Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zur Geschichte der Schutzimpfung | Weltgesundheit | bpb.de

Weltgesundheit Editorial "Das Virus wird bei uns bleiben". Ein Gespräch über die Suche nach einem Impfstoff und den Verlauf der Covid-19-Pandemie Zur Geschichte der Schutzimpfung Variationen der Pandemiebekämpfung. Staatliche Handlungsstrategien gegen Covid-19 Gesundheit als Menschenrecht Globale Gesundheitspolitik zwischen Anspruch und Widersprüchlichkeiten Globale Gesundheitssicherung, nur wie? Kontroversen eines Politikfelds Deutschland als Akteur in der globalen Gesundheitspolitik

Zur Geschichte der Schutzimpfung

Robert Jütte

/ 16 Minuten zu lesen

Die erste Schutzimpfung gegen eine Infektionskrankheit war die Kuhpockenimpfung. Als ihr Entdecker gilt der englische Landarzt Edward Jenner (1749–1823). Dass Kuhpocken, die beim Menschen nur lokale, meist von selbst ausheilende Infektionen verursachen, Immunität gegen die gefährlichen Menschenpocken verleihen könnten, war in der bäuerlichen Bevölkerung im 18. Jahrhundert durchaus bekannt. Auch Edward Jenner war in seiner Praxis schon früh mit dieser Vorstellung konfrontiert worden. 1780 begann er, Fälle von Patienten zu sammeln, die an Kuhpocken erkrankt waren und anschließend nicht mehr an den "Blattern", wie man die Menschenpocken damals nannte. Der entscheidende Versuch fand am 14. Mai 1796 statt: Damals impfte Jenner den achtjährigen James Phipps mit einer Kuhpockenpustel, die sich auf dem Arm der Viehmagd Sarah Nelmes gebildet hatte. Wie erwartet, entwickelte sich bei dem Knaben ein leichtes Fieber, das bald abklang. Nach sechs Wochen wagte es Jenner, ihn künstlich mit Menschenpocken zu infizieren. Das riskante Experiment glückte – der Junge erkrankte nicht. Jenner sah sich bestätigt und veröffentlichte 1798 seine Entdeckung in einer Schrift über die Wirkung der Kuhpockenimpfung, die ihn rasch berühmt machte und zu Recht in die Annalen der Medizingeschichte eingegangen ist. Die "Vakzination" – der Terminus ist von dem lateinischen Wort vacca für "Kuh" abgeleitet – war erfunden.

Vorläufer der Vakzination

Das Grundprinzip jeder Schutzimpfung, die bewusste Einführung krankheitserregenden Materials in ein gesundes Individuum, um dieses vor einer schweren Krankheit zu schützen, war bereits seit Jahrhunderten bekannt. Allerdings war dieses Wissen in Europa bis zum frühen 18. Jahrhundert nicht vorhanden oder wieder in Vergessenheit geraten. So findet sich in einer späten Fassung des um 1275 entstandenen "Regimen sanitatis Salernitanum", einem Gesundheitsratgeber in Versform der Schule von Salerno im heutigen Italien, der Rat: "Damit die Pocken nicht zum Tod der Kinder führen/bringe den Gesunden Pockenmaterie in die Adern." Damit kann nur die sogenannte Inokulation gemeint sein, die in Indien und China praktiziert wurde. Dazu entnahm man Personen, die die Pocken gerade überstanden hatten, zumeist mit einem kleinen Messer oder einer Lanzette Material aus einer Pustel. Dieses übertrug man an Gesunde mittels Einritzung der Haut an den Gliedmaßen. Auch unter den Steppenvölkern des Kaukasus kannte man dieses Verfahren. So berichtet der Philosoph Voltaire (1694–1778) in einem seiner Briefe: "Die Weiber im Tscherkessenland haben seit undenklichen Zeiten im Gebrauch, ihren Kindern, wenn sie sechs Monate sind, die Blattern zu geben, indem sie in die durch einen Schnitt gemachte Öffnung des Armes eine Blatter setzen, welche sie von dem Leib eines anderen Kindes genommen und sorgfältig aufgehoben haben. Diese in den Arm gesetzte Blatter bringt die gleiche Wirkung hervor, welche der Sauerteig im Brote tut, sie gärt und breitet die ihr eingeprägten Eigenschaften im ganzen Blut aus. Die Blattern von diesem Kind, welchem man die künstliche Pocke eingesetzt hat, braucht man, um diese Krankheit wieder anderen Kindern mitzuteilen. Dieser Kreis wird im Tscherkessenland beständig aufrechterhalten, und wenn unglücklicherweise keine Pocke im Land zu haben ist, zeigt man sich dort ebenso bestürzt, wie man andernorts über ein schlimmes Jahr klagt."

