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Welternährung Editorial Einführung in das Welternährungssystem Kleine Geschichte des internationalen Kampfes gegen den Hunger Eine Welt ohne Hunger bis 2030? Stand und Perspektiven für das Sustainable Development Goal 2 Adipositas – eine globale Ernährungskrise? Gesundes Essen messen. Proteine, Kalorien und die Geschichte des Diskurses um gesunde Ernährung Von Wissen, Vertrauen und Ernährungsumwelten. Gesellschaft und Bildung für nachhaltige Ernährung

Kleine Geschichte des internationalen Kampfes gegen den Hunger

Heike Wieters

/ 16 Minuten zu lesen

Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein breites Netzwerk zur Bekämpfung von Hunger herausgebildet. Mit den Akteuren und ihren Hilfspraktiken wandelten sich die Erklärungsmuster für die Persistenz eines Problems, das zunehmend auch als globale Herausforderung verstanden wird.

Die Geschichte des internationalen Kampfes gegen den Hunger ist je nach Perspektive sehr lang oder vergleichsweise kurz. Lang ist sie, wenn ganz grundsätzlich menschliche Versuche, eine stabile Versorgung mit Nahrungsmitteln zu erreichen, in den Blick genommen werden. Der periodisch wiederkehrende oder andauernde Nahrungsmangel, sei es durch Missernten, klimatische Extremereignisse, politische Konflikte, Marktverwerfungen oder gar absichtliche Verknappung, lässt sich über Jahrtausende zurückverfolgen und ist daher in gewisser Weise so alt wie die Menschheit selbst. Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass "Hunger" – verstanden als "Mangel an Nahrungsmitteln, der unmittelbar zu erhöhter Sterblichkeit durch Verhungern oder hungerbedingte Krankheiten" führt – damit unausweichlich und quasi "natürlich" wäre: Denn der jeweilige gesellschaftliche Umgang mit akutem oder chronischem Nahrungsmangel und die Art und Weise, wie Zugang zu knappen Ressourcen organisiert wurde, mithin also, wie Hunger "bekämpft" wurde, unterschied sich im Einzelfall durchaus stark. Ob Obrigkeiten, Stadtverwaltungen, religiöse und berufsständische Organisationen oder wohlhabende Einzelpersonen helfend einschritten – und wenn ja, wann –, wie Nahrungsmittel besteuert wurden, ob Hilfe auf der Ebene der Betroffenen selbst organisiert und wer dabei ein- oder ausgeschlossen wurde, welche Rolle Landbesitz und (Subsistenz-)Ackerbau spielten und wie die Märkte und MarktteilnehmerInnen auf Verknappung wichtiger Lebensmittel reagierten, lässt sich nicht pauschal zusammenfassen. Insofern haben Hungerkrisen stets eine ganz eigene komplexe Geschichte, müssen mit Blick auf alle beteiligten Akteure sowie lokale Spezifika analysiert werden und können entsprechend nur multikausal erklärt werden.

Relativ kurz ist die Geschichte des internationalen Kampfes gegen den Hunger dann, wenn die Bedeutung des Wortes "international" wörtlich genommen wird. Denn tatsächlich entstanden Nationalstaaten im eigentlichen Sinne erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, auch wenn sich ein System mehr oder weniger souveräner Staaten bereits im Nachgang des Westfälischen Friedens von 1648 herausgebildet hatte. Die Regierungen der (National-)Staaten wurden in der Folge zunehmend für den Umgang mit Hungerkrisen und Versorgungsengpässen verantwortlich; die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und die Organisation von Maßnahmen zur Hungerprävention – etwa eine umsichtige Agrarpolitik, öffentliche Aufsicht über Lebensmittelpreise oder staatliche Versorgungsanstrengungen im Krisenfall – wurden zu einer wichtigen nationalen Aufgabe. In den Fällen allerdings, in denen Hungerkrisen so schwerwiegend waren, dass lokale oder nationale Institutionen keine ausreichende Hilfe bereitstellen konnten, wurden diplomatische Beziehungen zwischen Staaten mobilisiert und internationale Hilfe erbeten.

