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Wahlkampf in Dauerschleife | Wahlkampf | bpb.de

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Wahlkampf in Dauerschleife Die Ampelkoalition, ihr Ende und dessen Folgen

Julia Reuschenbach

/ 9 Minuten zu lesen

Das vorzeitige Ende der Ampelkoalition war in aller Munde. Nur selten wurde dabei jedoch grundlegend betrachtet, wie marode die politische Diskurskultur hierzulande geworden ist. Ein Plädoyer für Reflexion und echte Kompromisse.

Die selbsternannte "Fortschrittskoalition" ist Geschichte. Es war ein unrühmliches, aber für viele Beobachter:innen wie Beteiligte wohl überfälliges Ende am 6. November 2024 – und letztlich in Stil und Kommunikation ein Abbild dessen, wie sich die Koalition seit Längerem präsentiert hatte. Nun ist Wahlkampf. Wozu also nochmal aufwärmen, was in den medialen Arenen des Landes längst verklungen ist? Wieso erneut diskutieren, was bereits ausführlich diskutiert wurde? Die Antwort: Weil es sich lohnt – für diesen Wahlkampf, wie für zukünftige Wahlkämpfe – aus der Regierungszeit der "Ampel" und ihrem Ende zu lernen.

Wunsch und Wirklichkeit

Wahlkämpfe sind für Parteien in gewisser Weise Wunschzeiten. Fordern, was man umsetzen würde, wenn man die Dinge allein entscheiden könnte. Deutlich machen, was man jüngst in den Koalitionslogiken nicht hat durchsetzen können und doch so wichtig und richtig findet. Kernige Botschaften senden, Inhalte nach vorne stellen, auch einmal kompromisslos auftreten, rote Linien definieren für die Dinge, die zwingend notwendig erscheinen. Aber mit dem Wahltag zieht dann die Wirklichkeit auf und mit dem Wahlergebnis die Anforderung, dass Parteien miteinander gesprächs-, und womöglich eben auch koalitionsfähig sind.

Noch im Spätsommer 2021 sagte Christian Lindner, dass ihm für ein Ampelbündnis auf Bundesebene "jede Fantasie" fehle, eine Ampel ein "inhaltlich und rechnerisch abwegiges Szenario" sei; dann sah die Welt wenige Wochen später ganz anders aus. Wunsch und Wirklichkeit trafen aufeinander – nicht nur bei der FDP. Während des Wahlkampfs waren SPD, Grüne und FDP von einer gemeinsamen Mehrheit lange weit entfernt gewesen. Trennendes – inhaltliche, elektorale wie personelle Differenzen – stand im Fokus der Auseinandersetzung.

Im Sondierungspapier der Parteien klang dies später so: "Wir sind eine Konstellation, die Parteien mit unterschiedlichen Traditionen und unterschiedlichen Sichtweisen zu einem innovativen Bündnis zusammenbringen kann. Wir können einen Beitrag leisten, politische Frontstellungen aufzuweichen und neue politische Kreativität zu entfachen. So schaffen wir einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch auf Höhe der Zeit. Als Fortschrittskoalition können wir die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung stellen." Diesen Wandlungsprozess beschreibt der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder als Kombination aus "fremdbestimmten Zwängen und selbstbestimmten Chancen". Also aus Wunsch und Wirklichkeit das Beste machen – auf den ersten Blick ein naheliegender und kluger Gedanke.

Die Koalition umgab sich mit vielen Neuerungen: Grüne und FDP trafen einander zu "Zitrus"-Sondierungen noch vor den ersten Gesprächen mit der SPD. In der Koalition vereinbarte man die Einrichtung eines neuen "Vor-Kabinetts" und versprach einander, dass man einen neuen Politikstil prägen werde und diskret und vertraulich miteinander arbeiten werde. So sinnvoll viele dieser Maßnahmen bis heute erscheinen, so konnten sie doch schon damals nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Koalitionsbildung eine zentrale Schwachstelle offenbarte. Die ambitionierten Vorhaben des Koalitionsvertrages waren auch schon vor dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022, angesichts dreier finanzpolitisch weitreichend unterschiedlicher Positionen der Koalitionäre, kaum belastbar unterlegt.

