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Verschwörungsmythen und Antisemitismus | Verschwörungstheorien | bpb.de

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Verschwörungsmythen und Antisemitismus

Samuel Salzborn

/ 16 Minuten zu lesen

Dass Verschwörungsmythen im Kontext der Corona-Pandemie offen antisemitisch formuliert werden, ist kein Zufall. Seit jeher ist Antisemitismus genauso strukturell verschwörungsmythisch aufgeladen, wie jeder Verschwörungsmythos strukturell antisemitisch ist.

Verschwörungsmythen zielen darauf, politische und gesellschaftliche Entwicklungen der rationalen Betrachtung zu entziehen und stattdessen die Emotionalität und Affekthaftigkeit des Politischen zu steigern. Ihr Grundmotiv besteht darin, hinter politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen unbekannte, unfassbare, omnipotente Mächte zu vermuten, die stets im Verborgenen agieren und die Agenden der sichtbaren politischen Akteure insgeheim steuern. Die konkreten Verschwörungsmythen werden dabei fast so schnell produziert, wie die Ereignisse stattfinden, die den Anlass – oder besser gesagt: den Vorwand – für ihre Formulierung bilden. Dass die Mythenbildung nahezu in Echtzeit erfolgt, hat mit der Logik der Verschwörungsfantasie selbst zu tun: Sie bedarf keiner Fakten, keiner Wirklichkeit außer ihrer selbst, um zu funktionieren. Es bedarf nur eines Anlasses, aber keiner Ursache, damit Verschwörungsfantasien formuliert werden. Die hermeneutische Struktur von Verschwörungsmythen basiert dabei auf einem Muster, in dem ein abstraktes Ereignis nicht verstanden wird, eine konkrete Verantwortlichkeit zur Simplifizierung abstrakter Prozesse erfunden wird, auf die aggressive und destruktive Affekte projiziert werden. Deren Ziel ist es, das eigene Ohnmachtsgefühl, das aus intellektueller Unfähigkeit und/oder dem Unwillen, abstrakte Herausforderungen zu ertragen, resultiert, zu kompensieren und zugleich dem Individuum ein Allmachtsgefühl zu verschaffen. Die jeweils eigene hermetische Verschwörungsweltsicht funktioniert in ihrer Struktur unabhängig von der Wirklichkeit, da sie nicht an empirische oder historische Fakten gebunden ist, sondern lediglich mit einem Fantasieweltbild korrespondiert, das nicht nur jederzeit reproduzierbar, sondern auch jederzeit reformulierbar und damit in jeweils passender Variation abrufbar ist.

Verschwörungsmythen im Kontext von Corona

Eine medizinische Konstellation wie eine Pandemie ist ein geradezu idealtypischer Vorwand für Verschwörungsmythen. Die abstrakte und in diesem Fall tatsächlich unsichtbare Bedrohung durch ein Virus stellt – im Unterschied zu zahlreichen anderen Anlässen für die Aktivierung von Verschwörungsmythen, bei denen die intellektuelle Überforderung lediglich im an Verschwörungsmythen glaubenden Subjekt liegt und nicht in der Realität – objektiv eine welthistorische Situation dar, in der auch medizinische Expert(inn)en vor der Herausforderung stehen, in Reaktion auf komplexe und abstrakte Herausforderungen genuin neue Handlungsstrategien entwickeln zu müssen. Die Problemlage ist hochkomplex, die Lösungswege nicht vorgezeichnet, sodass die Verschwörungsideologie hieran paradigmatisch ansetzen kann. Die eigene Allmachtsfantasie wird dadurch noch gestärkt, dass die Medizin – der man in der Moderne gern eine Allmächtigkeit andichtet und mit erlösender Hoffnung verbindet ("Götter in Weiß") – im Prozess von Forschung und Intervention diesem Wunschbild nicht unmittelbar entsprechen kann.