Bis heute sind die Einführung und das Bekanntwerden der Inokulation in Europa mit dem Namen der Gattin des englischen Botschafters in Konstantinopel, Lady Mary Wortley Montagu (1689–1762), verbunden. Sie war zwar nicht die Erste, die die Erfolge von osmanischen Ärzten mit dem "Blattern-Beltzen", wie man die Methode auf Deutsch nannte, durch ihre Briefe in England bekanntmachte. Ihr persönliches Beispiel – sie ließ 1718 ihren Sohn auf diese Weise impfen – sowie ihr gesellschaftlicher Stand trugen aber entscheidend dazu bei, dass die Inokulation fast überall in Europa bei Ärzten und Laien auf Interesse stieß. Ihr gelang es, auch den englischen König George I. (1660–1727) nach anfänglicher Skepsis davon zu überzeugen, seine Enkel impfen zu lassen.

Die Inokulation blieb allerdings meist auf den Adel und die städtische Oberschicht begrenzt. Die Gründe für die zögerliche Durchsetzung der Praxis waren vielfältig. Wie später auch bei der Vakzination hatten einige religiöse Bedenken und sahen darin einen Eingriff in die göttliche Vorsehung. Andere wiederum hatten Zweifel an der Wirksamkeit des Verfahrens, denn der Verlauf des Immunisierungsversuchs war nicht oder allenfalls schwer vorherzusagen. Selbst wenn der Impfstoff von jemandem stammte, dessen Krankheit mild verlaufen war, so konnte der Impfling gleichwohl schwer erkranken oder gar sterben. Nach einer zeitgenössischen Schätzung betrug das Risiko, am "Blatter-Beltzen" zu sterben, immerhin noch 1:182. Das war zwar erheblich geringer als das Sterberisiko im Falle einer natürlichen Erkrankung an den Menschenpocken, der damals fast jeder Achte erlag, jedoch konnte es passieren, dass es durch eine Impfung überhaupt erst zu einem lokalen Pockenausbruch kam. Nicht zuletzt war eine Impfung mancherorts mit beträchtlichen Kosten verbunden. Insbesondere die wegen ihrer Expertise hochgepriesenen englischen Impfärzte verlangten zum Teil horrende Honorare.

Wenngleich in einigen zeitgenössischen medizinischen Schriften Befürworter der Inokulation bereits von einer Befreiung der Menschheit von der Pocken-Geißel träumten, so konnte das nicht gerade risikoarme Verfahren diese hohen Erwartungen schon aufgrund der weitgehenden Beschränkung auf die gesellschaftliche Elite nicht erfüllen.

