Die Welternährung steht an einem Wendepunkt: Erstmals in der Geschichte der Menschheit gelten mehr Menschen weltweit als überernährt denn als unterernährt. Sowohl der prozentuale Anteil als auch die absolute Zahl an Menschen, deren Gewicht medizinisch als zu hoch klassifiziert wird, steigen kontinuierlich an. Das geschieht längst nicht mehr nur in reichen, sondern auch in immer mehr Schwellen- und Entwicklungsländern. Gleichzeitig verändert sich die Welternährung. Der Anteil an tierischen Fetten in den aufgenommenen Kalorien steigt ebenso an wie der Anteil an einfachen Kohlenhydraten wie Zucker und Weißmehl. Immer mehr Nahrungsmittel landen außerdem gar nicht mehr auf den Tellern beziehungsweise in den Mägen, sondern bereits vorher im Müll. Verbunden ist diese Entwicklung mit wachsenden ökologischen Belastungen. Die Landwirtschaft verbraucht den Großteil des global verfügbaren Süßwassers. Sie ist einer der größten Emittenten von klimaschädlichen Treibhausgasen und maßgeblich für das globale Artensterben verantwortlich.
Die Gleichzeitigkeit von Unterernährung, Überernährung und Klimakatastrophe hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Wissenschaftler*innen und Autor*innen zunehmend einen Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen herstellen. Dabei betrachten sie Adipositas als Teil einer globalen Ernährungskrise. Als zentrale Ursachen für die Gleichzeitigkeit dieser Problemlagen sowie ihre wechselseitige Verstärkung werden das Verhalten der Endkonsument*innen, ihr Überkonsum und ihre Verschwendung verantwortlich gemacht. Mal mehr und mal weniger direkt wird dabei der vermeintlich größere Appetit des dickeren Teils der Weltbevölkerung problematisiert. Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung hat errechnet, dass rund fünf Prozent des globalen Lebensmittelverbrauchs vermeidbar wären, wenn alle heute als übergewichtig klassifizierten Menschen normalgewichtig wären. Dies sei ein Vielfaches der Menge, die benötigt werde, um den Kalorienbedarf der unterernährten Weltbevölkerung zu decken.
Vor diesem Hintergrund diskutiere ich im vorliegenden Beitrag die folgenden Fragen: Wie ist Adipositas aus medizinischer Sicht definiert? Welche Ursachen werden für ein hohes Körpergewicht verantwortlich gemacht und welche Folgen werden ihm zugeschrieben? Wie wird Adipositas gemessen und welche Kritik gibt es daran? Woher kommt die Wahrnehmung von hohem Körpergewicht als einer "Epidemie" und wie wird politisch darauf reagiert? Sind Unterernährung, Klimawandel und ein hohes Körpergewicht Teil desselben Problems? Wie wird in unserer Gesellschaft mit Mehrgewichtigkeit umgegangen und welche Folgen hat das für Betroffene?
Medizinische Definition
Adipositas ist definiert als multifaktoriell bedingte polygenetische Störung der Energieregulation, die zu lebenszeitverkürzenden Erkrankungen führen kann. Das relative Körpergewicht ist dabei nur einer von mehreren für die Diagnose relevanten Faktoren. Das bedeutet, dass Menschen mit einem relativ hohen Body Mass Index (BMI), aber ohne weitere metabolische Risiken als gesund gelten, Menschen mit einem vergleichsweise niedrigen BMI, aber vielen metabolischen Risikofaktoren hingegen als krank.
Die Ursachen für Adipositas sind vielfältig. Eine entscheidende Rolle spielen die Gene, wobei nur ein geringer Anteil der Fälle nach heutigem Wissensstand monogenetisch bedingt ist, also ausschließlich aufgrund eines Defekts in einem einzelnen Gen auftritt. Hohes Körpergewicht kann, muss aber nicht mit einer vermehrten Nahrungsaufnahme einhergehen. Wenn etwa aufgrund genetischer Veranlagungen die Hunger-Sättigungs-Relation gestört ist und die Betroffenen hormonell bedingt unter Dauerhunger leiden, geht dies tatsächlich mit einer höheren Nahrungsaufnahme einher. Häufig ist ein hohes Körpergewicht aber auf einen besonders effizienten Stoffwechsel zurückzuführen, der in der Evolution einen Überlebensvorteil darstellte. In diesen Fällen nehmen dicke Menschen sogar weniger Kalorien zu sich als dünne Menschen mit ineffizientem Stoffwechsel.
