Ernährung gilt als eines der Kernthemen für die Transformation hin zu einer "nachhaltigen Gesellschaft":
Auch aus der Definition der UN Food and Agriculture Organization (FAO) von nachhaltiger Ernährung wird die Vielschichtigkeit und Relevanz der Thematik für eine nachhaltige Entwicklung deutlich: "Nachhaltige Ernährung hat geringe Auswirkungen auf die Umwelt, trägt zur Lebensmittel- und Ernährungssicherheit bei und ermöglicht heutigen und künftigen Generationen ein gesundes Leben." Weiterhin "schützt und respektiert nachhaltige Ernährung die biologische Vielfalt sowie die Ökosysteme, ist kulturell angemessen, verfügbar, wirtschaftlich gerecht und erschwinglich, ernährungsphysiologisch angemessen, sicher und gesund und verbessert gleichzeitig die natürlichen und menschlichen Lebensgrundlagen."
In diesem Beitrag möchte ich einen Blick auf die Frage werfen, warum selbst wir in Deutschland, als eine Gesellschaft der "Luxushemisphäre", den Weg zu einem nachhaltigen Alltagsbewusstsein speziell für den Bereich der Ernährung noch nicht geschafft haben. Dabei möchte ich darstellen, welche Chancen in der gemeinsamen Betrachtung von (gesellschaftlichen) Umwelten sowie in Bildung und Kommunikation liegen, um Umsetzungsmöglichkeiten im Kleinen wie im Großen zu reflektieren.
Status quo
Ernährung bedeutet zunächst, die biologischen Grundbedürfnisse für eine funktionierende Homöostase zu erfüllen, also die Versorgung mit ausreichend Nährstoffen und Wasser in einem ausgewogenen Verhältnis. Ernährung wird dabei im naturwissenschaftlichen Sinne auf Substanzen heruntergebrochen, deren Anteile in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen sollten. Das Konzept der nachhaltigen Ernährung geht darüber hinaus und zielt auf eine Homöostase, die sowohl für jetzige als auch für kommende Generationen eine ausreichende hochwertige Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellt.
Für die Umsetzung nachhaltiger Ernährung gibt es hilfreiche Operationalisierungen. Die Empfehlungen der Vollwerternährung etwa basieren auf den Leitlinien für nachhaltige Entwicklung der Brundlandt-Vereinbarung von 1987, nach der jegliche Produktion in den Bereichen Umwelt, Soziales und Wirtschaft gleichwertig zusammengebracht und um die Ebene der individuellen Gesundheit ergänzt wird.
Zu sehr ähnlichen Empfehlungen kommt die EAT-Lancet Kommission auf Basis der Berücksichtigung planetarer Grenzen.
Mit diesen Empfehlungen liegt die PHD recht nah an den Empfehlungen der Vollwerternährung. Letztere bildet im Prinzip auch einen Orientierungsrahmen für die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Insgesamt unterscheiden sich die Leitlinien hinsichtlich der Quantifizierung einzelner Produktgruppen durchaus und könnten stärker Nachhaltigkeitskriterien integrieren.
Auf Basis dieser Umsetzungsleitlinien stellt sich die Frage, wie stark ein nachhaltiger Ernährungsstil bisher in der Gesellschaft verbreitet ist. Um den Status quo zu definieren, möchte ich zwei Bereiche exemplarisch herausstellen – zunächst den Fleischkonsum. Die Empfehlungen der PHD liegen hier bei durchschnittlich 13 bis 45 Gramm, die der DGE bei durchschnittlich 45 bis 85 Gramm pro Kopf am Tag. Lag der Fleischkonsum in Deutschland 2018 noch bei 167 Gramm pro Kopf am Tag, betrug er 2021 150 Gramm,
Individuelle Beurteilungskompetenz
Wenn es darum geht, Nachhaltigkeit zu beurteilen, stehen Verbrauchende häufig vor großen Herausforderungen. Grundsätzlich haben sie durchaus ein Interesse an Nachhaltigkeitsbelangen im Allgemeinen und bei Ernährung im Speziellen.