Gleich nach Bekanntwerden der Corona-Pandemie zirkulierten bereits Verschwörungsmythen, die – was charakteristisch ist für Verschwörungsfantasien – von Beginn an zwar immanent widersprüchlich waren, aber jeweils antisemitisch ausformuliert wurden: Sie begannen mit der Unterstellung, Corona sei eine biologische Waffe der USA beziehungsweise Israels, gingen über die Behauptung, dass es das Ziel einer angeblichen "jüdischen Weltverschwörung" sei, die Menschen durch Corona zu "versklaven", und reichten bis zu dem antisemitischen Verschwörungsmythos, die Weltbevölkerung solle gezielt dezimiert werden. Zentral dabei war und ist, dass alle diese Vorstellungen in einem hermetisch geschlossenen Weltbild generiert werden, das sich von Realitätsprüfungen abschottet und durch seine irrationale Struktur dazu in der Lage ist, jede Form von objektiver Widerlegung in eine anlassbezogen reformulierte Variante des Verschwörungsglaubens zu integrieren. Die öffentlichen Versammlungen, bei denen sich im Kontext der Corona-Pandemie Kritiker(innen) als angebliche Hüter(innen) der Grundrechte inszeniert haben, waren dabei von ihrem Beginn im Frühjahr 2020 an getragen von einer verschwörungsideologischen Klammer: Verschwörungsglaube ist in seiner historischen Genese und weltanschaulichen Struktur eng mit Antisemitismus verbunden, faktisch laufen Verschwörungserzählungen so gut wie immer auf Antisemitismus hinaus. Mit Blick auf die Entwicklung der Demonstrationen zeigt sich sehr deutlich, dass der Verschwörungsglaube kontinuierlich das integrierende Element der Versammlungen darstellte, der Antisemitismus aber entscheidend mit ihrer Radikalisierung korreliert: Wenngleich auch schon im Jahr 2020 antisemitische Parolen und Visualisierungen gerufen und gezeigt wurden, die vor allem mit projektiven Personalisierungen gearbeitet haben, ist der offene, in keiner Weise kaschierte Antisemitismus, in dessen Zentrum eine geschichtsrevisionistische Relativierung, Verharmlosung oder Leugnung der Shoah steht, seit dem Frühjahr 2021 von immer größerer Relevanz, sowohl was seine Verbreitung als auch seine Radikalität angeht.

Je offener Antisemitismus artikuliert und nicht sanktioniert wird, also je ungehemmter damit die aggressiv-destruktiven Affekte des antisemitischen Weltbildes nach außen getragen werden können, desto stärker werden auch die Versammlungen gewaltbereit und gewalttätig. Insofern besteht ein kausaler Zusammenhang im Radikalisierungsprozess der Versammlungen, der auf der verbalen und visuellen Artikulation von offen mit der Vernichtungsandrohung kokettierendem Antisemitismus basiert, der sich in der Relativierung oder Leugnung der Shoah ausdrückt. Die offene Instrumentalisierung von Opfern des Nationalsozialismus ist dabei ein wesentlicher Ausdruck dieses geschichtsrevisionistischen Antisemitismus. So fallen bei "Querdenker"-Versammlungen immer wieder Teilnehmer(innen) auf, die den Gelben Stern, der im Nationalsozialismus Jüdinnen und Juden stigmatisiert hatte, heute mit der Aufschrift "Ungeimpft" tragen. Damit erfüllen die NS-Vergleiche im Kontext der verschwörungsfantastischen Demonstrationen grundsätzlich eine Doppelfunktion, in deren Zentrum eine antisemitische Täter-Opfer-Umkehr steht: Mit Blick auf die NS-Vergangenheit handelt es sich um eine geschichtsrevisionistische Relativierung der Shoah, bei der die antisemitische Vernichtungspolitik auf infame Weise instrumentalisiert wird; mit Blick auf die Gegenwart fantasieren sich die Verschwörungsgläubigen in eine Opferrolle, die die demokratische Politik dämonisieren und delegitimieren soll. Es ist eine Doppelinstrumentalisierung im Geist der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr.

