Was ist gesunde Ernährung? So unterschiedlich diese Frage in der Gegenwart auch beantwortet werden mag, sehr häufig spielen dabei Zahlen eine große Rolle. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung etwa empfiehlt mir in ihren "individualisierten Referenzwertetabellen" den täglichen Konsum von 2100 Kilokalorien, 30 Prozent davon aus Fett, von denen wiederum maximal 10 Prozent aus gesättigten Fettsäuren bestehen sollen. Die Proteinzufuhr, erfahre ich, sollte sich im Bereich von 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht bewegen, und natürlich gibt es auch genaue Angaben zu Vitaminen und Mineralstoffen. Auch die neuesten globalen Ernährungsempfehlungen für eine "Planetary Health Diet" – eine Ernährung, die sowohl gesund für den Menschen als auch nachhaltig für den Planeten ist – kommen quantifiziert daher. Hier wird ein Durchschnittswert von 2500 Kilokalorien am Tag angegeben, mit Gramm- und Kalorienangaben für unter anderem Vollkornprodukte, verschiedene Arten von tierischen und pflanzlichen Proteinquellen, Früchten und Milchprodukten.
Dass gesunde Ernährung in der Gegenwart oft durch Quantifizierungen ausgedrückt wird, ist nicht besonders verwunderlich. "You can’t manage what you can’t measure", drückt eine in der Management-Literatur oft bemühte Wendung den Zeitgeist moderner Quantifizierungen aus. Historiker:innen haben die enorme Bedeutung des Messens vielfältiger Phänomene und Prozesse für die Genese moderner Ordnungen hervorgehoben. Sie haben gezeigt, wie diese Quantifizierungen spezifische Objekte des Regierens hervorbrachten – ob Bevölkerung oder Bruttosozialprodukt – und gerade auch für weltpolitische Anstrengungen eine wichtige Voraussetzung für Regulation darstellten. Im Bereich der Ernährung ist das nicht anders. Das moderne Konzept gesunder Ernährung ist konstitutiv mit der Idee verbunden, dass gesundes Essen gemessen werden kann und auf diese Weise körperliche und soziale Prozesse gesteuert werden können. Wie ich im Folgenden am Beispiel von Proteinen und Kalorien zeigen werde, entstand das moderne Ernährungswissen im Kontext des Bedürfnisses, soziale Gemengelagen zu ordnen. Zudem war es äußerst produktiv darin, auch globale Ordnungen über Quantifizierungen versteh- und regulierbar zu machen und "Welternährung" als Konzept hervorzubringen. Dabei trug gerade die moderne Verve des Messens dazu bei, dass Dicksein als vermeintlich kalkulier- und vermeidbares Problem in Ungnade fiel.
Modernes Ernährungswissen und die soziale Frage
Entscheidende Weichen für das, was wir heute unter gesundem Essen verstehen, wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert gestellt. In diesem Zeitraum entstand das moderne Konzept von Ernährung, das auf die Funktion bestimmter Nahrungsbestandteile im menschlichen Körper fokussiert ist. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts klassifizierten Chemiker die Makronährstoffe, also Kohlenhydrate, Fette und Proteine. Insbesondere Justus Liebig erlangte Einfluss mit seiner Theorie, dass Kohlenhydrate und Fette für die Wärmeproduktion von Körpern verantwortlich seien, während sich deren Muskelkraft aus Proteinen speise. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Ernährungsforschung, noch ganz Domäne der Chemie, primär von diesem Konzept des Stoffwechsels geprägt. Ernährung wurde erstmals als Prozess quantifizierbar, indem ein präzise gemessener Nahrungsinput ins Verhältnis zu einem stofflichen Output – etwa Kohlenstoff und Stickstoff in den menschlichen Ausscheidungen – gesetzt wurde. In den 1880er Jahren forderte die Kalorienforschung das Stoffparadigma heraus und konzeptionalisierte Ernährung als "Kraftwechsel" menschlicher Motoren, die den Energiegehalt von Nahrung in Wärme und Arbeit umsetzten. Mit seinem Isodynamiegesetz wandte der Physiologe Max Rubner den thermodynamischen Energieerhaltungssatz auf Ernährung an und zeigte, dass alle Nahrungsmittel als Energielieferanten austauschbar sind.