Umstrittener Fortschritt

Längst nicht alle waren von dem Nutzen der neuen, weniger gefährlichen Vakzination überzeugt. Jenners Veröffentlichung zog eine heftige Kontroverse nach sich, die von England auf andere Länder übergriff. So bezeichnete etwa der Berliner Arzt und Philosoph Marcus Herz (1747–1803) die Kuhpockenimpfung mittels einer kleinen Einritzung der Haut unter Verwendung einer Lanzette als "Brutalimpfung". Doch blieben die Kritiker unter den Ärzten eine Minderheit. Man kann vielmehr zu Beginn des 19. Jahrhunderts überall in Europa eine ansteigende Impfeuphorie unter Medizinern beobachten. So eröffnete beispielsweise der Arzt Johann Immanuel Bremer (1745–1816) im Jahr 1800 in Berlin eine "Vaccinations-Schule", an der er interessierten Kollegen die Impftechnik beibrachte. Mit welchem Enthusiasmus und mit welchen Erwartungen die positiv eingestellten Ärzte sich damals an Impfkampagnen beteiligten, zeigt eine Schrift von 1803. "Die Pocken sind ausgerottet", verkündete der Erfurter Medizinprofessor August Friedrich Hecker (1763–1811) auf dem Titelblatt seines gleichnamigen Buches. Das war eine kühne medizinische Utopie; denn bekanntlich wurden die Pocken erst 1980, also fast 180 Jahre später, von der Weltgesundheitsorganisation für "ausgerottet" erklärt. 1804 ließ der Bückeburger Arzt Bernhard Christoph Faust (1755–1842) in großer Auflage ein Flugblatt drucken, das in Gasthöfen und anderen öffentlichen Orten aufgehängt werden sollte. Es trug den Titel: "Zuruf an die Menschen: Die Blattern, durch Einimpfung der Kuhpocken, auszurotten." Selbst Pfarrer beteiligten sich vielerorts an dieser Impfpropaganda. Faust hatte übrigens die originelle Idee, an jedem 14. Mai – dem Tag, an dem Edward Jenner seine erste Vakzination durchgeführt hatte – das sogenannte Krengelfest zu feiern, bei dem die Kinder zu Ehren von Jenner einen Umzug veranstalteten. Dabei wurde ein Arm aus Porzellan mit nachgebildeten Impfpusteln durch den Ort getragen. Jedes Kind, das sich im Anschluss von Faust impfen ließ, bekam eine Brezel, in Ostwestfalen "Krengel" genannt. Das Fest wird heute noch gefeiert, aber eher folkloristisch und ohne die ursprüngliche klare gesundheitspolitische Botschaft.

Dass ein solcher materieller Anreiz überhaupt notwendig war, hängt mit dem Widerstand breiter Bevölkerungsschichten zusammen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht impfen lassen wollten. Das geschah mit Argumenten, die man zum Teil noch heute bei Impfgegnern antrifft. Nicht wenige Laien, aber auch Ärzte, waren überzeugt, dass die Vakzination gesundheitsschädlich sei. Selbst den Befürwortern war nicht verborgen geblieben, dass mit der Impfung auch andere Krankheiten übertragen werden konnten, etwa durch unsaubere Lanzetten. In der Tat war die Art und Weise, wie damals der Impfstoff gewonnen wurde, höchst problematisch. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde nämlich das sogenannte Überimpfen angewandt, bei dem man humane Lymphe verwendete, die man aus der Impfpustel eines kurz zuvor geimpften Kindes gewonnen hatte. Der Übertragung von Krankheiten wie Syphilis war auf diese Weise Tür und Tor geöffnet. Erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging man dazu über, tierische Lymphe zu verwenden, indem man Impfpusteln auf der Kuhhaut durch Infektion künstlich hervorrief. Ferner traten regelmäßig Unverträglichkeitsreaktionen auf, die im Einzelfall sogar zum Tode oder zu schweren Impfschäden führten.

Das andere Argument der Impfgegner, die sich schon früh nicht nur in Deutschland zu Vereinen zusammenschlossen, lautete: Die Vakzination ist nicht nur gefährlich, sondern auch unwirksam. In den Augen der Skeptiker war dies sogar statistisch belegbar, denn obwohl ein großer Teil der Bevölkerung bereits geimpft war, kam es im 19. Jahrhundert an verschiedenen Orten zu Pockenepidemien, die zahlreiche Opfer forderten. Das Wiederaufflammen einer schon fast besiegt geglaubten Seuche hing zum Teil damit zusammen, dass man erst in den späten 1820er Jahren erkannte, dass der Impfschutz nicht ein ganzes Leben lang anhielt und mittels Revakzination aufgefrischt werden musste.