Verschwörungsmythen werden nicht geglaubt, weil sie rational oder kognitiv überzeugend wären, sondern weil sie ein Weltbild festigen, das gerade nicht den Prinzipien der Aufklärung verpflichtet ist, sondern lediglich dazu dient, Pseudobelege für Vorstellungen zu liefern, die im Widerspruch zu allen rationalen Erkenntnissen stehen. Deshalb ist es auch nicht möglich, eine Verschwörungsfantasie in einer für ihre Anhänger(innen) schlüssigen Weise zu widerlegen: Sie wird geglaubt, weil sie irrational ist – und jeder Beleg dieser Irrationalität wird nur wieder in das Weltbild des großen Verschwörungsglaubens integriert. Darum sind Verschwörungsfantasien auch keine Theorien: Sie sollen die Wirklichkeit nicht erklären, sondern den psychischen Bedürfnissen derer anpassen, die an sie glauben. Ihr Anspruch ist nicht theoretisch, sondern praktisch. Der Markt aber, der sich daraus für Verschwörungsliteratur und andere Merchandising-Produkte ergibt, ist gigantisch. Es ist ein Markt des Wahnsinns, auf dem weltanschaulich alles feilgeboten wird, was nur die Bedingung erfüllt, keiner Realitätsprüfung standzuhalten. Er bedient die regressiven Fantasien, den Traum von einem harmonischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem alles nur einer Logik gehorcht, nämlich der eigenen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen, nur (gemeinschaftliche) Identität. Nur – und das verleiht so vielen Verschwörungsfantasien ihren aggressiven Impuls – dass die Welt sich fortwährend nicht so verhält, wie es die Anhänger(innen) derartiger Fantasmen gerne hätten.

Verschwörungsglaube als Wahn

Verschwörungsmythen sind ihrer Struktur nach Fantasien, infantile, regressive Fantasien, die – wiewohl in politisch gewendeter Form alles andere als ungefährlich – vor allem etwas über die Person sagen, die sie vertritt. Insofern ist in die politische Dimension des Phänomens stets auch eine zweite eingelagert, der nur mit einer sozialpsychologischen Perspektive beizukommen ist. Das heißt, die politische Attraktivität von Verschwörungsmythen wird durch einen Blick auf ihre psychische Funktion besser verständlich. Denn das, was den Kern von Verschwörungsmythen ausmacht, sind die zumeist unbewussten und verdrängten, bisweilen aber auch bewussten Wünsche und Sehnsüchte, die sich freilich nicht in einem individualpsychologischen Sinn konkretisieren ließen, die aber sozialpsychologisch Ausdruck des Wunsches nach Teilhabe an und des Einswerdens mit einer als omnipotent fantasierten Macht sind. Die antisemitische Fantasie einer "jüdischen Weltverschwörung" ist wohl das deutlichste Beispiel eines solchen Wahnweltbildes, dem ein Impuls der Vernichtung innewohnt.

