Die vorgezogene Bundestagswahl im Februar 2025 hat sich, rückblickend betrachtet, lange angekündigt. Immer wieder zogen Politiker der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP den Fortbestand ihres Bündnisses öffentlich in Zweifel, wurden die Unvereinbarkeiten der Partner offensichtlich. Am 6. November 2024 kam es mit der Entlassung von Finanzminister Christian Lindner zum finalen Bruch. Spätestens ab diesem Moment befanden sich die Parteien im sprichwörtlichen "Wahlkampfmodus", begannen also, ihre Strategien auf die Maximierung der Wählerstimmen beim baldigen Urnengang auszurichten.
Die Wahlkampfarena, die die Parteien vorfanden, erwies sich in mancherlei Hinsicht als herausfordernd. Die Sozialdemokraten hatten zunächst zu klären, ob der Bundeskanzler noch einmal antreten oder dem populäreren Verteidigungsminister Boris Pistorius den Vortritt lassen sollte. Der Parteivorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz, war bereits als sein Gegenkandidat gesetzt und konnte auf günstige Umfragewerte für seine Partei blicken, mit denen seine persönlichen Beliebtheitswerte jedoch nicht mithielten. Zudem beharrte die CSU auf ihrer Ablehnung von Schwarz-Grün,
Diese Konstellation erschien wiederum günstig für die beiden populistischen Parteien an den Rändern des deutschen Parteiensystems: Die 2013 gegründete AfD deckt dabei das Spektrum der radikalen bis extremen Rechten ab, während das im Januar 2024 ins Leben gerufene Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ein ökonomisch linkes Profil mit einem gesellschaftspolitisch konservativen Programm verbindet. Beide Parteien eint der Anspruch, die Interessen "des Volkes" gegen die vermeintlich abgehobenen "politischen Eliten" zu vertreten, und beide insinuieren eine Krise der Demokratie, in der die Interessen der "Normalbürger" – oder jene, die sie jeweils als solche verstehen – von "denen da oben" systematisch missachtet werden.
Die Populisten verfügten zu Beginn des Wahlkampfs im Winter 2024 über eine gefestigte Position im Parteiensystem. Der AfD war es gelungen, nach und nach in alle Landesparlamente einzuziehen – wobei sie in Schleswig-Holstein und Bremen inzwischen auch wieder ausgeschieden war; 2017 schaffte sie erstmals den Sprung in den Bundestag. Aus ihrer Sicht war es folgerichtig, dass sie angesichts von Umfragewerten, bei denen sie beständig hinter der Union auf dem zweiten Platz rangierte, ihre Co-Vorsitzende Alice Weidel als Kanzlerkandidatin nominierte.
Die schiere Präsenz der Populisten ist für die Parteien des politischen Mainstreams schon deshalb ein strategisches Problem, weil die Herausforderer gezeigt haben, dass sie in der Lage sind, eine beträchtliche Zahl von Wählern an sich zu binden, die – zumindest im Falle der AfD – kaum bereit sind, ihre Stimme einem Mitbewerber zu geben.
In diesem Beitrag wird die Ausgangslage unmittelbar vor der "heißen Phase" des vorgezogenen Bundestagswahlkampfs untersucht. Der Fokus liegt dabei auf der Rekonstruktion von Strategien, wie sie sich seit 2021 vor allem in den Kernthemen der Populisten entwickelt haben. Grundlage sind theoretische Überlegungen, nach denen a) politische Parteien auf die Themenstrategien ihrer Mitbewerber reagieren
Ausgangslage: Die Wähler von BSW und AfD
Wollen die Parteien die Unterstützer der Populisten zurückgewinnen, stellt sich für sie die Frage, ob sie in der Lage sind, diese Wählergruppen – oder zumindest Teile davon – noch zu erreichen, und wenn ja, mit welchen Themen und Strategien. Aufschlussreich ist hierbei ein Blick auf die Verteilung der Positionen in den Elektoraten von AfD und BSW und in drei relevanten Themenbereichen: Klimawandel, Migration und Russlandpolitik (Tabelle).
Während die Wähler aller anderen Parteien tendenziell der Bekämpfung des Klimawandels Priorität gegenüber der Förderung des Wirtschaftswachstums einräumen, sehen 56,3 Prozent der BSW- und insbesondere 79 Prozent der AfD-Wähler die Sicherstellung ökonomischer Prosperität als wichtiger an als den Klimaschutz. Ähnlich deutlich stellen sich die Unterschiede in der Migrationspolitik dar: Rund 93,2 Prozent der AfD-Wähler und 92,2 Prozent der BSW-Unterstützer wollen Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer (eher) erschweren, während rund 57,2 Prozent der Wähler aller anderen Parteien sich vergleichbar äußern. Zuletzt zeigen sich deutliche Unterschiede in der Positionierung gegenüber Russland. 68,4 Prozent der AfD-Wähler und 75 Prozent der BSW-Wähler wünschen sich einen weniger konfrontativen Kurs. 40,8 Prozent aller anderen Wähler nehmen in dieser Frage eine Mittelposition ein, während ein geringerer Anteil von 35,8 Prozent eine eher konfrontative Strategie oder aber einen kooperativen Kurs fordert (23,3 Prozent). Insgesamt zeigt sich also, dass Wähler beider populistischen Parteien zu diesen Fragen sehr prononcierte Positionen einnehmen, die sie vom Durchschnitt der anderen Wähler deutlich unterscheiden.
Ein weiteres Merkmal der Wähler populistischer Parteien ist deren Kritik am demokratischen Status quo sowie dem Populismus selbst als spezifisch illiberaler Demokratievorstellung, die auf der Idee der völligen Souveränität des "wahren Volkes" beruht und dieses gegen die politischen Eliten in Stellung bringt.