Noch am Tag vor der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags im Dezember 2021 wies der damalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert darauf hin, dass sich die Realität leider manchmal nicht an den Koalitionsvertrag halte, und forderte, Parteien müssten für diese Situation intellektuell vorbereitet sein. Wenngleich es Kühnert dabei um Steuergerechtigkeit ging, bestätigte sich seine Aussage wenige Monate später mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs, dessen weitreichende Folgen die Regierung bis zu ihrem Ende eher zu einem anhaltenden Realitätsschock als zu einem Realitätscheck zwangen.

Dauerwahlkampf

Die zunächst sichtbare Geschlossenheit in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg, die in vielen Entscheidungen auch eine konstruktive und gute Zusammenarbeit mit CDU/CSU einschloss, bekam bereits nach wenigen Monaten Risse: im Herbst 2022 mit den Debatten über die Gasumlage, mit der Energieimporteure entlastet werden sollten, ab Februar 2023 dann mit den Diskussionen über das Gebäudeenergiegesetz. Die Koalition schaltete auf Dauer-Wahlkampf. Immer wieder konnte man die FDP – aber nicht nur sie – als Opposition innerhalb der Regierung erleben: Koalitionspartner auf Abwegen, angekommen in nächtelangen und kräftezehrenden Sitzungen des Koalitionsausschusses, bei "Machtwörtern" des Bundeskanzlers (Stichwort: Atomausstieg) und bei sich nahezu täglich wiederholenden Streitigkeiten auf öffentlicher Bühne.

Weiteren Zündstoff für den Wahlkampf am Kabinettstisch bot unter anderem das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2013, mit dem es den zweiten Nachtragshaushalt 2021 für nichtig erklärte und damit die finanzpolitische Geschäftsgrundlage der Bundesregierung zerriss. War man intellektuell nicht genügend vorbereitet? Waren im Bundestagswahlkampf 2021 die großen Fragen von Finanz-, Klima-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht genügend diskutiert worden? Hatte man die Finanzierungsfragen im Koalitionsvertrag wenig konkret beantwortet? Diese Fragen können weitgehend bejaht werden. Es sei der Versuch gewesen, die staatlichen Investitionsausgaben ohne zeitgleiche Steueranhebungen oder Neuverschuldung erheblich zu steigern. Die finanzpolitische Aufgabe der Ampelkoalition sei daher mit der Quadratur eines Kreises verglichen worden, schrieb der Ökonom Jens Südekum schon Anfang 2022. Jeder Partner sollte glänzen und die eigenen Vorstellungen einbringen können. Das erzeugte wage Aussagen, "Geschenke" für verschiedene Gruppen, vor allem aber keine belastbare Grundlage für ambitionierte und finanzierungsintensive Investitionsvorhaben.

"Faule Kompromisse"

Aus guten Gründen sind Wahlkämpfe in einer Konsensdemokratie wie der unseren zeitlich begrenzte Intensivphasen politischer Auseinandersetzung. Unser politisches System ist auf Kompromissfindung ausgelegt. In einem Mehrparteiensystem mit hohen Koalitionsnotwendigkeiten geht es nicht ohne sie. Kompromisse bestehen aber nicht daraus, einfach alle existierenden Forderungen aufzugreifen und nebeneinanderzustellen, sondern daraus, aus diesen Positionen ein gemeinsames "neues Drittes" zu schaffen.

Doch um die Wertschätzung des Kompromisses war es in der Bundesregierung schlecht bestellt. Hatte man in mühsamen Verhandlungsrunden einen Kompromiss erzielt, wurde dieser verlässlich, teils binnen weniger Stunden, von einzelnen Partnern widerrufen oder öffentlich infrage gestellt. Parteipolitische Panik und Profilierung schoben sich häufig vor Bestandsschutz und Möglichkeiten zur Implementierung und Bewährung politischer Entscheidungen.