Ein Teil der Fälle ist auf psychologische Ursachen zurückzuführen. Psychosoziale Probleme, negativer Stress, Schlafmangel und damit einhergehende hormonelle Störungen werden als Ursachen für eine Gewichtszunahme genannt. Manche Menschen kompensieren psychische Belastungen mit Überernährung und entwickeln Essstörungen. Als Beispiel dafür gilt das Binge-Eating-Syndrom. Betroffene leiden unter Essattacken und nehmen innerhalb kurzer Zeit hohe Kalorienmengen zu sich. Auslöser des Binge-Eating-Syndroms ist aber längst nicht immer die Kompensation negativer Gefühle, sondern häufig eine körperliche Abwehrreaktion auf den gescheiterten Versuch, mit Reduktionsdiäten Gewicht zu verlieren.
In Einzelfällen können Nebenwirkungen von Medikamenten, insbesondere Psychopharmaka, eine kurzfristige Gewichtszunahme hervorrufen. Mittlerweise weist zudem eine Vielzahl von Studien auf die Aufnahme von Mikroplastik und anderen gesundheitsschädlichen Chemikalien über Nahrung und Trinkwasser als Ursache für eine starke Gewichtszunahme bei Menschen mit entsprechender genetischer Veranlagung hin.
Auf der Makroebene wird die Frage, wie viele Menschen von einem hohen Körpergewicht betroffen sind, durch Umweltfaktoren beeinflusst. Hierzu zählt neben dem Sonderfall schädlicher Chemikalien vor allem die Veränderung der Lebensumwelt in Bezug auf Ernährungs- und Bewegungsangebote. Die damit einhergehende Gewichtszunahme vieler Menschen wird heute als "Adipositas-Epidemie" bezeichnet. Der Begriff impliziert nicht nur, dass die Ursachen für die Gewichtszunahme so vieler Menschen mit medizinischen und psychologischen Modellen allein nicht zufriedenstellend erklärt werden können, sondern auch, dass sie nicht länger durch isolierte Maßnahmen dieser Fachdisziplinen zu bekämpfen sind.
Body Mass Index
Obwohl aus medizinischer Sicht das relative Körpergewicht nur eines von mehreren potenziellen Symptomen für Adipositas ist, bildet es in der Öffentlichkeit die alleinige Basis für die Wahrnehmung von Adipositas als globalem Gesundheitsproblem. Der BMI ist definiert durch die Formel Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat. Nach den weltweit gültigen Grenzwerten der WHO sind BMI-Werte unterhalb von 18,5 als Untergewicht, Werte von 18,5 bis 25 als Normalgewicht, Werte von 25 bis 30 als Übergewicht und Werte über 30 als Adipositas definiert. Aktuell gilt weltweit jeder vierte Mensch nach WHO-Definition als übergewichtig und jeder zehnte als adipös. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der Menschen mit einem BMI von mehr als 30 verdoppelt, während die Weltbevölkerung insgesamt um weniger als ein Drittel gewachsen ist.
Der BMI wurde ursprünglich nicht zur Messung gesundheitlicher Risiken konzipiert. Sein Erfinder, der belgische Astronom und Statistiker Adolphe Quetelet, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Soziale Physik begründete, argumentierte in seinem gleichnamigen Hauptwerk, dass soziale Phänomene wie biologische innerhalb einer Gesellschaft immer normalverteilt seien. Folglich weise jede Gesellschaft ein gewisses Maß an Suiziden, Scheidungen, unehelichen Geburten, Diebstählen und Morden auf, und unerwünschte Phänomene ließen sich weniger durch moralphilosophische Erörterungen als mithilfe statistisch belegter Kausalzusammenhänge erklären und dann gegebenenfalls auch verändern. Ein für Quetelets Arbeiten eher unbedeutendes Detail bei der Konstruktion seines homme moyen (Durchschnittsmenschen) war die Konzeption eines größenabhängigen Körpergewichts, das er auf Basis von Daten entwickelte, die er bei der Vermessung schottischer Rekruten gewonnen hatte.