Meilensteine der Impfstoffentwicklung

Nachdem Edward Jenner der Wirksamkeitsnachweis einer Impfung gegen die Menschenpocken mit dem Kuhpockenvirus erbracht hatte, machten sich in dem durch den Mediziner Robert Koch (1843–1910) und den Chemiker Louis Pasteur (1822–1895) eingeleiteten Zeitalter der Bakteriologie zahlreiche Forscher auf die Suche nach ähnlich schützenden Lebendimpfstoffen. Diese weisen sehr geringe Mengen funktionsfähiger Keime auf, die so abgeschwächt sind, dass sie sich zwar noch vermehren, die Krankheit aber aufgrund genetischer Veränderungen nicht mehr auslösen können. Die Applikation erfolgt entweder durch eine Injektion oder oral als Schluckimpfung. Ein erster Hoffnungsträger der frühen Impfstoffentwicklung, das von Robert Koch Anfang der 1890er Jahre entdeckte "Wundermittel" Tuberkulin – eine Mischung aus abgeschwächten Tuberkelbazillen mit Glycerin und Wasser –, versagte zwar als Impfstoff gegen Tuberkulose, leistet aber bis heute in Form eines Hauttests in der Diagnostik gute Dienste. Erst der Mikrobiologe Albert Calmette (1863–1933) und der Veterinärmediziner Camille Guérin (1872–1961) entwickelten nach Experimenten mit einem abgeschwächt virulenten Mykobakterium in den 1920er Jahren erfolgreich einen Lebendimpfstoff gegen Tuberkulose.

Auch mit sogenannten Totimpfstoffen wurde bereits im 19. Jahrhundert experimentiert. Einige der heute noch aktuellen Schutzimpfungen basieren auf diesem Prinzip. Dabei sind vor allem zwei Typen zu unterscheiden: zum einen Toxoidimpfstoffe wie jene gegen Diphtherie, Pertussis (Keuchhusten) und Tetanus, in denen das jeweilige Toxin durch spezielle Verfahren seine toxischen Eigenschaften verloren hat, die antigene Wirkung aber erhalten bleibt; zum anderen inaktivierte Impfstoffe wie jene gegen Cholera, Hepatitis-A, Tollwut und Polio, bei denen das krankheitsverursachende Virus unter Einwirkung verschiedener Substanzen, aber auch durch Hitze oder Strahlung seine Infektiosität verliert und zur Herstellung von Impfstoffen verwendet werden kann. 1896 entwickelte Wilhelm Kolle (1868–1935), ein Mitarbeiter Robert Kochs, einen durch Hitze abgetöteten und durch Phenolzugabe konservierbar gemachten Cholera-Impfstoff. Der Bakteriologe Waldemar Haffkine (1860–1930) forschte ab 1895 an einem Totimpfstoff gegen die Pest. Verschiedene klinische Studien wurden mit schwankenden Ergebnissen in Indien und China durchgeführt. In einem Fall führte die Verunreinigung des Impfstoffs mit Tetanussporen dazu, dass alle mit dieser Charge Geimpften starben und die Nutzung von Haffkines Vakzin ein abruptes Ende fand.