19. Jahrhundert: Der Hunger der Anderen

Ein vergleichsweise frühes und prominentes Beispiel hierfür sind die internationalen Hilfsaktivitäten während der Irischen Hungersnot (1845–1852), die Schätzungen zufolge fast eine Million Todesopfer forderte und zu einer Auswanderungswelle führte, durch die Irland gut ein Viertel seiner Bevölkerung einbüßte. Nachdem bereits die Folgen der Kartoffelfäule 1845 internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, wurden nach der zweiten dramatischen Missernte 1846 sowohl ausländische Regierungen als auch zahlreiche private Hilfsorganisationen und Auswanderernetzwerke aktiv. Sie mobilisierten umfangreiche Hilfslieferungen, die allerdings nicht ausreichten, um die Hungersnot in Irland schnell zu beenden.

Die Irish Famine gilt in der Forschung als letzte große (west)europäische Hungersnot. Die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft und das Ansteigen der landwirtschaftlichen Erträge durch Düngemittel und moderne Anbauverfahren verbesserten die Versorgungslage sukzessive. Insgesamt verschaffte auch der wirtschaftliche Aufschwung in Europa den Regierungen mehr Spielräume für den Zukauf von Nahrungsmitteln. "Von wenigen Ausnahmen abgesehen, war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Hunger zumindest in Nordwesteuropa überwunden." Auch wenn Mangelernährung und wiederkehrende Phasen der Unterversorgung mit Nahrungsmitteln durchaus noch eine Rolle spielten – insbesondere für Arme und nicht dauerhaft Beschäftigte in den urbanen Zentren – kam es nicht mehr zu dramatischen flächendeckenden Anstiegen hungerbedingter Sterblichkeit.

Dieser Befund gilt allerdings nicht für außereuropäische Regionen, insbesondere für die europäischen Kolonien im 19. Jahrhundert. So führte in Teilen des Britischen Empire das Zusammenwirken der erzwungenen Einführung neuer, vermeintlich moderner Produktionsregime und wirtschaftspolitischer Prinzipien mit Klimaphänomenen wie El Niño–Southern Oscillation zu eng aufeinanderfolgenden Hungerkatastrophen, etwa in Indien, China, Brasilien, Teilen Ozeaniens und Südostasiens, in deren Folge schätzungsweise weit über 30 Millionen Menschen starben. Auch wenn die Weltöffentlichkeit dies durchaus wahrnahm – vor allem über die Hungerkrisen in Indien wurde in der Presse ausführlich berichtet – und es zu umfangreichen internationalen Hilfskampagnen kam, hatte weder die internationale Gemeinschaft noch die Britische Krone diesen zum Teil mitverschuldeten Hungersnöten substanziell etwas entgegenzusetzen.

Es ist durchaus erstaunlich, dass sich bereits im 19. Jahrhundert internationale Netzwerke bildeten, die auf Hungerkatastrophen außerhalb Europas und der USA reagierten. Zahlreiche karitative Organisationen, Missionsgesellschaften und Verbände begannen, zunächst noch vollkommen unreguliert, staatliche und private Mittel zu mobilisieren, um den "Kampf gegen den Hunger" auch international zu organisieren. Es wurden Geld- und Sachspenden gesammelt, Freiwillige meldeten sich für den Missionsdienst und engagierten sich im Kampf gegen die Not in der Ferne.

Dabei wies der Umgang der Philanthropen und Missionare mit den Hungernden in den Kolonien durchaus Parallelen zum etablierten Umgang mit armen und von Nahrungsmangel bedrohten Bevölkerungsschichten auf dem europäischen Kontinent auf: Hilfskampagnen und Nahrungsmittellieferungen wurden wie früher bereits in kontinentalen Suppenküchen oder Arbeitshäusern häufig mit einem erzieherischen oder religiösen Auftrag verbunden. Der Grund für Armut und Hunger wurde implizit stets auch bei den Betroffenen selbst gesucht, in vermeintlich fehlender Disziplin, lasterhaftem Lebenswandel und überkommenen Vorstellungen und Verhaltensweisen. Im Vordergrund vieler Programme stand daher oft eher die Beseitigung der den Hunger vermeintlich begünstigenden Charakterschwächen und Unwissenheiten der lokalen Bevölkerungen und weniger die Hilfe an sich. Der internationalen Hungerhilfe sowohl zwischen Staaten als auch durch Missionsgesellschaften oder humanitäre und karitative Organisationen, die sich im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zunehmend etablierte, haftete so von Beginn an eine gewisse Asymmetrie an. So wichtig und unter humanitären Gesichtspunkten geboten Hungerhilfe im Einzelfall war – asymmetrische Beziehungen zwischen Spendern und Empfängern von Hilfe waren bereits im 19. Jahrhundert vorhanden und resultierten nicht nur aus der konkreten materiellen Überlegenheit, sondern auch aus einem gewissen moralischen Überlegenheitsgedanken der Gebenden.