Dass Verschwörungsglaube in der Gegenwart auch außerhalb des organisierten Rechtsextremismus anzutreffen ist, zeigt die auch durch Untersuchungen politischer Einstellungen seit mehreren Jahren umfangreich belegte Erosion einer zunehmend "fragilen Mitte", im Zuge derer "Themen der Rechten" immer mehr zu "Themen der Mitte" werden – und das, ohne dass sich dadurch etwas an ihrer grundsätzlich antiaufklärerischen Dimension änderte, was zugleich auch heißt, dass sich ein Teil der vormaligen gesellschaftlichen Mitte faktisch nach rechts verschoben hat. Denn der antiaufklärerische Glaube an Weltverschwörungen wird nicht erst dadurch rechtsextrem, dass er von rechtsextremen Organisationen vertreten wird, sondern er ist es seiner Struktur nach, weshalb er auch nicht dadurch demokratisiert werden kann, dass er von (vormaligen) Demokrat(inn)en vertreten wird. Ganz im Gegenteil radikalisieren sich diejenigen, die verschwörungsideologische Positionen übernehmen, und bewegen sich unweigerlich ihrerseits nach rechts. Der irrationale Glaube an Verschwörungen, der in den zurückliegenden 20 Jahren nach und nach zum zentralen Kampagnenmotiv im Rechtsextremismus geworden ist, wirkt nicht nur intern stabilisierend, sondern erweist sich als anschlussfähig für alle politischen Spektren, die eine grundsätzliche Affinität zu antiaufklärerischen Weltdeutungsansätzen haben. In diesem Sinne ist der Verschwörungsglaube dann auch, ganz gleich, in welchem politischen Kontext er auftritt, Versatzstück eines rechten Weltbildes, auch wenn diejenigen, die ihn artikulieren, sich organisatorisch nicht der rechten Szene zurechnen lassen. Damit lassen sich auch jüngere Entwicklungen im rechten Spektrum, die medial und politisch bisweilen gar nicht als solche gedeutet werden, weil ihnen der organisatorisch-institutionalisierte Kontext fehlt oder sich dieser rasch wandelt, deutlich klarer als Teil rechtsextremer Politik begreifen. Das ist dringend geboten, denn eine sozialwissenschaftliche Analyse darf sich nicht auf die formale Dimension der Organisierung beschränken, sondern muss stets im Blick behalten, dass die weltanschauliche Dimension letztlich ausschlaggebend ist.

Zugleich zeigt der Blick auf das Thema Verschwörungsfantasien aber auch, wie wichtig eine sozialpsychologisch erweiterte Perspektive auf politische und soziale Phänomene ist. Denn der Glaube an Verschwörungen ist eben analytisch nicht einfach ausschließlich mit Kategorien rationaler Analyse zu erfassen, da er irrationale Dimensionen enthält, in denen verstandes- und vernunftmäßige Kognition durch zum Affekt degradierte Emotion suspendiert ist – und genau diesem Moment sollte sich die sozialwissenschaftliche Analyse nicht verschließen. Wenn Kategorien mit Referenz auf psychoanalytische Konzepte in die Analyse integriert werden, dann sollte man reflektieren, dass es entgegen des vorwissenschaftlichen Alltagsverständnisses zwischen Normalität und Pathologie weder klinisch noch sozialpsychologisch einen solchen eindeutigen Gegensatz gibt, sondern vielmehr Wechselspiele und schleichende Übergänge dominieren.

Die Aufmerksamkeit in der Analyse sollte gerade wieder mehr auf pathologische Dimensionen in der Normalität gelegt werden, da es sich bei den Verschwörungsfantasien um etwas handelt, was mit Isidor J. Kaminer als "Wahnsinn der ‚Gesunden‘" beschrieben werden kann – gerade weil die Anhänger(innen) von Verschwörungsfantasien sich diesen hingeben, können sie eben ansonsten scheinbar gut angepasst ihren sozialen Interaktionen nachgehen. Ihr Wahn liegt im Politischen, manchmal zwar auch, aber eben gerade nicht zwingend im Persönlichen. Dieser politische Wahn erscheint an dem Punkt nicht mehr als wahnhaft, wenn es den Verschwörungsideologen gelingt, ihn als Teil der gesellschaftlich hegemonialen Normalität durchzusetzen, als Teil einer "umdefinierten gesellschaftlichen Normalität, in die der Wahnsinn eingelagert" wäre. Genau deshalb muss eine sozialwissenschaftliche Analyse von Verschwörungsfantasien darauf hinweisen, dass es sich bei ihnen eben nicht um eine von zahlreichen Optionen pluralistischen Denkens handelt, sondern um ein Weltbild, das diesen gesamten (auf Vernunft gegründeten) Pluralismus deshalb kategorial in Frage stellt, weil es schon dessen Grundannahme der Rationalität verwirft und insofern genuin antidemokratisch ist.