Die Entstehung modernen Ernährungswissens wurde indes nicht nur von neuen, zunehmend experimentellen Methoden in der Chemie und einem Interesse am Nachweis thermodynamischer Prinzipien, sondern gleichzeitig auch von einem gewachsenen Interesse an der Ernährung und Gesundheit der Bevölkerung ermöglicht. Sie war Teil der biopolitischen Entdeckung und Verwissenschaftlichung von Körpern und Populationen, die diese seit dem späteren 18. Jahrhundert zu zentralen Objekten politischer Steuerung machten. Wenn Körper in der Physiologie oder Arbeitswissenschaft ergründet und vermessen wurden oder Statistiker Geburts- und Sterberaten erstellten, machte dieses Wissen das Soziale erfass- und mithin regierbar. Die Produktivität dieses Wissens für die Ordnung westlicher Gesellschaften zum fin de siècle war immens. Konzepte von Stoffwechselbilanzen und menschlichen Motoren waren äußerst anschlussfähig in einer Ära, in der mehrere Wellen der Industrialisierung einer kapitalistischen Ökonomie Fragen nach der Sicherung und Steigerung menschlicher Produktivität aufwarfen. So wie es zeitgenössische Prinzipien des scientific management für Fabrikordnungen und Haushalte vorsahen, konnte nun auch in körperliche Prozesse und menschliche Produktivität eingegriffen werden. Das neue, quantifizierte Ernährungswissen versprach, leistungsfähigere Arbeitskräfte kostengünstiger zu ernähren, und bot damit auch neue Antworten auf ein besonders drängendes Problem der Zeit: die soziale Frage.
Ob in Subsistenzunruhen oder in den erstarkenden Arbeiter:innenbewegungen in Europa und den USA: Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Frage von Hunger und Mangelernährung als Frage von zunehmender gesellschaftlicher Sprengkraft artikuliert. Zahlreiche Akteur:innen aus Politik, Industrie und den Gewerkschaften stritten darum, welche Löhne es brauche, damit die Arbeitenden sich ausreichend ernähren konnten. Die Ernährungswissenschaft antwortete auf diesen Problemdruck ganz direkt, wie der Fall der Kalorie zeigt, und nicht zufällig war die grundständige Finanzierung der kalorimetrischen Experimente auf beiden Seiten des Atlantiks an deren praktische Bedeutung für die soziale Frage geknüpft. Die Kalorie machte es nämlich möglich, die Versorgungslage der Arbeitenden aus wissenschaftlicher Perspektive vermeintlich objektiv zu messen. In zahlreichen Ernährungsstudien untersuchten Forscher:innen in Europa und Nordamerika ab den 1880er Jahren, für welche Lebensmittel Arbeiter:innen ihr knappes Budget ausgaben, und analysierten dann Nährstoff- und Kaloriengehalt sowie den Preis der Speisen. Mit dem Konzept des "Nährgeldwertes" – in den USA: "pecuniary economy of food" – bewerteten die Forschenden die gekauften Lebensmittel und die Kaufentscheidungen in Arbeiter:innenfamilien anhand des Verhältnisses von Kalorien und Kosten: Welche Speisen lieferten die meisten Kalorien zum günstigsten Preis? Nicht selten kamen sie dabei zu dem Schluss, dass diese Familien genug Geld für ausreichend Kalorien hätten, wenn sie günstige, kalorienreiche Lebensmittel und preiswerte Proteine kaufen würden. Mangelernährung, so konnten Industrielle und Ernährungswissenschaftler:innen nun argumentieren, sei keine Frage zu geringer Löhne und "wahre[r] Armut", wie es Max Rubner formulierte, sondern Resultat von Unwissen und schlechten Wirtschaftens. Mithilfe der Kalorie ließ sich dies in den Augen der Ernährungsforscher:innen nicht nur unzweifelhaft messen, sondern sie konnte auch eingesetzt werden, um den Familien beizubringen, sparsamer einzukaufen. Haferflocken und Bohnen statt Gemüse und Fleisch – mit diesen Empfehlungen suggerierten sie, dass Arbeiter:innen keine höheren Löhne brauchten, sondern schlicht ihre Haushaltsführung optimieren mussten.
