Landtagswahlen irgendwo in Deutschland: Parteien halten Versammlungen in Gaststätten ab, die nahe bevorstehenden Wahlen sind das beherrschende Thema im Ort. Die beiden großen Lager bemühen sich, ihre Anhänger zu mobilisieren; auch die lokalen Zeitungen berichten darüber. Grenzen der Fairness und Zivilität werden bisweilen überschritten, etwa mit rüden Verbalattacken oder gar Androhungen physischer Gewalt. Die reicheren Bürger versuchen, die Abhängigkeit ärmerer Leute auszunutzen, indem sie Alkohol im Wirtshaus spendieren oder andeuten, Arbeitsverhältnisse zu kündigen, wenn nicht in ihrem Sinne abgestimmt wird. Der bittere Wahlkampf erstreckt sich bis in den Akt des Wählens selber: Mitglieder der Parteien stehen an den Türen der Wahllokale und drängen den Wählern die Stimmzettel mit den Namen ihrer jeweiligen Kandidaten auf. Am Ende klärt eine parlamentarische Untersuchung, ob bei diesen Wahlen alles mit rechten Dingen zugegangen sei.
Präsidentschaftswahlen in den USA: Die Polarisierung der beiden Hauptparteien hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Wahlversammlungen finden in großen Hallen ebenso wie auf Bauernwiesen statt; bei einer solchen Versammlung wird der Kandidat der Republikaner, Donald Trump, von einer Gewehrkugel am Ohr getroffen. Unsichtbar bleiben dabei die heiß laufenden Datenkabel und Funknetze: Durch zahllose Telefonanrufe versuchen die Parteien, ihre Anhänger zu motivieren und mobilisieren. Kampagnen in den sozialen Medien verbreiten Fake News ebenso vehement, wie sie die Anhängerschaft um finanzielle Unterstützung bitten, auch in kleinen Beiträgen. Zeitgleich sichern ultrareiche Tycoons wie der Unternehmer Elon Musk dem Kandidaten Milliardenbeträge zu. Die Demokraten haben das Nachsehen – ihr Kandidat, der amtierende Präsident Joe Biden, muss nach einer für ihn katastrophalen Fernsehdebatte aufgeben; die neue Kandidatin, Vizepräsidentin Kamala Harris, gewinnt nur kurz das Momentum für sich.
Das sind zwei Schlaglichter auf Wahlkämpfe an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten. Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA im Herbst 2024 ist in frischer Erinnerung. Weniger leicht zuzuordnen ist das erste Beispiel: Es schildert den Landtagswahlkampf in der kleinen Stadt Ettlingen vor beinahe zwei Jahrhunderten, im Frühjahr 1846. Im Großherzogtum Baden standen wieder einmal Wahlen zur "Zweiten Kammer" an, dem Volkshaus des Parlaments in der nahen Hauptstadt Karlsruhe. Wahlberechtigt waren etwa zwei Drittel der erwachsenen Männer – für damalige Verhältnisse ein sehr offenes Wahlsystem. Die lokalen Eliten, die Honoratioren, konnten den Ausgang der Wahl nicht unter sich ausmachen, sondern mussten die unteren Schichten im Wahlkampf zur Stimmabgabe in ihrem Sinne bewegen. Dies umso mehr, als diese Eliten politisch gespalten waren: Die einen verstanden sich als Führung der liberalen Partei und Vertreter des Fortschritts, die anderen als Sachwalter von Stabilität und Regierungsinteresse; sie waren Vorläufer der Konservativen. Der Wahlkampf schlug so über die Stränge, dass eine amtliche Untersuchung folgte, durch die wir bis in feinste persönliche Details über die Vorgänge unterrichtet sind.
Wahlkämpfe haben also eine lange Geschichte, die sogar in Deutschland – stärker noch in England, den USA und in Frankreich – in vor- und frühdemokratischen Zeiten beginnt. Diese Geschichte lässt sich jedenfalls in Teilen des damaligen Deutschen Bundes in der Zeit des Vormärz, also in den 1830er und frühen 1840er Jahren, vor den ersten nationalen Wahlen im Mai 1848 zur revolutionären Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und erst recht vor den Reichstagswahlen im Deutschen Kaiserreich seit 1871 nachvollziehen. Die beiden Schlaglichter trennen 178 Jahre und mindestens 6000 Kilometer – dennoch springen Gemeinsamkeiten ins Auge. So etwa die prononcierte Polarisierung von Parteien und überhaupt deren zentrale Rolle im Wahlkampf, ebenso die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft nicht nur mit Fakten oder sachlichen Argumenten und nicht zuletzt der Einsatz von Medien und die Unterschiede zwischen Reich und Arm, trotz der Gleichheit der Stimmkraft aller Wahlberechtigten in beiden Fällen.