Der Hass auf das Abstrakte

Das Motiv der Verschwörung ist historisch wie systematisch ein antisemitisches. Gleichwohl kann die konkrete Verschwörungsfantasie zahlreiche Ausprägungen annehmen. Der moderne Antisemitismus beansprucht, die Welt zu erklären, wobei Jüdinnen und Juden in diesem Welterklärungsmuster assoziiert werden mit einer ungeheuer machtvollen, unfassbaren internationalen Verschwörung. Antisemitismus zielt dabei als kognitives und emotionales System auf einen weltanschaulichen Allerklärungsanspruch: Er bietet als Weltbild ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen, die in ihrer konkreten Ausformulierung wandelbar waren und sind. Sie richten sich immer gegen Jüdinnen und Juden, da der Antisemitismus als "Gerücht über die Juden" auf Projektionen basiert. Das reale Verhalten von Jüdinnen und Juden hat ebenso wenig Einfluss auf das antisemitische Weltbild, wie sich ebendieses Weltbild aus den emotionalen Bedürfnissen der Antisemit(inn)en selbst konstruiert. Antisemitismus ist zu verstehen als eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, also als eine spezifische Art zu denken und zu fühlen – genau genommen ist der moderne Antisemitismus die Unfähigkeit und Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen: Der Antisemitismus vertauscht beides, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein, wobei die nicht ertragene Ambivalenz der Moderne auf das projiziert wird, was der/die Antisemit(in) für jüdisch hält.

Insofern inkorporiert Antisemitismus strukturell immer Verschwörungsmythen, wie Verschwörungsmythen strukturell immer antisemitisch sind – beide basieren auf einer identischen Projektionsstruktur moderner Vergesellschaftung, in der das Abstrakte abgelehnt, wahnhaft nach Konkretisierungen gefahndet und diese mit aggressiven Projektionen belegt werden, die letztlich auf das Moment der Zerstörung und damit der Vernichtung hinauslaufen: Verschwörungsglaube ohne Antisemitismus ist strukturell ebenso wenig denkbar wie Antisemitismus ohne Verschwörungsglaube.

Dies gilt zwar nicht zwingend für jedes einzelne Detail einer Verschwörungserzählung, aber für jedes System von Verschwörungsmythen in seiner Gesamtheit – insofern mag es im Einzelfall auch vorkommen, dass Verschwörungsdenken nicht explizit antijüdisch ausbuchstabiert wird; wird es aber zu einem als Weltbildung fungierenden System, dann wurde es in der Geschichte und wird es in der Gegenwart immer antisemitisch konstruiert und, sofern nicht mit chiffrierten Metaphern und Bildern kaschiert, auch explizit antijüdisch konkretisiert. Hinter dem antisemitischen Verschwörungsglauben steht dabei der narzisstische Wunsch nach menschlicher Allmacht: Der/die Verschwörungsgläubige unterstellt der Verschwörung exakt das, was er/sie selbst für sich wünscht: grenzenlose Kontrolle, unendliches Wissen und ungezügelte Allmacht – und will damit jede Form von Geheimnis aus der Welt schaffen, das konstitutiv für die Existenz moderner, demokratischer Ordnungen ist. Das Geheimnis führt aber ebenso unvermeidbar zum Mythos von Verschwörungen, als sie prototypisch in den Varianten und Variationen der Fantasie einer "jüdischen Weltverschwörung" ihren Ausdruck finden. Denn hinter der abstrakten Unvermeidbarkeit des Geheimnisses für die Aufrechterhaltung derjenigen öffentlichen Ordnung, in der ihre gesellschaftlichen Mitglieder miteinander aufgrund konkurrierender Interessen strukturell uneins sein dürfen und insofern den Konflikt auf Dauer stellen, liegt eine strukturelle Logik. Diese Logik wird aber von denen, die meinen, dass sich in gesellschaftlicher Struktur- und Funktionslogik von nicht-öffentlichem Handeln ein über diese hinausgehender normativer Sinn verbergen müsse, nicht verstanden.