In der Regel sind nachhaltig produzierte Lebensmittel teurer, da die Produktionskosten höher, die produzierten Mengen geringer und die Marketing- und Vertriebskanäle weniger effizient sind. Darüber hinaus sind Preise für Bio-Lebensmittel oft höher, da sie eine Reihe anderer externer Kosten berücksichtigen, die bei konventionell hergestellten Lebensmitteln nicht anfallen, wie Qualitäten im Umweltschutz.
Dabei ist relevant, dass die Nachfrage nach nachhaltig produzierten Lebensmitteln zunächst von zwei Besonderheiten bestimmt wird: Erstens ist die Ernährungsqualität nicht direkt durch die Verbrauchenden erfahrbar und beurteilbar. Sie müssen der deklarierten Produktionsqualität am Ort der Entscheidung, meist beim Kauf, vertrauen. Zweitens müssen die Verbrauchenden in der Lage sein, die deklarierte Lebensmittelqualität zu unterscheiden, zu verstehen und in den Alltag zu integrieren. Der Schluss, dass es einer umfassenden Ernährungsbildung bedarf, liegt deshalb nah.
Im Jargon des Marketings wandelt ein erfolgreicher Kommunikations- beziehungsweise Zertifizierungsprozess das Produkt von einem Glaubwürdigkeits- in ein Suchattribut,
Außerdem bleibt die Nutzung von Nachhaltigkeitssiegeln bei der Kaufentscheidung insgesamt gering,
Aktuell ist fraglich, ob die gesellschaftlich etablierten Strukturen der (Ernährungs-)Bildung effizient genug organisiert sind, um die alternativen Möglichkeiten darzustellen und zu positionieren. Hinzu kommt, dass die in der Bildungspolitik geltenden Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses eine umfassende, mitunter kontroverse Darstellung aller Positionen zu einem Thema erfordern. Das kann im Bereich der nachhaltigen Ernährungsbildung gegebenenfalls ein Hindernis darstellen. Denn diese Art der Vermittlung der Ausgangssituation läuft in der Praxis auf einen Minimalkonsens hinaus,
Zugleich werden die Bewertung der Nachhaltigkeit und die entsprechenden Kennzeichnungssysteme immer noch von Umweltaspekten dominiert – nur ein kleiner Teil der Nachhaltigkeitssiegel berücksichtigt Aspekte der ethischen oder lokalen Produktion.
Rahmenbedingungen von Entscheidungen
Neben den natürlichen planetaren (Produktions-)Grenzen ist die Umsetzung von Ernährungsstilen von makro-, meso- und mikroökonomischen sowie von soziokulturellen Umwelten beeinflusst und von individuellen Präferenzen und Prägungen gezeichnet.
Die Lebensmittelproduktion ist, wie jede andere Produktion auch, eingebunden in einen soziopolitischen Handlungsrahmen, in dem die Lebensmittel in der Folge meist auch vermarktet werden. Dieser wiederum ist stark verflochten mit politischen Rahmen auf kommunaler, regionaler, nationaler, aber auch internationaler Ebene. Damit nachhaltige Produktqualität über all diese Ebenen "verteilt" werden kann, bedarf es eines gesellschaftlichen Rahmens, der etwa in Form von Verordnungen, wie der EU-Öko-Verordnung, die zum Beispiel auch die Beschreibung "Bio-Lebensmittel" oder "ökologisches Lebensmittel" als Synonym definiert, sowie Handelsabkommen und entsprechende Standards festlegt. Diese zusätzlichen Instrumente bedürfen wiederum eines hohen Maßes an Organisation sowie an zwischenmenschlichem und institutionellem Vertrauen, um keine Informationsasymmetrie entstehen zu lassen, die wiederum zu einem ineffizienten Marktgeschehen führen würde.
Entscheidungen für ein Lebensmittel oder gar einen Ernährungsstil werden immer im Wechselspiel von Rahmenbedingungen und individuellen Neigungen, aber auch soziokulturellen Normen und Rahmenbedingungen getroffen. Vertrauen in nachhaltige Produktqualität entsteht nicht allein rational. Das trifft auch ganz konkret die Handlungslogik im Privathaushalt: Die Auswahl von Lebensmitteln folgt häufig einer Routine und ist damit nicht allein durch kognitives, rationales Wissen begründet.