Ein Meilenstein der Impfgeschichte war 1885 ein waghalsiger Heilversuch an dem neunjährigen Bäckerssohn Joseph Meister, der von einem tollwütigen Hund gebissen worden war. Man brachte ihn zu Louis Pasteur nach Paris, der damals bereits zahlreiche Tierversuche mit dem Tollwuterreger unternommen hatte. Er benutzte dabei eine abgeschwächte infektiöse Suspension, die er aus dem getrockneten Rückenmark eines tollwutinfizierten Kaninchens gewonnen hatte. Die damit geimpften Hunde erwiesen sich fortan als immun gegen die Krankheit. Um nach dem Hundebiss einer Tollwut-Infektion vorzubeugen, bekam auch Joseph Meister zunächst eine Injektion einer 14 Tage lang getrockneten Hirnmasse eines infizierten Kaninchens und schließlich über einen Zeitraum von zehn Tagen zwölf Injektionen mit immer frischerem, also auch zunehmend virulentem Material. Bei der letzten Injektion handelte es sich um voll virulente Tollwut-Viren, mit der Pasteur also überprüfte, ob der Patient nach der Behandlung immun war. Nachdem Joseph Meister über mehrere Monate keine Symptome einer Infektion mit Tollwut zeigte, wurde er aus der ärztlichen Obhut entlassen. Die Nachricht über den augenscheinlichen Erfolg der postexpositionellen Impfung begründete Pasteurs Ruf in Frankreich. Wie die medizingeschichtliche Forschung durch die Auswertung der Labortagebücher nachgewiesen hat, kann die mutmaßliche "Heilung" von Joseph Meister zwar keinesfalls als ein Beleg für die Wirksamkeit des damals von Pasteur verwendeten Impfstoffs gelten. Aber als immer mehr Fälle von Tollwut mit dem von ihm hergestellten Impfstoff behandelt wurden, stellte sich dessen Wirksamkeit heraus.

Pasteur entwickelte noch drei weitere Impfstoffe, was ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter der frühen Impfstoffforschung macht: 1879 gegen Geflügelcholera, 1880 gegen Milzbrand, 1883 gegen Schweinerotlauf. Er hatte somit den überzeugenden Nachweis geführt, dass – zumindest im Prinzip – eine Impfung fortan vor beliebigen Infektionskrankheiten schützen konnte.

An einem weiteren Totimpfstoff forschte im 20. Jahrhundert Jonas Edward Salk (1914–1995). Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der spätere Nobelpreisträger John Franklin Enders (1897–1985) durch Viruszüchtung in Zellkulturen die Forschung entscheidend vorangebracht. Auf dieser Grundlage gelang es Salk, einen Impfstoff gegen Kinderlähmung zu entwickeln, für den die Viren durch Formalin inaktiviert wurden. Dieser geriet allerdings in die Schlagzeilen, nachdem 1955 bei mehreren Kindern, die mit einer Charge aus der Produktion des kalifornischen Impfstoffherstellers Cutter-Laboratories geimpft worden waren, Lähmungserscheinungen auftraten und es zu Todesfällen kam. Versehentlich war ein Impfstoff verwendet worden, der noch infektiöses Material enthielt. Der Virologe Albert Sabin (1906–1993) entwickelte daraufhin einen oralen Impfstoff auf der Basis von lebenden, aber in ihrer Virulenz abgeschwächten Polio-Viren, der in der Bundesrpublik mit der eingängigen Werbebotschaft "Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam" beworben wurde.

Mit der Entdeckung des HI-Virus Anfang der 1980er Jahre begann ein weiteres Kapitel der Geschichte der Impfstoffentwicklung. Als man den Virologen Robert Gallo im Anschluss an die Pressekonferenz 1984, auf der die Entdeckung des Aids-Erregers bekanntgegeben wurde, fragte, wann ein Impfstoff gegen die gefürchtete Krankheit bereitstehen würde, antwortete er: "In zwei Jahren". Inzwischen sind mehr als 35 Jahre vergangen. Noch immer ist der große Durchbruch nicht in Sicht, obwohl bereits Milliardenbeträge in die Entwicklung einer Schutzimpfung gegen Aids investiert wurden. Der Wissenschaftsjournalist Jon Cohen vertritt die Auffassung, dass es bei der Suche nach einem Impfstoff lange Zeit vor allem an koordinierten Forschungsanstrengungen und erst in zweiter Linie an Geld gemangelt habe. Daneben gibt es noch andere Faktoren, die seiner Meinung nach ebenfalls für Verzögerungen und Rückschläge verantwortlich sind, etwa die halbherzige Unterstützung durch Politiker, die den Kampf gegen Aids lange nicht als gesundheitspolitische Priorität einstuften, oder die Interessen der internationalen Pharmakonzerne, die an Medikamenten verdienen wollen. Doch gibt es inzwischen Anzeichen dafür, dass man aus der Vergangenheit und den Fehlschlägen gelernt hat. Seit 1996 existiert die International Aids Vaccine Initiative, eine gemeinnützige Einrichtung, die sich darum bemüht, die fast kaum noch überschaubaren internationalen Forschungsanstrengungen zu koordinieren und auch finanziell zu unterstützen. Nachdem man anfangs den Weg beschritten hatte, dem Virus den Infektionsweg mit Antikörpern gegen sein Hüllprotein zu blockieren, versuchen die meisten Aids-Forscher nun Impfstoffe zu entwickeln, die nicht nur die auf Antikörpern beruhende Antwort des menschlichen Immunsystems stimulieren, sondern sich auch die zelluläre Abwehr zunutze machen. Inzwischen ist es auch möglich, Hybridviren herzustellen, mit denen sich die Schutzwirkung bei Menschenaffen besser als bislang möglich testen lässt, bevor an klinische Versuche bei Menschen zu denken ist. Denn Impfversuche an Freiwilligen stellen weiterhin ein großes Problem dar.