Denn Verschwörungsmythen unterstellen als zentrale Annahme die Existenz von umfangreichem "Geheimwissen", zu dem die Anhänger(innen) solcher Mythen quasi exklusiven Zugang hätten. Lässt man außer Acht, dass diese Fantasie oft an Groteske kaum zu überbieten ist, wenn als "Belege" selbstproduzierte Internetvideos oder ähnlich fiktionale Kreationen herhalten sollen, dann liegt in dieser Vergottung des vermeintlich allwissenden und alles durchschauenden Selbst der große Wunsch, "das Geheimnis" zu durchschauen und damit selbst allmächtig zu sein. Das Individuum wird im Antisemitismus dabei allerdings doppelt desubjektiviert, es verliert die intellektuelle Hoheit über seine Selbstreflexion und gibt die Möglichkeit des emotionalen Verstehens und Mitfühlens auf. Der antisemitische Wunsch, konkret zu denken, wird ergänzt um die Unfähigkeit, konkret zu fühlen; die Weltanschauung soll konkret sein, das Gefühl aber abstrakt – was sowohl die intellektuelle wie die emotionale Perspektive einer Inversion unterzieht, die psychisch aufgrund ihrer Dichotomie zu inneren Konflikten führen muss. Auf der weltanschaulichen Ebene ist Antisemitismus damit eine dezisionistische Haltung zur Welt, eine radikale bewusste wie unbewusste Entscheidung für den kognitiven und emotionalen Glauben an den Manichäismus der antisemitischen Fantasie.

Das Geheimnis: Angst und Sehnsucht

An die Stelle des intellektuellen Verstandes, der sich abstrakter Logik nicht verschließt, sondern diese als Bedingung für die Entfaltung konkreter Individualität und Subjekthaftigkeit begreift, tritt im Antisemitismus ein emotionales Scheinverstehen, ein konkretistischer Wahn, der in seiner kognitiven wie emotionalen Weigerung, abstrakte Strukturen zu verstehen, stets nach Konkretisierungen fahnden muss. Diese Konkretisierung macht der Mensch, der antisemitisch denkt, für sein Elend verantwortlich, das er aber wiederum sich selbst nur dadurch zugefügt hat, weil er sich weigert, abstrakt zu denken und intellektuell wie emotional zu erfassen, dass der Sinn seines Lebens eben nicht in einer äußerlichen Struktur liegen kann, also niemals durch Surrogate (wie Gott, die Natur, den Staat, die Nation und so weiter) hergestellt werden wird, sondern nur dadurch, dass er bereit ist, sich seiner Potenziale als Individuum und Subjekt zu bedienen – und sich damit auch seiner Limitierungen, Grenzen und Fehlbarkeiten bewusst wird. Das Denken wird als solches fetischisiert, die Dialektik von Öffentlichkeit und Privatheit in ihrer antinomischen Einheit (keine Öffentlichkeit ohne Privatheit und vice versa) gespalten und auf das allein dinglich Fassbare, das Offensichtliche, das Stoffliche reduziert, ohne den abstrakten Vergesellschaftungszusammenhang dabei mitzudenken und zu begreifen, dass das für öffentliche Ordnung unverzichtbare Geheimnis, das als Verschwörung illuminiert wird, ein Teil der unverzichtbaren Wahrheit moderner Vergesellschaftung ist. Die antisemitischen Verschwörungsfantasien als totales Weltbild sind unmittelbarer Ausdruck der Angst vor dem Geheimnis. Zugleich sind sie Ausdruck einer tiefen Faszination durch das Geheimnis, einer abstoßenden Anziehung von dem Ort, in den der Antisemitismus letztlich die Hoffnung auf einen Sinn der sinnentleerten Gesellschaft hineinfantasiert – und den er, als scheineinsichtig in die Hintergründe der vermeintlichen Verschwörung und damit vermeintlich intimer Kenner der Geheimnisse, sich selbst und anderen suggeriert zu durchschauen, wenngleich er in seiner obsessiven Verblendung weit davon entfernt ist.