Rund hundert Jahre später – die Sorge um Fett in der Nahrung und am Körper war längst zum gesellschaftlichen Dauerthema geworden – griff der US-amerikanische Ernährungswissenschaftler Ancel Keys den in Vergessenheit geratenen Quetelet-Index wieder auf und gab ihm den griffigen Namen "Body Mass Index", allerdings zunächst noch, ohne konkrete Grenzwerte festzulegen. Zu jener Zeit orientierten sich Mediziner*innen an Faustregeln wie dem Broca-Index
Allerdings verwendeten die staatlichen Gesundheitsinstitute in den USA bis 1998 noch auf eigenen Daten beruhende geschlechtsspezifische BMI-Grenzwerte, und diese lagen insbesondere im Übergewichtsbereich deutlich höher als die Grenzwerte der WHO. Die Absenkung der Grenzwerte auf das internationale Niveau führte dazu, dass über Nacht mehr als 35 Millionen bis dahin als normalgewichtig eingestufte US-Amerikaner*innen für übergewichtig erklärt wurden.
Umstritten sind die heute gültigen Grenzwerte aber vor allem deshalb, weil der BMI ganz grundsätzlich kein geeignetes Werkzeug für die Feststellung gesundheitlicher Risiken ist. Der BMI korreliert nur mit dem Körperfettanteil, erlaubt aber keine Unterscheidung zwischen Fett und Muskelmasse. Das führt unter anderem dazu, dass zum Beispiel Kraftsportler*innen und Bodybuilder*innen fast immer einen BMI im Adipositasbereich aufweisen. Vor allem aber kann der BMI keine Aussagen über die Körperfettverteilung treffen, die für die Einschätzung gesundheitlicher Risiken entscheidend ist.
Es herrscht kein Konsens darüber, ab welchen BMI-Werten die Lebenserwartung beeinträchtigt wird. Für den Bereich des Übergewichts (BMI 25–30) und auch für die "moderate Adipositas" (BMI 30–35) wird ein negativer Einfluss auf die Lebenserwartung gegenüber dem Normalgewicht schon länger infrage gestellt. Während für den Bereich BMI 25–30 viele Epidemiolog*innen sogar eine längere Lebenserwartung als für Menschen im Normalgewichtsbereich (BMI 18,5–24,9) konstatieren, ergeben sich für den BMI-Bereich 30–35 keine signifikanten Veränderungen. Diese Ergebnisse haben zwar der fachlichen Überprüfung wiederholt standgehalten, umstritten sind sie dennoch. Sie würden das Gefahrenbewusstsein innerhalb der Bevölkerung für ein hohes Körpergewicht trüben, so ein häufig geäußerter Vorwurf.
Narrativ der "Adipositas-Epidemie"
1994 stellte das US-amerikanische Gesundheitsinstitut Center for Disease Control and Prevention (CDC) einen unerwarteten Anstieg des BMI in der US-Bevölkerung fest. Everett Kopp, einst oberster Gesundheitsbeauftragter unter US-Präsident Ronald Reagan, sprach in einer Presseerklärung angesichts dieser Zahlen erstmalig im Zusammenhang mit hohem Körpergewicht von einer Epidemie. Fast zeitgleich verglich der damalige Vorsitzende der Adipositasfachgesellschaft Obesity Society, Xavier Pi-Sunyer, im Editorial einer medizinischen Fachzeitschrift den Gewichtsanstieg in den USA mit dem Ausbruch einer Infektionskrankheit. 1997 übernahm auch die WHO das Wording.