Festhalten lässt sich, dass Hunger zum Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA zumindest vorübergehend zu etwas geworden war, das vor allem "die Anderen" betraf: die Bevölkerungen in den europäischen Kolonien oder Menschen in fernen Ländern, die sich vermeintlich den Segnungen der Moderne und des rationalen Wirtschaftens entzogen.

1914–1945: Rückkehr des Hungers nach Europa?

Mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verschärfte sich außerhalb wie innerhalb Europas die Versorgungsituation erneut. Dazu trug nicht nur der kriegsbedingt einbrechende Welthandel bei, sondern auch Ernteausfälle durch Düngemittel- und Rohstoffknappheit, kriegerische Auseinandersetzungen oder fehlende Erntehelfer. Auch die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit hinterließ Spuren auf den Tellern derjenigen, die ihre Arbeit und damit ihre Existenzgrundlage verloren. Insbesondere im Zweiten Weltkrieg wurde Hunger beziehungsweise die künstliche Verknappung von Nahrungsmitteln vonseiten der nationalsozialistischen Führung auch als Waffe eingesetzt. In Osteuropa, aber auch in den besetzten Gebieten Südeuropas, wurden ganze Landstriche samt relevanter Ernteerträge systematisch geplündert und vernichtet oder zur Versorgung der eigenen Bevölkerung ins Deutsche Reich verbracht.

Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg wurden jedoch durch zahlreiche staatliche und vor allem private Hilfseinsätze flankiert, die auf eine Eindämmung oder Abmilderung der dramatischen Folgen des Krieges für die europäischen Zivilbevölkerungen zielten. Bereits während des Ersten Weltkrieges wurden insbesondere in den USA Hilfsorganisationen neuen Typs gegründet. Neben bereits bestehenden Organisationen wie den nationalen Rotkreuzgesellschaften fanden sich sowohl religiöse Organisationen wie zum Beispiel die transnational organisierten christlichen Quäker, die als Kriegsdienstverweigerer dringend nach Möglichkeiten suchten, sich helfend an der Bewältigung der Kriegsfolgen zu beteiligen, als auch säkulare Organisationen und Netzwerke zusammen, um internationale Hungerhilfe zu leisten. Dafür wurden zumeist kalorienreiche Lebensmittel in den USA, seltener auch in Nachbarländern, angekauft und mit der Unterstützung lokaler Organisationen an Bedürftige verteilt. Besondere, auch mediale Beachtung fanden die staatlichen Hilfsaktivitäten der vom späteren US-Präsidenten Herbert Hoover geleiteten American Relief Administration, die nach dem Ersten Weltkrieg umfassende Nahrungsmittelhilfe nach Zentral- und Osteuropa lieferte.

Kaum zwei Jahrzehnte später führte der Zweite Weltkrieg erneut zu einer sich stetig verschlechternden Ernährungssituation in Europa. Je länger der Krieg andauerte, desto deutlicher wurde, dass ohne internationale Hilfe in vielen Gegenden des europäischen Kontinents eine Hungersnot dramatischen Ausmaßes drohte.