Wie sähe es aus, wenn man die Konstellation unserer Beispiele umkehrt: Wahlkampf in den USA im frühen 19. Jahrhundert und in Deutschland in den Landtagswahlen von Sachsen, Thüringen oder Brandenburg im Herbst 2024? Die Ähnlichkeiten zwischen Ettlingen und einer Kleinstadt im Staate New York in der frühen Republik wären frappierend.
Bis heute beruht demokratische Politik und beruhen nicht zuletzt Wahlkämpfe auf der Fundamentalpolitisierung der mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, als die Mehrheit der Menschen sich für Politik zu interessieren begann und sich selbst einer Strömung oder Partei zuordnete. Schon ein kurzer Blick auf die Geschichte von Wahlkämpfen offenbart also Konstanten, die angesichts des massiven Wandels von Technologie wie Gesellschaft verblüffen mögen. Gemeinsamkeiten zwischen protodemokratischen Staaten damals zeigen sich vielleicht noch deutlicher als zwischen etablierten liberalen Demokratien heute. Die Formen, in denen Wahlkämpfe ausgetragen werden, haben sich also nicht, wie man denken könnte, aus unterschiedlichen regionalen Ursprüngen in der globalisierten und vernetzten Welt immer mehr angeglichen. Zwar ist ein Trend von lokal geführten Wahlkampagnen zur Nationalisierung erkennbar, aber die Unterschiede zwischen nationalen Wahlkampfmustern haben sich eher verfestigt. Wahlkämpfe spiegeln generell den technologischen Stand von Kommunikationsmedien – von der persönlichen Flüsterpropaganda zum digitalen Raum, von der gedruckten Zeitung zum Internet –, aber nicht überall wird von neuen Medien intensiv Gebrauch gemacht. In Deutschland ist die Zurückhaltung gegenüber digitalen Medien groß geblieben, übrigens im Wahlkampf ebenso wie im Akt der Stimmabgabe selbst, der an Papier und Stift gebunden bleibt. Wie also hat sich der politische Wahlkampf in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis heute verändert? Und warum sind deutsche Wahlkämpfe im frühen 21. Jahrhundert in ihren Formen stärker konventionalisiert, weniger dynamisch als anderswo, und werden von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger eher passiv rezipiert als aktiv mitgestaltet?
Vom Vormärz zum Kaiserreich
Wahlkämpfe setzen Wahlen voraus, und moderne politische Wahlen gibt es in Deutschland erst seit dem frühen 19. Jahrhundert. Als die Städteordnung von 1808 es besitzenden Bürgern in Preußen erstmals ermöglichte, kommunale Parlamente zu wählen, war das Interesse daran zunächst gering, und unterschiedliche Präferenzen für Personen oder politische Programme hatten sich noch nicht zu Parteien verdichtet.
Gedruckte Medien, vor allem Tageszeitungen, beförderten seit den 1840er Jahren die Politisierung im Allgemeinen und die Lager- und Parteibildung im Besonderen. Nicht selten waren Zeitungen das Sprachrohr einer bestimmten politischen Richtung sowie das Medium ihrer Selbstverständigung nach innen – von der liberalen "Deutschen Zeitung" von 1847 über die sozialdemokratische Parteipresse des Kaiserreichs bis zur 1979 gegründeten "taz" für das Milieu der Grünen. Parteibildung musste nicht formale Organisation und Mitgliedschaft bedeuten. Auch über den Vormärz hinaus, und in den USA bis heute, war damit eher die Zuordnung zu einer bestimmten Partei gemeint, die zwischendurch schlummern konnte, aber im Vorfeld von Wahlen wieder abgerufen und tatkräftig umgesetzt wurde. Das Wahlrecht, oder präziser: das Wahlsystem, spielte von Anfang an eine wichtige Rolle für die Ausformung des Wahlkampfs. 1846 in Ettlingen wählten die Bürger zunächst Wahlmänner und diese erst, in einer zweiten Runde, den Abgeordneten für den Landtag – ein Relikt solcher Systeme ist das Electoral College in den USA, das formell erst den Präsidenten wählt. Dieses Wahlsystem wirkte als sozialer Filter, war aber auch in der Begrenztheit der Kommunikations- und Transportmittel begründet: im Vorrang der lokalen Gesellschaft, des Sich-Kennens in Dorf oder Kleinstadt. Aber ebenfalls seit den 1840er Jahren, spürbar schon in der Revolution von 1848/49, erleichterte die Eisenbahn die überlokale Kommunikation und das Reisen von Abgeordneten zwischen Parlamentssitz und Wahlkreis.