Natürlich ruft nicht nur die Aussage Kevin Kühnerts richtigerweise dazu auf, dass Politik in Krisen und Ausnahmesituationen flexibel agieren können muss. Politik muss fernab dessen auch Verlässlichkeit und Orientierung bieten. Der verheerende Vertrauensverlust der Ampel scheint daher nicht nur in deren öffentlichen Streits begründet zu sein, sondern insbesondere in der Unbeständigkeit erzielter Einigungen, die wiederum Unsicherheiten, Sorgen und Ängste sowie zynische und populistische Politikbilder verstärkten.

Weithin etablierte Sprachbilder wie das vom "faulen Kompromiss" verdeutlichen zugleich, dass Kompromisse insgesamt einen eher schweren Stand haben – eine Bürde für den nun stattfindenden Wahlkampf. Eine Umfrage des Zentrums für politische Forschung der Pariser Sciences Po, in Deutschland durchgeführt, verdeutlicht dies eindrucksvoll: 41 Prozent sind der Meinung, wer Kompromisse schließt, gibt seine Prinzipien auf." Ein Befund mit weitreichenden Folgen: Unsere immer heterogenere Gesellschaft, in Positionen zunehmend ausdifferenziert und mit kollektiven Akteuren, die immer weniger Bindekräfte in der Breite der Gesellschaft entwickeln können, bedarf umso mehr der Verständigungs-, Dialog- und Kompromissfähigkeit.

Folgenreiches Ende

Das unrühmliche Ende der Ampelkoalition braucht keine erneute detaillierte Nacherzählung. Wichtiger scheint es, die Folgen dieses Endes zu betrachten. Die Debattenkultur hat sich verändert – keineswegs nur, aber auch durch das Miteinander der Koalition. Der permanente politische Aschermittwoch, der die Arbeit der Koalition gekennzeichnet hat und durch Kräfte der Opposition verstärkt wurde, macht mürbe.

"Das politische Bashing ist gefährlich geworden", kommentierte der Journalist Tobias Krone im Februar 2024 im Deutschlandfunk. Die Rohheit der Debatten, Scheingefechte, Stellvertreterdiskurse, wechselseitigen Schuldzuweisungen und persönlichen Beleidigungen in den Reihen politischer Eliten tragen eine weitreichende Mitverantwortung für die politische Kultur des Landes. Wenn "die da oben" sich so verhalten und so miteinander umgehen, warum sollte die Breite der Gesellschaft es anders machen? Die Konsequenz einer verstärkten affektiven Polarisierung, also der Entstehung von Feindbildern und Lagerbildungen, die sachliche Diskurse zunehmend verunmöglichen, ist spürbar – gerade im Wahlkampf. Einem "Feind" wird schon qua Zuschreibung die Legitimität zur Teilnahme an der Debatte aberkannt.

Wozu Empörung?

Die Politik hat nicht "versagt", weil eine Regierung gescheitert ist. In ihrer Geschichte seit 1949 hat die Bundesrepublik einige Koalitionsbrüche oder -wechsel, Neuwahlen und Misstrauensvoten er- und überlebt. Mit der Aufkündigung einer Koalitionszusammenarbeit geht die Welt nicht unter. Die Bundesregierung samt Bundeskanzler bleibt im Amt, führt die Geschäfte handlungsfähig und ohne Einschränkungen weiter. Die bewährten Mechanismen des Grundgesetzes sichern nicht nur dies ab, sondern regeln durch die Vorgaben zur Vertrauensfrage und eines möglichen konstruktiven Misstrauensvotums auch einen zeitlich überschaubaren Übergang zu einer neuen Regierungsbildung. Angesichts der nach dem Koalitionsbruch fehlenden parlamentarischen Mehrheit, über die eine Regierung verfügen sollte, ist dies von größter Wichtigkeit. Es sei denn, es werden von Beginn an andere Modi entwickelt, wie etwa jüngst mit den Minderheitsregierungen in Thüringen und Sachsen. Während wir in Deutschland immer noch mit großer Zurückhaltung und Skepsis auf solche Modelle schauen, sind andere Länder experimentierfreudiger – bis hin zur Bildung von Regierungen mit wechselnden Mehrheiten.