Diese Frontstellung von AfD- und BSW-Wählern gegen die "Etablierten" und die mögliche Binnenkonkurrenz der Populisten zeigt sich auch in deren Bewertung der anderen Parteien.
"Rechtsruck"? Themensetzung der Parteien
Zu Beginn des vorgezogenen Wahlkampfs im Spätherbst 2024 hatte sich das deutsche Parteiensystem durch die Erfolge von AfD und BSW bereits gewandelt. Beide populistischen Parteien hatten hohe Zugewinne bei den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen eingefahren. In Brandenburg und Thüringen waren die Rechtspopulisten stärkste Kraft geworden, in Sachsen knapp hinter der CDU in den Landtag eingezogen. Das BSW konnte etwas mehr als ein halbes Jahr nach seiner Gründung Ergebnisse zwischen 11,8 Prozent in Sachsen und 15,8 Prozent in Thüringen verzeichnen.
Es überrascht daher nicht, dass die anderen Parteien sich unter Zugzwang gesetzt sahen. Insbesondere das Thema Migration entpuppte sich als Problemfeld, auf dem sie die direkte Auseinandersetzung mit der AfD suchten. Das entsprach dem Anspruch von Friedrich Merz, der sich bereits 2019, lange vor seinem Antritt als CDU-Parteivorsitzender im Jahr 2022, die "Halbierung" der Wahlergebnisse der AfD zugetraut hatte, auch wenn er diese Aussage später relativierte.
Die SPD setzte mit der Bildung der Ampelkoalition zunächst auf eine Fortsetzung humanitärer Asyl- und Migrationspolitik. Im Oktober 2022 beschloss der Bundestag das Chancen-Aufenthaltsrecht, mit dem unter bestimmten Bedingungen "geduldete Asylbewerber (…) nach fünf Jahren die Möglichkeit erhalten, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen".
Die FDP hatte als Teil der Ampelregierung zunächst einen Mittelweg vertreten, indem sie eine stärkere Kontrolle der Migration mit einer humanitären Agenda verband. Im September 2023 forderte sie allerdings einen "Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik" und stellte die Verringerung der Migration in den Vordergrund.
"Rechtsdruck": Ausgangslage der Populisten
Die Verengung der Mainstream-Parteien auf einen konservativeren Kurs in der Asyl- und Migrationspolitik verleitete manch Beobachter zu dem Urteil, dass die AfD ihres Kernthemas verlustig geworden sei.
Die dennoch hohen Umfragewerte für die Rechtspopulisten lassen sich durch die Loyalität ihrer Anhänger erklären, die sich aus migrationspolitischen und populistischen Einstellungen speiste.
Zugleich konnte sich das BSW noch keiner loyalen Stammwählerschaft sicher sein. In Umfragen kam die Partei Anfang Dezember 2024 auf vier bis sieben Prozent. Gleichzeitig verfüge sie insbesondere unter den Wählern von Kleinparteien, Nichtwählern sowie unter Unterstützern der Linken und der SPD über ein gewisses Potenzial.
Mainstreaming statt Schwächung der Populisten?
Das abrupte Ende der Ampelkoalition markierte auch den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung des Parteiensystems, die eng mit den anhaltenden Erfolgen der Populisten verbunden ist. Im Kontext ihrer Wahlerfolge und unter beständigem politischem Druck insbesondere beim Thema Asyl waren die Mainstream-Parteien auf einen restriktiveren Kurs geschwenkt,
Dass die Themenstrategien der Mainstream-Parteien zumindest bis zum Spätherbst 2024 nicht den gewünschten Erfolg brachten, entsprach durchaus den Erwartungen, die man aufgrund der Studienlage haben konnte. Gerade dann, wenn konservative Parteien eher rechte Positionen einnehmen, gewinnen Rechtspopulisten an der Wahlurne eher hinzu, als nennenswerte Verluste einzubüßen..
Zumindest mit Blick auf die Rückgewinnung populistischer Wähler stellte sich die Situation vor der vorgezogenen Bundestagswahl gerade nicht als dynamisch, dar, sondern als elektoral segmentiert. Die Unterstützer von BSW und AfD nahmen erstens vom Wählerdurchschnitt deutlich abweichende Positionen in der Klima-, Russland-, und der Migrationspolitik ein. Weiter zeigten sie zweitens starke Unzufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie und ausgeprägte populistische Einstellungen. Drittens blickten sie trotz einer gewissen Varianz negativ auf alle anderen Parteien.
Während das Wahlverhalten insgesamt volatiler wird und die meisten Parteien mit weniger Stamm- und einer wachsenden Zahl von Wechselwählern umgehen müssen, bildet sich bei den Rechtspopulisten ein umgekehrter Trend ab. Je weiter rechts Wähler sich zum Migrations-/Integrationsthema positionieren und je deutlicher sie die populistische Haltung der AfD zur Demokratie teilen, desto weniger sind sie bereit, noch eine Partei des linken oder rechten Mainstreams zu wählen.
Diese Segmentierung kann erklären, warum es den Parteien des Mainstreams trotz der Anpassung ihrer Positionierung vor allem im Themenbereich Migration und Asyl bis kurz vor Beginn des Wahlkampfs nicht gelang, populistische Wähler in nennenswerter Zahl zurückzugewinnen. Eher lässt sich argumentieren, dass die thematische Rechtsverschiebung und das Präsenthalten des Migrationsthemas den politischen Diskurs so verändert haben, dass vor allem die Rechtspopulisten noch begünstigt wurden.