Globales Ordnen über Ernährungswissen
Die Quantifizierung von Makronährstoffen und Kalorien erlaubte es erstmals, die Ernährungsweisen verschiedener Populationen miteinander zu vergleichen. Wissenschaftler:innen und Politiker nutzten dies sogleich mit Blick auf die Ernährungsweisen verschiedener "Völker", "Nationen" und "Rassen". Daran wird deutlich, wie eng und rege die Wechselwirkung zwischen der Ernährungswissenschaft und den Politiken des globalen Ordnens um die Jahrhundertwende war. Im frühen 20. Jahrhundert stritten Wissenschaftler:innen unter anderem um den Proteinbedarf gesunder und leistungsfähiger Körper. In den Auseinandersetzungen ging es nicht nur darum, ob tierische oder pflanzliche Proteine die Leistungsfähigkeit von Menschen bestmöglich sichern – hier waren bereits die Grundzüge gegenwärtiger Debatten um vegetarische Ernährung angelegt. Gerade auch die genauen Zahlen täglicher Proteinbedarfe waren kontrovers. Bis dato waren die Zahlen des Physiologen Carl Voit, der den Eiweißbedarf eines erwachsenen Arbeiters auf 118 Gramm tierisches Protein täglich bezifferte, Standard gewesen. Nun gerieten diese vor dem Hintergrund eugenischer Ängste und eines neuen Interesses an Minimalbedarfen unter Druck. Der Chemiker Russell Chittenden etwa empfahl nur rund halb so viel Protein wie Voit – eine Zahl, die eher an heutige Standards herankommt. Er war davon überzeugt, dass zu viel Protein nicht nur ökonomisch verschwenderisch sei, sondern auch Gesundheit und Leistungsfähigkeit der "menschlichen Rasse" einschränke, indem es eine Belastung von Leber, Nieren und Muskelfunktion nach sich ziehe.
Wie sehr Chittendens Intervention als Herausforderung westlich-weißer Hegemonie verstanden wurde, zeigt eine Rede des Mediziners James Crichton-Browne, die 1908 in der "New York Times" veröffentlicht wurde. Crichton-Browne kritisierte scharf, was er für "übertriebene Sparsamkeit" in Ernährungsfragen hielt, und setzte dies in Bezug zu globalen Hegemonien. Alle "erfolgreichen Rassen und (…) Klassen" zeichneten sich durch einen Konsum von tierischem Protein aus, der "weit über den Chittenden-Standard hinausgeht". Crichton-Browne arbeitete sich nicht nur an den Zahlen ab, sondern attackierte auch zeitgenössische Empfehlungen einer pflanzenbasierten Diät, die Chittenden mit seiner Empfehlung einer proteinarmen Ernährung befördert hatte. Tatsächlich ging es Crichton-Browne explizit um Fleisch: Er sah eine "eindeutige Relation" von Fleischkonsum und "rassischem Erfolg" und veranschaulichte diese mit Verweis auf einen "erstaunlichen Aufstieg" Japans, seitdem die dortigen "wohlhabenden Klassen" deutlich mehr tierische Proteine konsumierten. Fleisch war zeitgenössisch bereits mit Männlichkeit verknüpft, und dessen uneingeschränkter Konsum galt als Privileg oberer Schichten. Nun erklärte Crichton-Browne eine Kausalität von unbeschränktem Fleischkonsum und "rassischem" Erfolg zum evolutionären "Gesetz" – nicht ohne den zeittypischen Verweis auf Charles Darwin.
Zur Hochzeit des Kolonialismus waren solche Erklärungen äußerst produktiv, schienen sie doch die globale Hegemonie der weißen, westlichen Bourgeoisie noch folgerichtiger und objektiv überprüf-, weil sogar bezifferbar zu machen. Der Ökonom und spätere italienische Ministerpräsident Francesco Nitti hatte bereits 1896 die britische Kolonisation Indiens auf diese Weise erklärt: "Wenn wir sehen, wie ein paar Zehntausend wohlgenährte englische Fleischfresser hundert Millionen Hindus unterwerfen, verstehen wir sofort, dass dieses Phänomen genau dieselbe Grundlage hat wie in der Tierwelt, wo die Fleischfresser die Herren und die Pflanzenfresser die Sklaven sind."