Zwang oder Freiwilligkeit?

Eng mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und den Debatten um das Für und Wider der Vakzination verwoben, ist die Geschichte der Impfpolitik. In einigen deutschen Territorien war bereits wenige Jahre nach der Erfindung der Vakzination ein mehr oder weniger rigider Impfzwang eingeführt worden. Den Anfang machte 1807 Bayern, nachdem ein Appell des Königs, sich gegen Pocken impfen zu lassen, wenig Resonanz in der Bevölkerung gefunden hatte. Das entsprechende Gesetz schrieb vor, dass alle über Dreijährigen, die noch nie die Pocken gehabt hatten, bis zum 1. Juli 1808 geimpft sein sollten. Für jedes nicht rechtzeitig geimpfte Kind sollten die Eltern je nach Vermögen eine Geldbuße in Höhe von einem bis acht Gulden zahlen – der Tagelohn eines Handwerkergesellen betrug damals etwas mehr als einen Gulden. 1815 folgte das Großherzogtum Baden dem bayerischen Vorbild, 1818 das Königreich Württemberg, 1821 das Königreich Hannover. Sachsen und der Stadtstaat Hamburg dagegen erließen bis Anfang der 1870er Jahre kein Impfgesetz. Auch Preußen hatte keines, übte aber auf andere Weise Druck auf die Bevölkerung aus, sich gegen die Pocken impfen zu lassen. So wurden nur jene Kinder zur Schule oder zur Ausbildung zugelassen, die einen Impfschein vorweisen konnten. Als infolge des Deutsch-französischen Krieges 1870/71 wieder eine große Pockenepidemie mit Hunderttausenden Todesopfern die Bevölkerung heimsuchte, griff das neu geschaffene Deutsche Reich zu Zwang: Am 5. Februar 1874 wurde das Reichsimpfgesetz trotz Widerstand aus Kreisen der organisierten Impfgegner im Reichstag angenommen. Es sah nicht nur die Pflichtimpfung gegen Pocken im Säuglingsalter vor, sondern auch eine Wiederimpfung im Alter von zwölf Jahren.

Auch nach der Verabschiedung des Reichsimpfgesetzes wurde die Frage, inwieweit ein "Vorsorgestaat" das Recht hat, seine Bürger per Gesetz zur Impfung zu zwingen, immer wieder heftig diskutiert, und bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein beschäftigte der Streit um die Impfpflicht den Reichstag. Die Fronten gingen quer durch die Parteien. Jenseits der öffentlichkeitswirksamen, durch konträre Meinungen aufgeheizten Debatten war dagegen die Impfpraxis bis 1933 durch einen "pragmatischen Paternalismus" gekennzeichnet. Das heißt, der Staat bestand weiterhin auf dem Impfzwang, setzte ihn aber nicht mit aller Gewalt durch. Das lag nicht zuletzt an Berichten über Impfschäden, die immer wieder an die Öffentlichkeit gelangten. Diese erreichten aber meist nicht die Dimension des sogenannten Lübecker Impfunglücks von 1930, als 77 Kinder infolge der Injektion eines kontaminierten Tuberkulose-Impfstoffs starben und weitere 131 Impflinge erkrankten. Aufgrund dieser Katastrophe verzögerte sich die Einführung der Impfung gegen Tuberkulose mit dem Bacillus Calmette-Guérin in Deutschland bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Spätestens seit diesem tragischen Ereignis ging es also im politischen Diskurs nicht mehr nur um die Vakzination, sondern auch um Impfungen gegen eine Vielzahl von Krankheiten.