Es gehört zu den bemerkenswerten Dynamiken der letzten Kriegsjahre und vor allem der unmittelbaren Nachkriegszeit, dass sich eine kaum überschaubare Zahl an privaten Hilfsorganisationen gründeten, die in enger Abstimmung mit eigenen und ausländischen Regierungen substanzielle Hungerhilfe leisteten. Hervorzuheben ist etwa die britische Hilfsorganisation Oxfam, die bereits ab 1942 unter der selbst stark vom Krieg betroffenen Bevölkerung Großbritanniens Spenden für notleidende Menschen in Südeuropa, insbesondere in Griechenland, sammelte und verteilte. Auch kanadische und australische Hilfsorganisationen beteiligten sich an der Hunger- und Wiederaufbauhilfe nach dem Krieg, unter anderem im Rahmen der United Nations Relief and Rehabilitation Agency. In den USA, wo sich die allgemeine Ernährungslage trotz des Krieges seit den 1930er Jahren stetig verbessert hatte, wurden nicht nur bereits bestehende Hilfsorganisationen reaktiviert, es gründeten sich auch zahlreiche neue humanitäre NGOs, die sich an der Hungerhilfe beteiligten. Darunter war auch die bis heute bekannte Hilfsorganisation CARE (heute CARE International). Gegründet 1944/45 unter dem Namen Cooperative for American Remittances to Europe versendete die Organisation mithilfe privater Spenden und unterstützt durch öffentliche Zuschüsse der US-Regierung insgesamt fast 100 Millionen Nahrungsmittelpakete nach Europa. Diese trugen substanziell dazu bei, in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Hungerkrise in weiten Teilen des Kontinents abzuwenden. Hervorzuheben ist, dass auch die deutsche Bevölkerung in die privaten und staatlichen internationalen Hilfslieferungen eingebunden wurde. Die gespendeten Nahrungsmittel – im Falle der CARE-Pakete waren dies zunehmend auch begehrte US-amerikanische Konsumgüter – bedeuteten so nicht nur konkrete Hilfe, sondern signalisierten auch einen gewissen Neuanfang, ohne den weder die schrittweise Wiedereingliederung (West-)Deutschlands in die Weltgemeinschaft noch der Aufbau einer transatlantischen Partnerschaft mit den USA denkbar gewesen wäre.

Nach 1945: Globaler Süden im Fokus

Die unmittelbare Hungerkrise nach dem Zweiten Weltkrieg konnte dank internationaler privater und staatlicher Hilfsaktivitäten vergleichsweise schnell bewältigt werden. Dennoch wurden bestimmte Nahrungsmittel teilweise bis in die 1950er Jahre hinein staatlich rationiert und standen nur begrenzt oder auf sogenannten Schwarzmärkten zur Verfügung. Hunger im Sinne unmittelbar "erhöhter Sterblichkeit durch Verhungern oder hungerbedingte Krankheiten" gehörte in Westeuropa jedoch recht schnell wieder der Vergangenheit an.

Stattdessen geriet einmal mehr – nun aber unter den sich schnell zuspitzenden Vorzeichen des Kalten Krieges – die Ernährungssituation auf dem asiatischen, südamerikanischen und afrikanischen Kontinent in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Basierend auf der Vorstellung, dass der in den Industriegesellschaften bereits erreichte Wohlstand regelhaft und stufenweise entstanden sei, wurden nun in West und Ost umfassende Hilfsprogramme entworfen, die den Modernisierungsprozess für die "Nachzügler" beschleunigen sollten. Durch einen zielgerichteten Ausbau von Infrastrukturen und politischen Institutionen sowie die Intensivierung von Handelsbeziehungen und politischen Loyalitäten mit den Geberländern sollte die Entwicklung im Globalen Süden vorangetrieben werden.

Die Ernährungssituation in vielen Entwicklungsländern blieb jedoch prekär und verschärfte sich teilweise trotz oder gerade wegen intensivierter Entwicklungsanstrengungen sogar weiter. Dies zeigen Forschungen sowohl zur Modernisierungspolitik in der Sowjetunion als auch zur Industrialisierungskampagne "Großer Sprung nach vorn", die in China von den Maoisten vorangetrieben wurde und in deren Folge schätzungsweise weit über 35 Millionen Menschen verhungerten. Insbesondere die dramatischen und sich periodisch wiederholenden Hungerkrisen in Südostasien (Indien und Bangladesch) und ab den 1960er Jahren auch auf dem afrikanischen Kontinent (vor allem in der Sahel-Zone, Äthiopien und Nigeria beziehungsweise Biafra) wurden international breit wahrgenommen. Zunehmend war in internationalen Kontexten nun von einem "Welternährungsproblem" die Rede.