Der Begriff "Epidemie" beschreibt den örtlich begrenzten Ausbruch einer Infektionskrankheit. Diese Definition trifft nicht auf den weitverbreiteten Gewichtsanstieg in der Bevölkerung zu. Dennoch wurde die Bezeichnung eines hohen Körpergewichts als "Epidemie" im Kontext des "Adipositas-Epidemie"-Narrativs bald wörtlich genommen. Bereits 2003 beschrieb die WHO die weltweite Verbreitung adipositasfördernder Ernährungs- und Bewegungsmuster infolge von Veränderungen der Lebensumwelt als Risikoverhaltensweisen, die in raschem Tempo immer mehr Länder befielen und weltweit Krankheitsmuster beeinflussten.
Wie diese Beispiele zeigen, hat sich die Darstellung der "Adipositas-Epidemie" im Laufe ihrer Problemkarriere von einer Metapher – "Adipositas verbreitet sich so schnell und hat so gravierende Folgen wie eine Epidemie" – zu einer faktischen Gleichstellung – "Adipositas ist eine Epidemie" – gewandelt. Und das nicht nur, weil die Folgen von Fettleibigkeit als ebenso fatal gelten wie die schwerer Infektionskrankheiten, sondern vor allem deshalb, weil ein hohes Körpergewicht als hochansteckend gilt, auch wenn die Übertragung statt durch Viren und Bakterien durch Verhaltensweisen und eine Veränderung der Lebensumwelt verursacht wird. Folgen dieser Entwicklung werden vor allem in der Zunahme von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes Typ II, Herzkreislauf- und einigen Krebserkrankungen gesehen.
Nachdem sich die Sprachregelung von der "Adipositas-Epidemie" und ihre wortwörtliche Auslegung etabliert hatten, waren der Fantasie bei der Beschreibung ihrer vermeintlichen Folgen bald keine Grenzen mehr gesetzt. Der oberste Gesundheitsbeauftragte unter US-Präsident George W. Bush, Richard Carmona, stellte den Anstieg des Körpergewichts als Gefahr für die nationale Sicherheit dar, die die Ereignisse des 11. September 2001 in den Schatten stelle und die Verteidigungsfähigkeit der Nation untergrabe.
Heute scheint es so, als hätten sich die Prognosen zumindest zum Teil bewahrheitet: Die Zahl der hochgewichtigen Menschen ist global stark angestiegen, und auch wenn in vielen frühzeitig industrialisierten Ländern der Anteil der Bevölkerung mit einem BMI oberhalb der WHO-Grenzwerte längst nicht so schnell gewachsen ist, wie einst vorhergesagt, spricht wenig für einen Rückgang auf das Niveau vor der Jahrtausendwende. In den USA, die immer noch als Hotspot der "Adipositas-Epidemie" gelten, ist gegenüber anderen entwickelten Ländern sogar tatsächlich ein relativer Rückgang der Lebenserwartung festzustellen: 2021 lag die Lebenserwartung der US-Amerikaner*innen mit 76 Jahren exakt so hoch wie 1996, also zum vermeintlichen Beginn der "Adipositas-Epidemie".
Wenn es um die Frage nach den Ursachen für dieses in Zeiten von Frieden und Wirtschaftswachstum in der jüngeren Geschichte einmalige Phänomen geht, fehlt das Stichwort "Adipositas-Epidemie". Der US-amerikanische Sonderweg in Sachen Lebenserwartung wird heute unter dem Framing diseases of despair (Krankheiten der Verzweiflung) diskutiert. Darunter werden in erster Linie die Folgen von Opiatmissbrauch und Alkoholismus sowie Suizide zusammengefasst,
"Adipositas-Epidemie" als politisches Problem
Mit der Ausrufung der "Adipositas-Epidemie" in den 1990er Jahren wurde hohes Körpergewicht verstärkt als ein Problem verstanden, aus dem sich politischer Handlungsdruck ergab. Viele der vorgeschlagenen Maßnahmen folgten dem Prinzip der Eigenverantwortung. Darunter fallen Forderungen nach einer stärkeren finanziellen Beteiligung von dicken Menschen an ihren medizinischen Behandlungskosten, um so das "richtige" Verhalten hervorzurufen.