Selbst das nationalsozialistische Regime, das die Volksgesundheit über die individuelle Gesundheit stellte, unterdrückte nicht die Impfkritik. Das hing nicht nur damit zusammen, dass einige seiner führenden Vertreter, zum Beispiel Rudolf Hess, mit alternativen Heilmethoden liebäugelten. Das "Dritte Reich" verfolgte außer mit Blick auf die Wehrmacht in der Impfpolitik einen pragmatischen Ansatz. Der wichtigste Grund waren erfolgreiche Werbekampagnen der Pharmaindustrie für eine freiwillige Impfung mittels Broschüren, Radiobeiträgen und Aufklärungsfilmen. So erreichte man Ende der 1930er Jahre etwa eine Impfquote von 90, oft über 95 Prozent bei der Diphtherieschutzimpfung, während diese bei der Pflichtimpfung gegen Pocken im Schnitt zwischen 60 und 80 Prozent lag. In Deutschland setzte also schon vor der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung ein, die man als den Übergang von der staatlichen Impfpflicht zur Privatisierung der Gesundheitsvorsorge bezeichnen kann.

Nach 1945 bestimmten in der Bundesrepublik und in der DDR unterschiedliche Prophylaxe-Konzepte das gesundheitspolitische Handeln. Dabei rückte vor allem die Schluckimpfung gegen Poliomyelitis in den Blickpunkt, nachdem die Pocken seit Ende der 1970er Jahre deutschland- und weltweit keine Gefahr mehr darstellten, denn die erfolgreiche Bekämpfung einer weiteren Kinderkrankheit versprach einen Prestigegewinn im Systemwettbewerb. Die DDR war stolz darauf, international als Vorsorgestaat par excellence zu gelten, doch war sie damit keine Biodiktatur. Aus den für die Planwirtschaft typischen Defiziten erwuchs in der Impffrage ein Pragmatismus, wenngleich sich die DDR-Regierung auf internationaler Ebene immer wieder mit Erfolgen ihres staatlich gelenkten Präventionsprogramms brüstete. In der Bundesrepublik waren es vor allem zivilgesellschaftliche Vereine, wie beispielsweise die Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung oder das Deutsche Grüne Kreuz, die mit finanzieller Förderung durch die Gesundheitsbehörden Impfkampagnen organisierten. 1972 wurde die Ständige Impfkommission (STIKO) eingerichtet, nach deren Empfehlungen sich die Gesundheitsbehörden in Impffragen richten. Ihre Empfehlungen gelten inzwischen als medizinischer Standard. Die seit 1874 bestehende Impfpflicht gegen Pocken wurde gut hundert Jahre nach ihrer Einführung schrittweise aufgehoben: Ab 1976 entfiel die Erstimpfung. 1983 wurde die Pockenimpfpflicht schließlich komplett aufgehoben. Gleichzeitig wurden auch alle gesetzlichen Zwangsimpfungen beseitigt.

Im vereinten Deutschland ist seit Längerem eine "liberale Wende des Präventionsdiskurses" zu beobachten, in dem verstärkt an den Einzelnen als "präventives Selbst" appelliert wird, die eigene Lebensführung gemäß gesundheitlichen Kriterien auszurichten. Seit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes 2001 kann eine Impfpflicht jedoch jederzeit wieder eingeführt werden. Nach Paragraf 20 Absatz 6 und Absatz 7 des Infektionsschutzgesetzes bedarf es lediglich einer einfachen Rechtsverordnung, um Impfungen verbindlich zu machen. So beschloss der Bundestag im November 2019 eine bundesweite Impfpflicht gegen Masern an allen deutschen Schulen, bei Tagesmüttern und für Kindertagesstätten, aber auch in anderen Gemeinschaftseinrichtungen wie Flüchtlingsunterkünften sowie für medizinisches Personal.