Entscheidend dabei blieb auch im Übergang ins Deutsche Kaiserreich von 1871: Abgeordnete wurden von den Wählern in einem Wahlkreis in den Reichstag, der seit 1894 im mächtigen Wallot-Bau tagte, gewählt. Der Wahlkampf behielt dadurch eine lokal-regionale Prägung, denn vor Ort warben verschiedene Kandidaten um Stimmen, sei es in Köln oder in Breslau, im Emsland oder im sächsischen Vogtland. Das in Deutschland oft schief als "Mehrheitswahlrecht" bezeichnete Modell – denn um Mehrheiten geht es in der Demokratie ja immer –, das die Wahl von Abgeordneten nach Regionen oder Bezirken umfasst, die dadurch im Parlament vertreten sind, war ursprünglich das Grundprinzip parlamentarischer Repräsentation überhaupt und ist es in den klassischen, alten Demokratien wie Großbritannien, den USA und Frankreich bis heute geblieben. Das prägte Wahlen und Wahlkämpfe ganz entscheidend und setzte der Nationalisierung des Wahlkampfs Grenzen. Dabei musste der Kandidat nicht selbst aus der Region stammen: Im Kaiserreich war es sogar sehr beliebt, nationale Prominenz der jeweiligen Partei für eine Kandidatur in der eigenen Stadt zu gewinnen.
Lokal geprägt blieben Wahlen und Wahlkämpfe aber auch durch das jeweilige regionale und gesellschaftliche Umfeld. Klassenunterschiede und soziale Abhängigkeiten offenbarten sich zum Beispiel im ländlichen, durch Adel und Gutsbesitzer bestimmten ostelbischen Preußen, also in Brandenburg oder in Pommern. Von Wahlkampf im modernen Sinne konnte hier kaum die Rede sein; vielmehr versuchte der Gutsherr, zu kontrollieren, dass seine Landarbeiter ihre Stimme im richtigen, also monarchisch-konservativen Sinne, abgaben.
Neue Muster des Wahlkampfs in der Weimarer Republik
Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs im Ausgang des Ersten Weltkriegs und dem Übergang in die Weimarer Republik änderten sich Wahlkämpfe in Deutschland in mehrfacher Hinsicht grundlegend.
Das Verhältnis- oder Proportionalwahlrecht entsprach einem großen Wunsch der Sozialdemokratie und war durchaus ein Bruch mit etablierten Modellen der Repräsentation, in Deutschland wie im internationalen Vergleich. Einige große "Wahlkreise", in die das Reich aufgeteilt war, hatten bloß formale Bedeutung; gewählt wurden Listen von Parteikandidaten, die proportional zur Stimmenzahl Abgeordnete in den Reichstag entsendeten. Den lokalen Wettstreit um das Mandat gab es also nicht mehr. Die lokal-regionale Prägung des Wahlkampfs trat folglich in den Hintergrund, auch wenn Wahlversammlungen und Kundgebungen in Wirtshäusern oder auf öffentlichen Plätzen weiterhin eine wichtige Rolle spielten. Nationale Programmatiken, bis in die Wahlslogans hinein, und die Prominenz des politischen Personals standen nun im Zentrum. Damit konnte der Wahlkampf stärker als bisher aus Parteizentralen gesteuert werden. Immer mehr rückte das Wahlplakat in den Mittelpunkt der politischen "Propaganda", wie man damals nicht nur im Blick auf extremistische Ideologien sagte. Es warb für eine Partei oder Liste ("Wählt Liste 2 – Sozialdemokratie!"), war in der Regel farbig und oft in grellen, auffälligen und kontrastierenden Farben gedruckt; Rot und Schwarz dominierten, auch lagerübergreifend. Porträtaufnahmen der Spitzenkandidaten oder Wortplakate setzten sich erst viel später, in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre, durch. Von den Anfängen der Weimarer Republik bis in die 1950er Jahre dominierte die grafische Gestaltung, das Zeichnerische, teilweise mit karikaturistischen, zugespitzten und verzerrenden Elementen. Dem neuen Wahlsystem entsprechend bezogen sich die Plakate und ihre Slogans nicht auf lokale Themen und Wettbewerbe, sondern formulierten allgemeine Botschaften.