Die Gründe für diese per definitionem globale Herausforderung waren laut zeitgenössischen ExpertInnen vielschichtig: strukturelle Unterentwicklung, fehlende politische Verantwortung und Bildung, überkommene Anbaumethoden, ungünstige Landbesitzverhältnisse, klimatische Probleme wie Dürren oder Überschwemmungen und eine angeblich drohende "Überbevölkerung". Ab den 1960er Jahren wurden zunehmend auch Stimmen laut, die auf ungerechte Handelsbedingungen zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern verwiesen. Auch die Kritik an asymmetrischen Verteilungsmustern und Zugangsrechten zu Nahrung, wie sie etwa der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen in seinem Werk "Poverty and Famines" 1981 vertrat, gewann deutlich an Einfluss. Insgesamt wurde sowohl die grenzüberschreitende als auch die politische Dimension von Hungerkrisen angesichts des Überflusses an Nahrungsmitteln, der inzwischen in Teilen der Welt herrschte, zum Thema. Dabei bestand zumindest vordergründig große Einigkeit darin, "den" Hunger, der durchaus als multifaktorielles Problem erkannt wurde, im Verlauf des 20. Jahrhunderts endgültig beseitigen zu wollen.

Dies zeigte sich erstens auf Ebene staatlicher Programme und Institutionen. In fast allen Industrieländern entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ministerien für Entwicklungshilfe und globale Ernährungssicherheit. Institutionell gespiegelt wurde dies in den Empfängerländern, wo internationale Hilfsgelder verwaltet und eigene Entwicklungsprogramme implementiert wurden. Spezifische Hungerhilfe zwischen Staaten wurde dabei auf zwei Ebenen geleistet: einerseits als unmittelbare Nothilfe in akuten Hungerkrisen, andererseits aber auch als dauerhafte Nahrungsmittelhilfe, die oft aus unverkäuflichen agrarischen Überschüssen bestand. Vor allem die US-Regierung und später auch die Europäischen Gemeinschaften setzten in solchen Programmen große Mengen an überschüssigem Weizen, Mais, Butterreinfett, Milchpulver und Käse um, die es den Empfängerregierungen erlaubten, Devisen nicht für Lebensmittel, sondern für Infrastrukturprojekte zu nutzen. Gleichzeitig waren diese Lieferungen bereits früh auch umstritten, da sie potenziell sowohl Konsumgewohnheiten als auch lokale Märkte negativ beeinflussen konnten.

Zweitens entwickelten sich die Vereinten Nationen zu einem zentralen Ort, an dem Debatten über Strategien zur Beendigung der Koexistenz von Hunger und Nahrungsüberschüssen sowohl im globalen Nord-Süd-Kontext geführt wurden als auch mit Blick auf wesentlich kleinere geografische Regionen. Im Rahmen der zahlreichen UN-Sonderorganisationen wie etwa der 1945 gegründeten Food and Agriculture Organization (FAO) oder dem Kinderhilfswerk UNICEF sowie den in den 1960er Jahren gegründeten UN Development Program (UNDP) und World Food Program (WFP) wurden Debatten rund um den Kampf gegen den Hunger ausgetragen, wissenschaftlich und statistisch aufbereitet und dokumentiert. Gleichzeitig wurde Nahrungsmittelhilfe durch die UN selbst zu einer üblichen Praxis. Im Rahmen der 1960 gestarteten UN-Kampagne Freedom from Hunger und später in den Debatten um Nahrung als Menschenrecht wurden zudem staatliche, multilaterale und private Ressourcen gebündelt. Insbesondere die Diskussionen um ein Menschenrecht auf Nahrung, das sowohl in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch in Artikel 11 des bis heute von über 171 Staaten ratifizierten UN-Sozialpaktes verankert ist, speisen sich historisch aus verschiedenen Kontexten. Die Debatten zielten und zielen darauf, Regierungen und internationale Organisationen in die Verantwortung zu nehmen, Hunger effektiver zu bekämpfen. Auf der Ebene der Umsetzung und Einklagbarkeit dieses Rechts klaffen jedoch bis in die Gegenwart hinein große Lücken.

Hungerhilfe wurde und wird drittens auch in großem Umfang von humanitären NGOs geleistet. Interessanterweise etablierten sich viele Hilfsorganisationen der Nachkriegszeit ab den 1950er Jahren schnell als entwicklungspolitische Akteure und verschoben ihren Fokus auf die Entwicklungsländer. Die NGOs CARE und Oxfam sind dafür beispielhaft, unter anderem weil sie ihre Organisationsstrukturen schnell internationalisierten. Doch auch später etablierte Organisationen wie Brot für die Welt (1959) oder die in Frankreich gegründete Action contre la Faim (1979) etablierten erfolgreiche Hilfsprogramme und Kampagnen. Seit den 1980er Jahren sind zudem zunehmend große globale Kampagnen wie Live Aid oder webbasierte Fundraising-Events erfolgreich.