Schluss

Mit Blick auf den fast zweihundertjährigen Kampf gegen Menschenpocken kann kein Zweifel daran bestehen, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem endgültigen Verschwinden dieser Seuche Anfang der 1980er Jahre und einer konsequenten Massenimpfung gibt. Bei anderen Infektionskrankheiten ist die historische Evidenz nicht so eindeutig. Derzeit wartet die Welt auf einen wirksamen Impfstoff gegen Covid-19. Nach einer aktuellen Meinungsumfrage würde sich mit 67 Prozent eine Mehrheit der Deutschen für eine Impfung gegen das neuartige Corona-Virus entscheiden. In der Gruppe der G7-Staaten liegt die Bundesrepublik damit allerdings nur auf dem vorletzten Platz.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Wolfgang U. Eckart (Hrsg.), Jenner. Untersuchungen über die Ursachen und Wirkungen der Kuhpocken, Berlin 2016.

  2. Zit. nach Karl Sudhoff, Zum Regimen Sanitatis Salernitanum, in: Archiv für Geschichte der Medizin 8/1915, S. 352–373, hier S. 355.

  3. Vgl. Chandrakant Lahariya, A Brief History of Vaccines and Vaccination in India, in: The Indian Journal of Medical Research 139/2014, S. 491–511; Angela Ki Che Leung, "Variolation" and Vaccination in Late Imperial China, Ca 1570–1911, in: Stanley A. Plotkin (Hrsg.), History of Vaccine Development, New York 2011, S. 5–12.

  4. Sammlung verschiedener Briefe des Herrn von Voltaire die Engländer und andere Sachen betreffend, Jena 1747, Externer Link: http://www.welcker-online.de/Texte/Voltaire/Briefe_Engl/briefe_england.pdf, S. 35.

  5. Vgl. Eberhard Wolff, "Triumph! Getilget ist des Scheusals lange Wuth". Die Pocken und der hindernisreiche Weg ihrer Verdrängung durch die Pockenschutzimpfung, in: Hans Wilderotter (Hrsg.), Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte, Berlin 1995, S. 158–189.

  6. Vgl. Eberhard Wolff, Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998; Michael Bennett, War Against Smallpox: Edward Jenner and the Global Spread of Vaccination, Cambridge 2020.

  7. Vgl. Robert Jütte, Bernhard Christoph Faust, Von der Gesundheit, in: Ein solches Jahrhundert vergißt sich nicht mehr. Lieblingstexte aus dem 18. Jahrhundert, München 2000, S. 527–532.

  8. Vgl. die Übersicht bei Jana Claudia Jeuck, Die Einführung der Masernimpfung in der BRD 1960–1980 im Spiegel medizinischer Fachjournale und der Laienpresse, Dissertation, Universität zu Köln 2017, S. 26–40.

  9. Vgl. Hervé Bazin, L’Histoire des vaccinations, Paris 2008, S. 264f.

  10. Vgl. Jon Cohen, Shots in the Dark. The Wayward Research for an AIDS Vaccine, New York 2001.

  11. Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 132.

  12. Vgl. Eckart Roloff/Karin Henke-Wendt, Das Lübecker Impfunglück von 1930 und ein schneller Prozess, in: dies., Geschädigt statt geheilt. Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale, Stuttgart 2018, S. 19–33.

  13. Martin Lengwiler/Jeannette Madarász (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, S. 22.

  14. Vgl. Felix Eick, Jeder dritte Deutsche momentan gegen eine Covid-19-Impfung, 2.9.2020, Externer Link: http://www.welt.de/wirtschaft/article214826898.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Robert Jütte für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

leitete bis 2020 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. E-Mail Link: robert.juette@igm-bosch.de