Nittis Einlassungen zeigen überdies, dass auch das Kalorienwissen dazu beitrug, globale Differenzen und Hegemonien zu verhandeln. Die Verknüpfung von Kalorienkonsum und Arbeitsproduktivität im thermodynamischen Modell von Ernährung ließ es zu, dass von einem Faktor Rückschlüsse auf den anderen gezogen werden konnten. Nitti zeigte sich in diesem Zusammenhang beeindruckt von Berechnungen, mit denen sich die "Arbeitskraft, die Individuen und Nationen entwickeln können", auf Grundlage ihrer Ernährung bestimmen lasse. Zwar räumte er ein, dass es große individuelle Differenzen zwischen Arbeitenden gebe, bestand aber darauf, dass sich über den täglichen Kalorienkonsum "einfach" berechnen lasse, wie viel Arbeit – Kalorien übersetzt in "Kilogrammmeter" oder "Fuß-Pfunde" – diese leisten konnten. Ein solches Verständnis einer Äquivalenzbeziehung von Energieaufnahme, Leistungsfähigkeit und globaler Stellung war wirksam in zeitgenössischen Rankings des Kalorienkonsums unterschiedlicher Nationen und Gruppen. Ernährungswissenschaftliche Studien evaluierten nicht nur den Kalorien- und Nährstoffkonsum von US-amerikanischen und europäischen Populationen, sie verglichen diese auch mit Erhebungen, die Ethnograf:innen und Missionar:innen in anderen Teilen der Welt gemacht hatten.
1908, im gleichen Jahr wie Crichton-Brownes Rede, veröffentlichte der Chemiker Charles Langworthy vom US-Landwirtschaftsministerium eine Tabelle, in der er Daten zum Kalorienkonsum von Amerikaner:innen, Europäer:innen und "anderen" zusammenführte. An der Spitze der Tabelle thronten die US-amerikanischen weißen "Handwerker" (artisans) mit einem Konsum von 6485 Kilokalorien täglich – eine deutlich höhere Zahl als die der europäischen "Arbeiter" (working men oder laborers), die sich im Gros zwischen 3000 und 4500 Kilokalorien bewegten. Bereits 13 Jahre zuvor hatte Langworthys ehemaliger Chef Wilbur Atwater eine ähnliche Differenz als Beleg dafür beschrieben, dass amerikanische Arbeiter:innen leistungsfähiger waren, weil sie eine "stärker gebaute Maschine und mehr Treibstoff [hätten], um diese zu betreiben". Nun nutzte Langworthy solche Narrative unterschiedlicher energetischer Versorgung und Leistungsfähigkeit, um amerikanische Arbeiter:innen nicht nur von europäischen, sondern auch von Arbeiter:innen etwa aus dem Kongo, Ägypten und den Philippinen abzugrenzen, denen der Konsum von durchschnittlich 2800 Kilokalorien pro Tag zugeschrieben wurde. Ähnliche Tabellen zirkulierten schon eine Weile in Schriften von Chemiker:innen und Ökonom:innen und setzten die Ergebnisse von Ernährungsstudien in Aussagen über "zivilisatorischen" Fortschritt und vermeintlich überlegene weiße Leistungsfähigkeit und westliche Nationen um. Ein niedrigerer Kalorienkonsum wurde zeitgenössisch als Verweis auf eine niedrigere Leistung begriffen.
So normativ diese Berechnungen mithin auch waren: Gleichzeitig muss betont werden, dass das neue, quantifizierte Ernährungswissen gerade über sein Versprechen der Vergleichbarkeit das Projekt Welternährung erst möglich machte. Nahrung wurde nun als Kalorienvorrat oder Eiweißmangel mess- und begreifbar und dadurch die enorme Varietät globaler Ernährungsweisen übersetzbar in scheinbar objektive Berechnungen von Versorgungslagen. Auf diese Weise wurde (gesunde) Ernährung zu einer prinzipiell politisch handhabbaren Ressource, die einen neuen Internationalismus beförderte, weil sie ein globales Krisenmanagement ermöglichte und erforderte. Dies sollte die Erfahrung des Hungerns und der transnationalen Nahrungsmittelhilfe im und nach dem Ersten Weltkrieg für Zeitgenoss:innen bestätigen.
