffen diejenigen Maßnahmen, die sie in ihrem Interesse für geboten hielten. In der Not war sich jeder selbst der Nächste. Dies betraf die Schließung von Grenzen, den Kauf von Schutzausrüstung und Medikamenten und die Sicherung des Zugriffs auf einen Impfstoff.

Augenfällig werden diese nationalen Alleingänge auch am Beispiel der EU. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) weist der EU unter anderem die Aufgabe zu, die Mitgliedsstaaten bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren – und darum handelt es sich bei der Covid-19-Pandemie ohne Zweifel – zu unterstützen und deren Handeln zu koordinieren. Der AEUV hätte somit den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit eröffnet, der EU eine stärkere Rolle bei der Eindämmung der Pandemie zuzuweisen oder Entscheidungen darüber gemeinsam auf EU-Ebene zu treffen. Dazu ist es jedoch nicht gekommen, und daher spielte die EU insbesondere im Frühjahr 2020 eine Nebenrolle. Es waren ausschließlich die Nationalstaaten, die die Entscheidungen über die Maßnahmen für ihr Territorium trafen. Dies traf selbst auf einen Kernbereich der EU-Identität zu, den freien Personenverkehr im Binnenmarkt. Die EU-Mitgliedsstaaten verhängten Einreiseverbote allein nach Maßgabe nationalstaatlicher Opportunitäten und ohne Rücksprache mit den zuständigen EU-Institutionen.

Zwar gab es über die Konferenz der Gesundheitsministerinnen und Gesundheitsminister auch EU-weite Koordinierungsversuche, es kam zu einer Reihe von Vereinbarungen, und die EU-Kommission leitete ebenfalls Maßnahmen ein. Allerdings betraf dies kaum die unmittelbaren Schritte zur Pandemiebekämpfung, sondern ganz überwiegend mittelbare Aktivitäten wie die Finanzierung der Forschung zur Entwicklung eines Impfstoffs. Parallel dazu gingen die Nationalstaaten aber auch auf diesen Gebieten eigene Wege. Dieser Egoismus bringt auch zum Ausdruck, dass die Nationalstaaten die Gefährdung als hoch einstuften und schnelles Handeln angezeigt war. Beides sind offenkundig Bedingungen, die nicht ausreichend Raum lassen für eine zumeist zeitaufwendige Koordination. Dass es auch Beispiele internationaler Solidarität gab, etwa die Hilfe Deutschlands bei der Versorgung von Schwerstkranken aus anderen EU-Staaten, widerspricht dem Befund eines dominanten nationalstaatlichen Egoismus nicht.

Bestimmungsfaktoren der Strategiewahl

Für eine Erklärung der Variationen der Pandemiebekämpfung ist es noch viel zu früh. Ganz offenkundig müssen dazu unterschiedliche Faktoren herangezogen werden. Eine Kausalität oder Pfadabhängigkeit der gewählten nationalen Strategien von den Eigenschaften des jeweiligen Gesundheitssystemtypus ist jedenfalls nicht zu erkennen. Es gibt keinen Mechanismus, der ein soziales Krankenversicherungssystem, einen nationalen Gesundheitsdienst oder ein regionalisiertes staatliches Gesundheitssystem für die eine oder andere Eindämmungsstrategie prädestiniert hätte.

Die hier vorgestellten Beispiele lassen den Schluss zu, dass, so eine erste These, die Reaktionen auf die Pandemie stark von den politischen Präferenzen und ideologischen Einstellungen der Regierungen sowie von ihrer Einschätzung des Handlungsdrucks und der Akzeptanz von Maßnahmen bestimmt wurde. Die Entscheidungen über die Eindämmungsmaßnahmen waren von Anfang an auf höchster politischer Ebene angesiedelt, also Sache von Regierungskabinetten, Staats- und Regierungschefs – entweder auf der Ebene des Gesamtstaats oder seiner für die öffentliche Gesundheit zuständigen Untergliederungen. Denn die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung waren und sind von großer Relevanz für die Bevölkerungsgesundheit sowie von erheblicher gesellschaftspolitischer und volkswirtschaftlicher Tragweite.

Die Länderanalysen deuten darauf hin, dass offenkundig solche Regierungen, die eine besonders starke Präferenz für wirtschaftspolitischen Liberalismus und Deregulierung haben, eine große Abneigung gegenüber Eingriffen zur Pandemieeindämmung an den Tag legten, wenn sie wirtschaftliche Einschnitte mit sich bringen würden. Dafür stehen die Beispiele USA, Brasilien und auch Großbritannien. Großbritannien schwenkte erst nach dem starken Anstieg der Infektionszahlen und massiver öffentlicher Kritik auf restriktivere Maßnahmen um. Hier mag neben dem Gesundheitsmotiv auch die Einsicht, dass eine nachhaltige Wirtschaftsbelebung erst nach Überwindung der Pandemie zu erwarten sein würde, eine Rolle gespielt haben. Eine solche Handlungsrationalität hat sich wiederum in den Regierungen der USA und Brasiliens bisher nicht durchgesetzt. Das Vorgehen der schwedischen Regierung hat zwar auch einen ideologischen, inhaltlich aber ganz anderen Hintergrund, weil hier eine Tradition demokratischer Freiheitsrechte im Mittelpunkt steht. Sie wurde begleitet von der Überzeugung, dass Zwangsinstrumente sich nur bedingt für die Pandemiebekämpfung eignen, sowie von einer Reihe fachlich-pragmatischer Überlegungen.