Die Entwicklung der Kommunikationstechnologien verstärkte diesen Trend der Wahlkampfführung: Das in den 1920er Jahren aufkommende Radio vereinheitlichte den politischen Erfahrungsraum zwischen weit entfernten Regionen. In den 1930er Jahren avancierte es zur bevorzugten Plattform für Demokraten wie Diktatoren: Sowohl US-Präsident Franklin D. Roosevelt als auch Adolf Hitler schätzten das Radio. Etwa zur selben Zeit etablierten sich die "Wochenschauen" als politisches Informations- und Propagandainstrument in den Kinos. Und schließlich gewann ein neues Verkehrsmittel, ähnlich wie die Eisenbahn etwa achtzig Jahre zuvor, Bedeutung auch in den Wahlkämpfen: Besonders im Vorfeld der beiden Reichstagswahlen von 1932, im Juli und im November, nutzten Hitler und die NSDAP das Flugzeug, um in dichter Folge Wahlkampftermine an weit auseinanderliegenden Orten zu absolvieren und symbolisch den Eindruck zu erwecken, die politische "Lufthoheit" über Deutschland zu besitzen. Diesem Sog konnten sich auch demokratische Politiker immer weniger entziehen. Aus ihrer Sicht wurde der Wahlkampf zu einer immer stärker zeitlich und terminlich verdichteten Hochleistungsveranstaltung, in der permanente physische und mediale Präsenz für den Erfolg in den Wahlen unabdingbar schien.
Kontinuitäten in der alten Bundesrepublik
Die erste Bundestagswahl am 14. August 1949 war so etwas wie die letzte Wahl der Weimarer Republik.
Die Kontinuität und Dominanz des Plakatwahlkampfs nicht nur von Weimar bis in die frühe Bundesrepublik, sondern seitdem bis heute – also über inzwischen mehr als hundert Jahre – trotz massiver technologischer, medialer und gesellschaftlicher Veränderungen ist wohl das hervorstechendste Merkmal überhaupt in der Geschichte deutscher Wahlkämpfe. Neue Formen und Medien verschwanden teils so schnell, wie sie aufgekommen waren. Das im öffentlichen (Straßen-)Raum von den Parteien angebrachte Plakat überdauerte mit dem Flaggschiff des "Großflächenplakats" und der Unzahl kleinerer Plakate an Laternenmasten dieses Wandels. Eine Bedingung dafür war die prinzipielle Kontinuität des Wahlsystems, das besondere "personalisierte Verhältniswahlrecht" mit der Erststimme für den Wahlkreis und der für die Zusammensetzung des Bundestages letztlich maßgebenden Zweitstimme. Obwohl die "Stimmenzersplitterung" in den Weimarer Reichstagswahlen lange als ein wichtiger Grund für die Instabilität der ersten deutschen Republik galt, kehrte die Bundesrepublik nicht zum System der parlamentarischen Repräsentation von Wahlkreisen zurück, was angesichts der Selbstverständlichkeit dieses Systems bei allen drei Westalliierten (bis heute) durchaus bemerkenswert ist.
Aber das Plakat war nicht alles. Der persönliche Kontakt zwischen Wählern und Politikern, jedenfalls: die persönliche, mobilisierende und motivierende Ansprache vor allem durch die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der Parteien spielte weiterhin eine wichtige Rolle.
Der Aufstieg audiovisueller Medien, vor allem des Fernsehens, seit den späten 1950er Jahren spiegelte sich in den Wahlwerbespots der Parteien. Anfangs waren humorvoll erzählte Geschichten im Zeichentrick, etwa im Stile der Erlebnisse des HB-Männchens in der Produktwerbung für Zigaretten, in Mode. An ihre Stelle traten Mitte der 1960er Jahre Werbefilme mit schnellen Schnittbildern, die idyllische Familienszenen mit Bildern der damals expandierenden technischen und infrastrukturellen Modernität verknüpften. Sicherheit sollte sich mit Fortschritt verbinden, das war ein Grundversprechen der alten Bundesrepublik.
Formen des Bürgerengagements im Wahlkampf, einschließlich des expliziten und werbenden Bekenntnisses zu einer Partei, erlebten eine relativ kurze Blütezeit zwischen den 1960er und den frühen 1980er Jahren. In den Aufbrüchen seit Mitte der 1960er Jahre bildeten sich Wählerinitiativen vor allem zugunsten der SPD und ihres charismatischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt. Bekannte Schriftsteller wie Günter Grass riefen nicht nur in Texten oder Zeitungsanzeigen zur Wahl der, wie Grass es gerne stilisierte, "Es-Pe-De" auf, sondern begaben sich selbst auf Wahlkampftour mit Auftritten auch in kleineren Städten in der westdeutschen Provinz.