Die Arbeit von NGOs verlief und verläuft dabei auf verschiedenen Ebenen: So kooperieren humanitäre NGOs eng mit Regierungen und internationalen Organisationen, sowohl bei der Umsetzung und Logistik von Hilfsprogrammen als auch in zahlreichen gemeinsamen öffentlichen Foren, in denen über Strategien und praktische Herausforderungen im internationalen Kampf gegen den Hunger debattiert wird. Gleichzeitig verstehen sich viele NGOs als organisierte Stimme der Zivilgesellschaft, die Regierungen und internationale Organisationen zu stärkerem Engagement im Bereich der Hunger- und Nothilfe drängen und entsprechend auch unbequeme Positionen beziehen müssen. Ferner agieren humanitäre und entwicklungspolitische NGOs seit jeher auch als soziale Unternehmen und Arbeitgeber für viele Menschen rund um den Globus. Zudem haben sie einen großen Einfluss auf Hilfspraktiken und die Gestaltung jener Räume, in denen Hilfe geleistet wird. Erfolgreiche Spendenkampagnen dienen so nicht nur dem Kampf gegen den Hunger in der Ferne, sondern sichern stets auch den Fortbestand der Hilfsorganisationen selbst.

21. Jahrhundert: Ende des Hungers?

Der internationale Kampf gegen den Hunger ist auch im 21. Jahrhundert seiner Definition nach grenzüberschreitend. Nicht nur Regierungen, internationale Organisationen und NGOs, sondern auch die globale Zivilgesellschaft selbst sind heute über Medien, Reisemöglichkeiten und Soziale Netzwerke enger miteinander verbunden als je zuvor. Dennoch scheint das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark betonte Ziel einer Beendigung des Hungers in weiter Ferne zu liegen. Wurde in den im Jahr 2000 formulierten Millennium Development Goals der Vereinten Nationen eine Abschaffung von Hunger und extremer Armut bis 2015 noch für realistisch erachtet, zeigen gegenwärtig internationale Statistiken wie der Welthungerindex, dass 2022 kaum Fortschritte im Kampf gegen den Hunger gemacht wurden. Die sich zuspitzende Klimakrise, kriegerische Auseinandersetzungen, sich im globalen Rahmen weiter verschärfende Ungleichheiten sowie die Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie stellen Herausforderungen dar, die die Ernährungssicherheit von Millionen Menschen nachhaltig bedrohen. Zudem ist nicht nur ein gewisser Fortschrittsglaube, der die Debatten um eine Abschaffung des Hungers im 20. Jahrhundert begleitete, ins Wanken geraten, sondern auch das Vertrauen, dass künftige technische Entwicklungen und verbesserte Lebenschancen letztlich allen Menschen zugutekommen werden. Hier gilt es anzusetzen, denn Hunger ist auch im 21. Jahrhundert ein Phänomen, das ohne eine gründliche Analyse seiner spezifischen historischen, sozialen und ökonomischen Entstehungs- und Verlaufskontexte weder verstanden noch wirkungsvoll bekämpft werden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Cormac Ó. Gráda, Making Famine History, in: Journal of Economic Literature 1/2007, S. 5–38, hier S. 5.

  2. Vgl. Dominik Collet/Thore Lassen/Ansgar Schanbacher, Einleitung – Eine Umweltgeschichte des Hungers, in: dies. (Hrsg.), Handeln in Hungerkrisen – Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität, Göttingen 2012, S. 3–9.

  3. Vgl. Declan Curran/Maria Fröling, Large-Scale Mortality Shocks and the Great Irish Famine 1845–1852, in: Economic Modelling 5/2010, S. 1302–1314.

  4. Vgl. Christine Kinealy, The Great Irish Famine. Impact, Ideology and Rebellion, Oxford 2001; Harvey Strum, Pennsylvania and Irish Famine Relief, 1846–1847, in: Pennsylvania History: A Journal of Mid-Atlantic Studies 3/2014, S. 277–299.

  5. Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Bonn 2019, S. 227.