Nachhaltige Ernährung ist viel mehr als "nur" der Einkauf oder Nichtkauf und das Vertrauen in beispielsweise ökologische Produktqualität. Nachhaltige Ernährung bedeutet in vielerlei Hinsicht, sich aktiv mit der Vielschichtigkeit des Alltagshandelns zu beschäftigen, eine aktive Rolle für eine bestimmte Qualität sowie explizit Verantwortung für eine frische Zubereitung zu übernehmen und entsprechende Zeit- und Energieressourcen einzubringen. Haushalte sind beim Thema Ernährung also viel mehr aktive Produzenten als passive Rezipienten oder Nachfragende von diesem oder jenem Produkt.
Nachhaltige Ernährung als Prozess
Die Verknüpfung zwischen Wissen und Vertrauen stellt die Interdependenz kultureller und soziologischer Faktoren, die Ernährungsentscheidungen beeinflussen, bereits deutlich heraus. Da es sich bei Vertrauen um ein komplexes soziologisches Konstrukt handelt, muss auch der Aufbau von Vertrauen kontextuell verstanden werden. Für Vertrauen spielt vorhandenes beziehungsweise neu aufgebautes Wissen eine wesentliche Rolle, verleiht es doch Sicherheit im Alltagshandeln.
Verbrauchende entwickeln Vertrauen auf vielfältige Art und Weise. Darunter fallen personelle, systemische, kognitive und affektive Formen des Vertrauens,
Urteile und Entscheidungen werden dabei stärker von unbewussten emotionalen Gesichtspunkten beeinflusst als von rational-kognitiven Bewertungen, sodass Menschen oftmals emotionsbasierte Präferenzen für bestimmte Optionen annehmen, ohne diese Entscheidungen rational zu prüfen.
Für die Perspektiven nachhaltiger Ernährung ist es wichtig, dass neben einer umsichtigen Kommunikations- und Bildungsarbeit auch nachhaltigere Angebote erschlossen und ausgebaut werden, weitere Vermarktungs- oder Verfügbarkeitskanäle geschaffen und etablierte Distributionswege effizienter genutzt werden, damit Individuen im Alltag schneller auf Alternativen zurückgreifen können. Für eine langfristige Veränderung individueller Ernährung scheinen drei Faktoren besonders wichtig zu sein: ein "auslösendes Moment", wie etwa Krisen; Information und Wissen über Ernährung, Umwelt, Gesundheit und Tierschutz; sowie Verantwortungsgefühl. Für die Verstetigung eines anderen Lebensstils sind darüber hinaus psychosoziale Kompetenzen wie Selbstkritik und Verbundenheit mit anderen/m zentral.
Der Wandel hin zu einer nachhaltigen Ernährungsform ist eng mit Fragen der gesamtgesellschaftlichen Transformation verknüpft. Explizit scheinen also Beziehungsmuster des Individuums zur Umwelt und zu sich selbst oder auch die Produktionsleistung des einzelnen Haushalts tragend und umsetzend für eine gelingende nachhaltige Ernährung zu sein. Während Ernährung klassischerweise im naturwissenschaftlichen Sinne auf einzelne Substanzen heruntergebrochen wird, deren Anteile in ausreichendem, ausbalanciertem Maße zur Verfügung stehen und nun zudem nachhaltigen Produktionsansprüchen genügen sollten, fehlen in den meisten Betrachtungsweisen die prozessualen, gestalterischen und dynamischen Anteile. Es ist an der Zeit, interdisziplinär nach Lösungen im Sinne eines systemischen Design-Ansatzes zu suchen und diese auch in unterschiedlichen kulturellen Konfigurationen zu verstehen und weiterzuentwickeln.
Ernährung wird uns als Gesellschaft immer "beschäftigen". Vielleicht kann sie, gemäß der umfassenden Definition nachhaltiger Ernährung der FAO, zu einem größeren Wohlbefinden in allen Lebensbereichen führen. Die Einbettung in das soziale Gefüge und deren Institutionen sowie die natürlichen Umwelten sind dafür essenziell.