Äquivalenzen von Ernährung und Arbeitskraft machten es außerdem möglich, das Gebot der Sparsamkeit in Arbeiter:innenhaushalten zu konterkarieren, indem höhere Löhne als Garant individueller und nationaler Leistungssteigerungen firmierten. Nitti wandte die Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft auf die politische Ökonomie an, um sich in die Tradition von Ökonom:innen zu stellen, für die "hohe Löhne" statt strenger Entsagungen zu globaler Überlegenheit führten. Er rückte nicht individuelle Moral, sondern Verteilungsfragen in den Vordergrund und stellte in Aussicht, dass der auch körperliche "Gegensatz (…) von reich und arm" schlicht der Effekt ihres unterschiedlichen Zugriffs auf Nahrung sei. Neben Klassengrenzen wurden hier auch zumindest potenziell zeitgenössische "Rassengrenzen" destabilisiert. Durch eine ausreichende und gesunde Ernährung, so suggerierten es Nittis und Langworthys Erklärungen, ließen sich auch "natürliche" Tendenzen korrigieren und aus Kraftlosigkeit Arbeitskraft generieren. Die Idee, dass alle Körper in gleichem Maße menschliche Motoren seien, die Nahrungsenergie und Proteine verwerten, und dass sich auch die "fremdeste" Nahrung in Kalorien und Makronährstoffe übersetzen lasse, forderte die Vorstellung gänzlich verschiedener "Rassen" und naturalisierter Ordnungen heraus.
Dicksein als neues Problem
Das neue Wissen um Proteine und Kalorien war noch in anderer Hinsicht folgenreich für bis in die Gegenwart einflussreiche Diskurse und Praktiken um gesunde Ernährung. Die Quantifizierungsbestrebungen der Ernährungswissenschaft trugen um die Jahrhundertwende dazu bei, Schlankheit als neue körperliche Norm zu etablieren, indem sie Körpergewicht als individuell zu kalkulierende und zu bearbeitende Größe erscheinen ließen. Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur das Kalorienzählen recht neu, auch Dicksein war als Problem, dem man durch Diäten begegnen sollte, erst seit Kurzem auf die Agenda eines weißen Bürgertums getreten. Zwar hat die medizinische Kategorie "Adipositas" eine längere Geschichte, aber bis ins späte 19. Jahrhundert hatte sie keinen Einfluss darauf, wie die meisten Menschen ihren Lebensstil oder ihren Körper verstanden. Die zahlreichen Ernährungsempfehlungen, die noch im Laufe des 19. Jahrhunderts individuelle Handreichungen für ein gesünderes Leben versprachen, zielten in den seltensten Fällen auf eine Veränderung des Körpergewichts. Zum einen hatte Dicksein in dieser Zeit auch deutlich positive Konnotationen und konnte für Wohlstand und durchaus auch Gesundheit stehen. Zum anderen dominierte noch ein idiosynkratisches Körperverständnis, in dem Körperform und -zustand von einer komplexen Gemengelage bestimmt und nicht als überindividuell standardisier- und regulierbar galten.
Dies änderte sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Auf beiden Seiten des Atlantiks häuften sich die Diätratgeber, die dem Fett den Kampf ansagten, und es entstand ein Markt für Abnehmprodukte wie Pillen, Salben und Bürsten. Dieser Wandel hatte auch damit zu tun, dass in jenen Dekaden in den meisten westlichen Gesellschaften eine chronische Mangelernährung breiter Teile der Gesellschaft überwunden wurde und die zeitgenössischen Problemnarrative zunehmend um die Gefahren des Überflusses kreisten. In den USA etwa reihte sich die Angst vor Fett nahtlos ein in die Sorge vor einer Verweichlichung weißer Männer, die angesichts steigenden Wohlstands nicht mehr zu harter Arbeit und Landesverteidigung in der Lage schienen. Gleichzeitig wurde die zunehmende Problematisierung von Dicksein durch die Verwissenschaftlichung und Quantifizierung von Körpern und Ernährung möglich und befördert, die nicht nur überindividuelles Wissen über "normale" Körper und die "richtige" Ernährung mit sich brachten, sondern auch das neue Versprechen, dass Individuen durch eigene Anstrengung ihr Körpergewicht kontrollieren und so einem gesellschaftlichen Stigma entgehen konnten.