  6. Vgl. Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin u.a. 2005.

  7. Vgl. Georgina Brewis, "Fill Full the Mouth of Famine": Voluntary Action in Famine Relief in India 1896–1901, in: Modern Asian Studies 4/2010, S. 887–918.

  8. Vgl. Sarah Roddy/Julie-Marie Strange/Bertrand Taithe, The Charity-Mongers of Modern Babylon: Bureaucracy, Scandal, and the Transformation of the Philanthropic Marketplace, c. 1870–1912, in: Journal of British Studies 1/2015, S. 118–137.

  9. In der Forschung wurde diese bis dato unbekannte Welle an internationalem humanitären Engagement erst in den vergangenen Jahren hervorgehoben. Vgl. etwa Michael N. Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca 2011; Silvia Salvatici, A History of Humanitarianism, 1755–1989, Manchester 2019.

  10. Vgl. James Vernon, Hunger. A Modern History, Cambridge, MA 2007; Tom Scott-Smith, On an Empty Stomach. Two Hundred Years of Hunger Relief, Ithaca 2020.

  11. Vgl. Frank Adloff, Philanthropisches Handeln. Eine historische Soziologie des Stiftens in Deutschland und den USA, Frankfurt/M. 2010; Emily S. Rosenberg, Missions to the World. Philanthropy Abroad, in: Lawrence Jacob Friedman/Mark Douglas McGarvie (Hrsg.), Charity, Philanthropy, and Civility in American History, Cambridge 2004, S. 241–257.

  12. Vgl. Tatjana Tönsmeyer, Ausbeutung, Hunger, Bewältigungsstrategien. Europäische Erfahrungen mit deutscher Besatzung 1939–1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9/2020, S. 735–746; Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998.

  13. Vgl. Julia F. Irwin, The Disaster of War: American Understandings of Catastrophe, Conflict and Relief, in: First World War Studies 1/2014, S. 17–28.

  14. Vgl. Daniel Roger Maul, "Silent Army of Representatives" – Amerikanische NGOs und die Entstehung internationaler Mechanismen humanitärer Hilfe 1917–1939, in: Christoph Meyer/Sönke Kunkel (Hrsg.), Aufbruch ins Postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt/M.–New York 2012, S. 105–122; Tammy M. Proctor, An American Enterprise? British Participation in US Food Relief Programmes (1914–1923), in: First World War Studies 1/2014, S. 29–42.

  15. Vgl. Matthew Lloyd Adams, Herbert Hoover and the Organization of the American Relief Effort in Poland (1919–1923), in: European Journal of American Studies 2/2009, S. 2–16; Bertrand M. Patenaude, The Big Show in Bololand. The American Relief Expedition to Soviet Russia in the Famine of 1921, Stanford 2002.

  16. Vgl. Maggie Black, A Cause for Our Times. Oxfam, the First 50 Years, Oxford 1992.

  17. Vgl. Susan Armstrong-Reid/David R. Murray, Armies of Peace. Canada and the UNRRA Years, Toronto 2008; Jessica Reinisch, Internationalism in Relief. The Birth (and Death) of UNRRA, in: dies./Mark Mazower/David Feldman (Hrsg.), Post-War Reconstruction in Europe. International Perspectives, 1945–1949, Oxford–New York 2011, S. 258–289.

  18. Vgl. Lizzie Collingham, The Taste of War. World War Two and the Battle for Food, London 2011.

  19. Vgl. Heike Wieters, The NGO CARE and Food Aid from America, 1945–80. "Showered With Kindness"?, Manchester 2017.

  20. Vgl. Karl-Ludwig Sommer, Humanitäre Auslandshilfe als Brücke zur atlantischen Partnerschaft. CARE, CRALOG und die Entwicklung der deutsch-amerikanischen Beziehungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges, Bremen 1999; Heike Wieters, Hungerbekämpfung und Konsumgesellschaft. Das CARE-Paket im Kontext von Massenkonsum und "New Charity"-Konzepten der Nachkriegszeit, in: Angela Müller/Felix Rauh (Hrsg.), Wahrnehmung und mediale Inszenierung von Hunger im 20. Jahrhundert, Basel 2014, S. 113–131.