Doch angesichts der konstruktiven Stabilitätsmechanismen des Grundgesetzes ist Empörung fehl am Platz. Der Koalitionsbruch an sich ist keine Bürde für die Zukunft. Auch die Empörung darüber, dass der Wahlkampf im Winter stattfindet, scheint überzogen, wie die historischen Vorläufer der Bundestagswahlen im März 1983 und im Januar 1987 bezeugen. Gewählt wurde damals von 89,1 beziehungsweise 84,3 Prozent der Wahlberechtigten, die sich vom kalten Winterwetter keineswegs abschrecken ließen.

Angemessener wäre vielleicht Empörung über die fehlende Wertschätzung von Kompromissen. In dieser Hinsicht taugt das Ampel-Aus als mahnendes Worst-Case-Szenario. Politik muss erst einmal den Anspruch haben, es "hinzukriegen". Vertreter:innen dieser Linie konnte man in den Tagen des Regierungsbruchs indes nur wenige finden. Ausgerechnet ein Minister der FDP, Volker Wissing, tat sich hier besonders hervor. Während einige wenige mit ihm betonten, dass es doch möglich gewesen sei, gemeinsam die Legislaturperiode abzuschließen, zeigte sich bei vielen demonstrative Erleichterung. Ein kurzer Blick nach Österreich und in andere Länder, die teils seit vielen Monaten ohne neue Regierungen sind, macht deutlich, dass das Nicht-Erzielen von Kompromissen und Einigungen nie ein Grund zur Freude sein dürfen.

Im Gegenteil: Diese Beispiele mahnen nicht nur für den aktuellen deutschen Wahlkampf an, dass neben aller Profilschärfung und Abgrenzung am Ende die Fähigkeit zum Kompromiss an erster Stelle stehen muss. Forschungen machen deutlich, welche Herausforderungen damit verbunden sind: "Ganz unabhängig vom inhaltlichen Kern der Kompromisslösung, das heißt der Kompromissposition im Verhältnis zur Position der Wähler:in, lehnen Wähler:innen politische Kompromisse mit anderen Parteien, denen sie in Antipathie verbunden sind, ab." Um diese Dynamik nicht noch zu verstärken, lassen sich aus dem Wahlkampf 2021 und den Jahren der Ampelkoalition folgende Leitlinien ableiten: In der Sache hart, aber im Ton verbindlich streiten. Nicht Kompromisslosigkeit zelebrieren, sondern die Fähigkeit zur Verständigung, zum Kompromiss und zum Interessenausgleich als konstitutive Modi unserer Demokratie schätzen und verteidigen. Für politische Verhandlungen, Dialog und Miteinander werben und nicht darauf hoffen, dass in einer so heterogenen Gesellschaft allein die Wahlergebnisse Klarheit schaffen und Einigungen herbeiführen, zu denen die Politik nicht in der Lage war. Mut entwickeln für strukturell neue Mechanismen des Regierens in komplizierten Konstellationen, zum Beispiel das Arbeiten mit wechselnden Mehrheiten. Große Grundsatzfragen und -themen im Wahlkampf nicht aussparen, sondern Zumutungen und Herausforderungen sowie eigene Lösungsideen klar und belastbar benennen.

Würden die Parteien der Ampelkoalition mit Reflexionsbewusstsein auf ihre Regierungszeit zurückschauen und würden sie mit den weiteren demokratischen Parteien im aktuellen Wahlkampf entlang dieser Gedanken in die politische Auseinandersetzung gehen, könnte die Achtung gegnerischer politischer Positionen wieder besser möglich werden und zu einem wieder mehr sachbezogenen Ringen um die besten Lösungen führen. Und es könnte verhindert werden, was das Schwarz-Weiß-Denken populistischer und autoritärer Kräfte zu provozieren versucht und was Kurt Tucholsky schon 1919 in einem Spottlied beschrieb und befürchtete: "Und durch Deutschland geht ein tiefer Riß/Dafür gibt es keinen Kompromiß!"

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle für Politische Soziologie der Bundesrepublik am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.