Wesentlich seltener werden dagegen Maßnahmen gefordert, die soziale Ungleichheit beim Zugang zu einer gesundheitsförderlichen Ernährungs- und Bewegungsumwelt reduzieren könnten. Dazu zählen zum Beispiel kostenloses und hochwertiges Schulessen, verkehrsberuhigte Zonen in Wohngebieten, gut zugängliche, sichere und multifunktional nutzbare Parks für alle sowie soziale Sicherheit, die die Ursachen für psychosozialen Stress reduziert und mehr finanziellen Spielraum für arme Menschen garantiert, damit sie nicht länger an Grundnahrungsmitteln sparen müssen.
In der politisch-medialen Debatte stellt sich das freilich anders dar. In der Diskussion um den Rückbau des Sozialstaats Anfang der 2000er Jahre etwa wurde die Tatsache, dass arme Menschen in reichen Ländern häufiger dick sind als Wohlhabende, als Argument dafür angeführt, dass es an Geld offensichtlich nicht fehle, wohl aber an der notwendigen Eigenverantwortung.
Globale Syndemie
Das "Adipositas-Epidemie"-Narrativ hat die Deutung von hohem Körpergewicht als einem gravierenden Gesundheitsproblem in der Bevölkerung fest verankert. Relativ neu und weniger etabliert hingegen ist die Wahrnehmung, dass hohes Körpergewicht, Welthunger und Klimawandel Phänomene sind, die sich gegenseitig beeinflussen und wechselseitig verstärken.
Von den Betroffenen werden diese Behauptungen als diskriminierend empfunden. Sie sind aber auch irreführend. Adipositas ist schlicht das falsche Symbol für Überfluss, Verschwendung und damit einhergehende negative Folgen für die Welternährung und das Weltklima. Ein hohes Körpergewicht ist heute auch in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern kein Zeichen mehr für Reichtum, sondern für relativen Mangel. Während derzeit jeder zehnte Mensch auf der Welt unter Hunger leidet und über seine tägliche Ernährung nicht ausreichend Kalorien erhält, hat gleichzeitig jeder vierte Mensch lediglich Zugang zu einer Ernährung, die zwar meist ausreichend Kalorien, aber selten genügend Nährstoffe beinhaltet. Diese Form der Mangelernährung geht insbesondere dann, wenn sie auf entsprechende genetische Prägungen trifft, häufig mit einem hohen relativen Körpergewicht einher. So erklärt sich, warum Länder wie Ägypten einerseits von der UN-Ernährungshilfe unterstützt werden und andererseits eine der weltweit höchsten Raten für Übergewicht und Adipositas aufweisen. Diese Gleichzeitigkeit von Hunger und Hochgewicht innerhalb einer Gesellschaft, die oft mit einer kohlenhydratreichen, aber nährstoffarmen Mangelernährung einhergeht, wird in der Fachliteratur als double burden bezeichnet.
Die Tatsache, dass ein hohes Körpergewicht nicht nur in reichen, sondern zunehmend auch in ärmeren Ländern ein Symbol für relative Armut ist, während in noch ärmeren Ländern weiterhin auch Hunger und Untergewicht grassieren, lässt sich auf die immanenten Anreizsysteme eines Wirtschaftssystems zurückführen, in dem es finanziell lukrativer ist, relativ armen Menschen weiterverarbeitete, nährstoffarme und kalorienreiche Massenware zu verkaufen als noch ärmeren Menschen unverarbeitete Grundnahrungsmittel. Hunger und einer nicht notwendigerweise, aber häufig mit hohem Körpergewicht einhergehenden Mangelernährung liegen die gleichen Ursachen zugrunde: die systemisch bedingten Probleme des globalen Kapitalismus, der zwar in der Lage ist, für eine wachsende Weltbevölkerung Nahrungsmittel im Überfluss zu produzieren, aber gleichzeitig elementare Grundbedürfnisse nur dann befriedigen kann, wenn für diese auch eine adäquate Kaufkraft vorhanden ist. Nicht die dekadenten Dicken essen den Hungernden dieser Welt also etwas weg. Vielmehr herrscht ein Überfluss an Lebensmitteln, die aber extrem ungleich verteilt sind und bei deren Herstellung die Natur und das Klima mehr belastet werden, als es für eine adäquate Versorgung der Weltbevölkerung notwendig wäre.