  21. Vgl. Ina Zweiniger-Bargielowska, Austerity in Britain. Rationing, Controls, and Consumption, 1939–1955, Oxford 2002; Mark Roodhouse, Black Market Britain, 1939–1955, Oxford 2013; Malte Zierenberg, Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008.

  22. Vgl. Sara Lorenzini, Global Development. A Cold War History, Princeton 2020; Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge u.a. 2008; Rossen Djagalov/Christine Evans, Moskau, 1960: Wie man sich eine sowjetische Freundschaft mit der Dritten Welt vorstellte, in: Andreas Hilger (Hrsg.), Die Sowjetunion und die Dritte Welt. UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Krieg 1945–1991, München 2009, S. 83–105.

  23. Vgl. Gilbert Rist, The History of Development. From Western Origins to Global Faith, London 2006.

  24. Vgl. Robert Kindler, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014.

  25. Vgl. Frank Dikötter/Stephan Gebauer, Maos großer Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China (1958–1962), Bonn 2014.

  26. Vgl. David B. Grigg, The World Food Problem, 1950–1980, Oxford–New York 1985; Heike Wieters, Vom eigenen Hunger zum Hunger der Anderen. Die Debatten über das Welternährungsproblem in der Bundesrepublik Deutschland, 1950–1975, in: Collet/Lassen/Schanbacher (Anm. 2), S. 215–245.

  27. Vgl. Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge, MA 2008; Thomas Robertson, Malthusian Moment. Global Population Growth and the Birth of American Environmentalism, New Brunswick 2012.

  28. Vgl. Jörg Roesler, Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Leipzig 2009, S. 118–121.

  29. Zur Rezeptionsgeschichte des Werkes vgl. Florian Hannig, Die soziale Ungleichheit des Hungerns. Amartya Sens "Poverty and Famines" (1981), in: Zeithistorische Forschungen 2/2021, S. 371–377.

  30. Vgl. Christian Gerlach, Hunger in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: APuZ 49/2015, S. 20–26.

  31. Vgl. John Cathie, European Food Aid Policy, Aldershot 1997.

  32. Vgl. Kristin L. Ahlberg, Transplanting the Great Society. Lyndon Johnson and Food for Peace, Columbia 2008; Mitchel B. Wallerstein, Food for War – Food for Peace. United States Food Aid in a Global Context, Cambridge 1980.

  33. Vgl. Edward J. Clay/Olav Stokke (Hrsg.), Food Aid Reconsidered. Assessing the Impact on Third World Countries, London 1995; Christiane Berth, Food and Revolution. Fighting Hunger in Nicaragua, 1960–1993, Pittsburgh 2021.

  34. Vgl. Aaron D. Rietkerk, "The Constructive Use of Abundance": The UN World Food Programme and the Evolution of the International Food-Aid System During the Post-War Decades, in: The International History Review 4/2016, S. 788–813; D. John Shaw, The World’s Largest Humanitarian Agency. The Transformation of the UN World Food Programme and of Food Aid, Basingstoke 2011.

  35. Vgl. Francis Adams, The Right to Food. The Global Campaign to End Hunger and Malnutrition, London 2021.

  36. Vgl. Matthew James Bunch, All Roads Lead to Rome. Canada, the Freedom from Hunger Campaign, and the Rise of NGOs, 1960–1980, Waterloo 2007.

  37. Vgl. Kevin O’Sullivan, The NGO Moment. The Globalisation of Compassion from Biafra to Live Aid, Cambridge 2021.

  38. Vgl. Michelle Jurkovich, Feeding the Hungry. Advocacy and Blame in the Global Fight Against Hunger, Ithaca 2020; Marc Lindenberg/Coralie Bryant, Going Global. Transforming Relief and Development NGOs, Bloomfield 2001.

  39. Vgl. Joël Glasman, Humanitarianism and the Quantification of Human Needs, Abingdon 2020; Lisa Smirl, Spaces of Aid. How Cars, Compounds and Hotels Shape Humanitarianism, London 2015.

  40. Vgl. Deutsche Welthungerhilfe e.V./Concern Worldwide, 2022 Welthunger-Index. Transformation der Ernährungssysteme und lokale Governance, Bonn–Dublin 2022, Externer Link: http://www.globalhungerindex.org/pdf/de/2022.pdf.

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ist Juniorprofessorin für Historische Europaforschung am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
wieterhx@hu-berlin.de