Im Umfeld der Protestkulturen und Neuen Sozialen Bewegungen erlebte die Anstecknadel, der button, eine kurze Karriere, mit dem Höhepunkt des Bundestagswahlkampfes von 1980, in dem gegen den Kanzlerkandidaten der CDU/CSU gerichtete "Stoppt Strauß"-Buttons zum Anlass eines Schulverweises wurden, der in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist. Aufkleber am Heck des eigenen Autos (bumper stickers), Schilder oder Plakate im Vorgarten (lawn signs) oder in der Fensterscheibe zur Straße sucht man in deutschen Wahlkämpfen, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, vergebens. Vielmehr ist das Prinzip der geheimen Wahl hier zunehmend so interpretiert worden, dass die eigene Präferenz oder Wahlentscheidung am besten überhaupt nicht sozial kommuniziert werden dürfe, häufig nicht einmal in der Familie oder unter engen Freunden.
21. Jahrhundert: Verpasste digitale Revolution und konsumierter Wahlkampf
Während technische Innovationen wie die Eisenbahn im 19. oder das Fernsehen im 20. Jahrhundert Wahlkämpfe zwar nicht revolutionierten, aber ihnen doch ihren Stempel aufdrückten, wurde jedenfalls in Deutschland die technologisch-kommunikative Revolution unserer eigenen Zeit bisher erstaunlich zögernd in politische Kampagnen aufgenommen. Ganz anders in den USA: Dort hat die E-Mail längst das dennoch wichtige Telefon in der direkten Ansprache ergänzt – diese Ansprache fehlt in Deutschland aber ohnehin fast völlig. Digitale Plattformen, insbesondere die sozialen Medien, spielen weiterhin nur eine Nebenrolle, aber gerne beklagt man, dass populistische oder extremistische Parteien sich ihrer bedienen und Sogkraft vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen entfalten. Der populistische Politikstil kann, wie teilweise in den USA, Mobilisierung an der Basis verstärken. In Europa und zumal in Deutschland hat er bisher jedoch eher das Top-down-Muster des Wahlkampfs begünstigt, und zwar in doppelter Weise: zum einen durch den neuen Parteitypus der von charismatischen Politiker:innen tendenziell autoritär, jedenfalls personalistisch geführten Bewegung, zum anderen durch eine Verstärkung der Scheu, sich zu einer Partei zu bekennen, wenn sie weithin verpönt oder stigmatisiert wird. Dieses Phänomen bereitet auch der Demoskopie Probleme.
Ob das Zusammentreffen der Digitalisierung mit den neuen, populistischen und oft raueren Formen der Demokratie im frühen 21. Jahrhundert den Wahlkämpfen in Deutschland wieder mehr Vitalität einhauchen kann, bleibt eine offene Frage. Der Überblick über fast zweihundert Jahre Wahlkampfgeschichte in international vergleichender Perspektive zeigt jedenfalls, dass die Lebhaftigkeit von Wahlkampagnen nicht mit den auf lange Sicht zweifellos erreichten Fortschritten der Demokratie parallel lief. Außerdem wird deutlich, dass technologischer und medialer Wandel keineswegs automatisch, sondern nur unter bestimmten Bedingungen aufgegriffen, genauso gut aber auch ignoriert werden können.
Vorherrschend ist vielmehr der Eindruck einer starken Pfadabhängigkeit der Entwicklung seit dem Beginn der Weimarer Republik. Das einmal gewählte Muster hat sich verfestigt; von diesem Pfad ist nicht mehr leicht abzuweichen: nämlich nationale, von den Parteizentralen mit Plakaten geführte Wahlkämpfe, die von den Wähler:innen lediglich konsumiert statt aktiv mitgestaltet werden. Die knappe Skizze hat aber auch gezeigt, dass es beträchtliche Unterschiede gibt, sogar zwischen etablierten westlichen Demokratien. Für eine Form des Wahlkampfs, die in Großbritannien und den USA eine zentrale Rolle für die Etablierung persönlicher Kontakte spielen, gibt es nicht einmal einen deutschen Begriff: das canvassing, der Haustürwahlkampf, bei dem Kandidat:innen von Haustür zur Haustür gehen und Gespräche suchen.