Dieses Versprechen stand im Vordergrund der neuen Ratgeber, mit denen sich das Kalorienzählen – bis dato auf Fragen von Hungerbekämpfung und institutionellem Management beschränkt – ab den späten 1910er Jahren seinen bis heute festen Platz in der Abnehmliteratur eroberte. Sie verkauften sich massenhaft, indem sie ihren Leser:innen versprachen, dass Körpergewicht kein Schicksal war, sondern mit einer wissenschaftlich fundierten Methode reguliert werden konnte. Abnehmen sei eine "einfache mathematische" Berechnung, schrieb etwa der Diätarzt Robert Rose 1916 auf Grundlage des thermodynamischen In- und Output-Modells der Kalorie, und seine Kollegin Lulu Hunt Peters versprach ihren Leser:innen, dass sie ganz sicher 96 Pfund im Jahr abnehmen würden, wenn sie pro Tag 1000 Kilokalorien einsparten. Niemand müsse mehr daran "scheitern" abzunehmen, suggerierten diese Texte, solange man sich an diese "intelligente" Methode halte.
Aus dem kalorischen Abnahmeversprechen wurde damit aber gleichzeitig eine Pflicht. Peters selbst räsonierte, dass Dicksein durch das neue Ernährungswissen zu einer "Schande" werde, weil das Individuum nun mit dem Wissen ausgestattet sei, wie es schlank werden und bleiben konnte. Wenn das eigene Körpergewicht durch informierte Selbstkontrolle, Disziplin und Mäßigung reguliert werden konnte, schien Dicksein auf eine Vernachlässigung ebendieser bürgerlichen Werte und Pflichten hinzuweisen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der Abnehmdiskurs nicht nur als Teil einer biopolitischen Logik der Produktion gesunder Körper und Bevölkerungen, sondern auch als Ort, an dem die Zugehörigkeit zu einer liberalen Ordnung verhandelt wurde. Die Frage, welche Individuen und Gruppen ihre Körper und Gelüste kontrollieren können (und wollen), führt ins Herz nicht nur liberaler Gesellschaften und ihrer Ein- und Ausschlüsse, sondern auch von globalen Auseinandersetzungen um eine "Adipositaskrise", die nicht selten als Krise liberaler Freiheiten gehandelt wird.
Schluss
Die Genese von quantifiziertem Wissen über gesunde Ernährung ab dem 19. Jahrhundert war also überaus produktiv für Aushandlungen moderner Ordnungen. Das Wissen um Proteine und Kalorien bot neue Antworten auf drängende Probleme des Industriekapitalismus und ermöglichte es im frühen 20. Jahrhundert erstmals, Ernährung als globales Problem zu bearbeiten, weil es die Ernährungsweisen unterschiedlicher Populationen mess- und vergleichbar machte. Auseinandersetzungen über "richtige" und "gesunde" Ernährung bildeten ein Terrain, auf dem anhand von Protein- und Kalorientabellen über globale Hegemonien gestritten wurde. Gleichzeitig veränderten diese Quantifizierungsbemühungen den Blick auf Körper und beeinflussten die Herausbildung körperlicher Normen. So trugen sie zu einem Bedeutungswandel des Dickseins bei, indem sie das Körpergewicht als von kompetenten Individuen kalkulierbar und kontrollierbar erscheinen ließen und Dicksein somit als Vernachlässigung bürgerlicher Pflichten markierten. Der Diskurs um gesunde Ernährung und gesunde Körper, so zeigt sich, hat nicht nur mit ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern ebenso mit den Funktionsweisen liberaler Ordnungen zu tun.