Bulimische Ökonomie
Die gesellschaftliche Problematisierung dicker Körper kann an eine über hundert Jahre währende, kulturell tief verankerte Abneigung gegenüber dicken Menschen in der westlichen Welt anknüpfen. Diese wurde nicht zuletzt durch unsere medial geprägten Sehgewohnheiten beeinflusst und hat in den vergangenen Jahrzehnten über das Fernsehen und Soziale Medien einen globalen Siegeszug angetreten. Egal um welches Thema oder Genre es sich gerade handelt: Fast immer werden uns in den Medien attraktive, gesunde und erfolgreiche Menschen als schlank präsentiert und dicke Menschen als ihr Gegenteil. Mit Verweis auf das Phänomen hohes Körpergewicht lässt sich zudem die Verantwortung für eine Vielzahl von sozialen Problemen individualisieren.
Darüber hinaus bietet das "Adipositas-Epidemie"-Narrativ Potenzial für weiteres Wirtschaftswachstum. Die Soziologin Julie Guthman bezeichnet unsere gegenwärtige Konsumgesellschaft als eine "bulimische Ökonomie".
Die Medizinindustrie wiederum zeigt Menschen, die sich zu dick fühlen, eine individuelle Lösung auf, scheinbar unabhängig von ihrer genetischen Prägung, ihrer Lebensumwelt und ihrem jeweiligen Verhalten. Für Menschen mit hohem BMI bietet die sogenannte bariatrische Chirurgie Interventionen an, bei der das Magenvolumen durch verschiedene Eingriffe verkleinert wird. Aber auch Menschen, die sich nur ein bisschen zu dick fühlen, werden von der Pharmaindustrie Hilfestellungen angeboten. Die neueste Generation dieser Medikamente, die auf dem Wirkstoff Semaglutid basieren und zur Behandlung von Diabetes Typ II entwickelt wurden, haben zuletzt einen regelrechten Goldrausch ausgelöst. Semaglutidpräparate werden von Prominenten wie dem Tesla-Chef Elon Musk in Sozialen Medien als Wundermittel zur Gewichtsabnahme beworben, obwohl sie für diesen Zweck bislang nicht zugelassen sind. Ihre Einnahme führt nicht nur zu einer Reihe unangenehmer Nebenwirkungen, sie können auch nicht abgesetzt werden, ohne dass eine erneute Gewichtszunahme droht.
Maßnahmen der bariatrischen Chirurgie und Pharmazeutika zur Gewichtsreduktion bescheren zwar der Medizinindustrie hohe Umsätze, sind aber bislang gänzlich ungeeignet, einen relevanten Beitrag zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit zu leisten. Zum einen sind die Abnehmerfolge oft nur temporär. Zum anderen beruhen die Probleme dicker Menschen zu einem großen Teil auf Stigmatisierungserfahrungen, die von ebenjener gesellschaftlichen Kultur hervorgerufen werden, die dafür verantwortlich ist, dass metabolisch gesunde Menschen überhaupt auf die Idee kommen, sich diesen Behandlungen auszusetzen.
Stigmatisierung und Diskriminierung – egal in welchem Bereich und aus welchen Gründen – gelten als maßgebliche Risikofaktoren für gesundheitliche Probleme. Studien zeigen, dass dicke Menschen, die Gewichtsdiskriminierung erfahren, unter größeren gesundheitlichen Problemen leiden als dicke Menschen, für die Gewichtsdiskriminierung im Alltag keine oder nur eine geringe Rolle spielt.