Zu Letzteren gehörte nicht nur in Schweden, sondern in vielen anderen Ländern auch, die Frage nach der Akzeptanz etwaiger Maßnahmen in der Bevölkerung. Mit dem Rückgang der Infektionszahlen und der Sterbefälle nach dem "Lockdown" im Frühjahr erodierte in vielen Ländern auch die zunächst sehr große Zustimmung zu harten Einschnitten ("Präventionsparadox"). Auch dies dürfte die seit Mai 2020 in vielen Ländern vorgenommenen Lockerungen forciert haben. Seither ist der Legitimationsdruck für Eingriffe in das soziale und wirtschaftliche Leben gestiegen. Der neuerlichen Zunahme der Infektionszahlen im Herbst 2020 wollen politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in vielen Gesundheitssystemen nun durch gezielte Maßnahmen entgegenwirken. Ein weiterer allgemeiner "Lockdown" wird weithin als das letzte Mittel der Wahl betrachtet. Eine Nachverfolgung von Kontakten, wie sie in Südkorea praktiziert worden ist, wäre in Schweden, Großbritannien oder in anderen Staaten Nord-, West- und wohl auch Südeuropas kaum durchsetzbar gewesen.

Ungeachtet der auch ökonomischen Motive lässt sich feststellen, dass die Bevölkerungsgesundheit bei der Pandemiebekämpfung in vielen Gesundheitssystemen das zentrale Handlungsmotiv darstellt. Wohl kaum jemals zuvor kam politisches Handeln dem WHO-Leitbild "Health in all Policies", also der Vorstellung, dass sich das Ziel "Gesundheit" in allen Politikfeldern niederschlagen solle, so nahe wie in den ersten Wochen der Pandemie. Kaum jemals zuvor ist auch wissenschaftliche Expertise – vor allem aus der Virologie und der Epidemiologie – in Öffentlichkeit und Politik auf eine derart große Aufmerksamkeit gestoßen. Wissenschaftliche Befunde sind für das Alltagshandeln und für die politische Entscheidungsfindung gerade in einer Situation hohen Zeitdrucks und verbreiteter Unsicherheit wichtige Orientierungspunkte. Freilich zählen die USA und Brasilien auch in dieser Hinsicht zu den Ausnahmen.

Ausblick

Die betrachteten Gesundheitssysteme haben ihre Struktur und Organisation im Zuge der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie bewahrt. Wie erfolgreich die einzelnen Systeme dabei waren, lässt sich zurzeit noch nicht beurteilen, zumal der Erfolg auch von Faktoren abhängt, die sie nicht direkt beeinflussen können. Die Covid-19-Pandemie hat viele Gesundheitssysteme ohne eine angemessene Vorbereitung getroffen. Dabei geht es nicht nur um den Mangel an Schutzausrüstung, Testkapazitäten, Medikamenten und Notfallplänen. Die Pandemie legte auch Schwächen in der Struktur und Funktionsweise von Gesundheitssystemen offen, auch wenn diese in vielen Fällen bereits bekannt waren: die unzureichende Ausstattung mit geeigneten Versorgungskapazitäten, die Schwierigkeiten sozial Benachteiligter beim Zugang zur medizinischen Versorgung, die Wirksamkeit des Schutzes von Risikogruppen, nicht zuletzt auch von sozial Schwachen, eine verbreitete Unterfinanzierung der Gesundheitssysteme und manches andere mehr. Mängel traten auch in anderen Systemen zutage: in Deutschland die Vernachlässigung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, in Frankreich der ausgeprägte Zentralismus der Entscheidungsstrukturen, in Spanien der drastische Rückbau der Gesundheitsversorgung im Zuge der Finanzkrise. Die Liste ließe sich fortsetzen. In manchen Ländern wurden Schritte zur Behebung von Mängeln angekündigt, in anderen erste Maßnahmen verabschiedet. Die Covid-19-Pandemie mag die Einsicht in die Notwendigkeit der Verbesserung von Gesundheitssystemen befördert haben. Es ist aber auch darauf hinzuweisen, dass sich mit ihren ökonomischen Auswirkungen die Chancen auf eine ausreichende Finanzierung solcher Maßnahmen nicht verbessert haben.

ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und leitet dort die Arbeitsgruppe "Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie". E-Mail Link: thomas.gerlinger@uni-bielefeld.de