Denn wenn den Antisemit(inn)en ihre Projektion auf Jüdinnen und Juden gelingt, dann haben sie ihr manichäisches Paradies verwirklicht: All das Böse befindet sich von nun an auf der einen Seite, eben da, wo der Jude sich in ihrer Sicht befindet, und all das Gute auf der anderen, da, wo die Antisemit(inn)en sich in ihrer Binnenperspektive selbst befinden. Das Ich-Ideal der Antisemit(inn)en ist laut Béla Grunberger narzisstischer Natur und die Befriedigung entspricht einer vollständigen narzisstischen Integrität, die die Antisemit(inn)en durch die Projektion auf den Juden gewonnen haben. Das Ziel der Herstellung von narzisstischer Integrität besteht in der Verdeckung einer offen narzisstischen Wunde, die, Grunberger folgend, im Kontext des Ödipuskomplexes als zentral zu erachten ist. Denn Menschen mit antisemitischen Einstellungen haben die narzisstische Kränkung ihres Selbstgefühls nie zu korrigieren vermocht und sind damit am ödipalen Konflikt gescheitert. Mit der individuellen Kränkung korrespondiert die von Sigmund Freud beschriebene kollektive Kränkung, die sich in der christlichen Eifersucht auf die religiöse Auserwähltheit des Judentums und der projektiven Fantasie einer "jüdischen Weltverschwörung" ausdrückt:

"Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüst der Einheimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ. Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion. Die völkischen Phantasien jüdischer Verbrechen, der Kindermorde und der sadistischen Exzesse, der Volksvergiftung und internationalen Verschwörung definieren genau den antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung zurück."

Die Verschwörungsfantasie ist damit nicht nur eine mythische Konstruktion, sondern in ihrer Verdinglichung auch Ausdruck der Ambivalenz moderner Vergesellschaftung und dem Wahn entlehnt, allwissend und allmächtig hinter das fantasierte Geheimnis (und damit letztlich den Tod als das zentrale Geheimnis des menschlichen Lebens) blicken zu können. Deshalb werden Verschwörungsmythen auch geglaubt: nicht obwohl, sondern weil sie erfunden sind und weil sie im Widerspruch zu allen Erkenntnissen stehen, die mit der Realität korrespondieren, denn ihr Anspruch ist nicht theoretisch, sondern praktisch. Sie sind Fantasien von einer regredierten Welt, der Traum von einem harmonischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem alles nur einer Logik gehorcht, nämlich der eigenen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen, nur Identität. Freud hat das begrifflich in der Unterscheidung von "materieller Realität" und "psychischer Realität" gefasst – die Verschwörungsfantasien als psychische Realität sind dabei nahezu hermetisch von der materiellen Realität abgekoppelt: als Wahnvorstellungen, die einer identitären und widerspruchsfreien Logik folgen, die nur in der Hermetik der Psyche funktioniert. Alles kreist um das narzisstische Selbst, das sich dem omnipotenten Größenwahn hemmungslos hingibt, aus sich selbst heraus die Welt zu deuten und sich damit einer Allmachtsfantasie hinzugeben, die dem Tod zu entrinnen suggeriert.

Die antisemitische Fantasie einer "jüdischen Weltverschwörung" ist der deutlichste Ausdruck eines solchen Wahnweltbildes, von dem der Nationalsozialismus in barbarischer Weise gezeigt hat, dass es dem völkischen Ideal der Weltbeherrschung durch Vernichtung entsprang. Das, was den Anderen im Verschwörungsmythos vorgeworfen und vorgehalten wird, ist das Eigene – die verdrängten und verleugneten Anteile des Selbst, die eigenen Wünsche, die zugleich als so monströs erfasst (aber eben dabei nicht begriffen) werden, dass sie – zunächst – nur in ihrer projektiven Form formuliert werden. In den unzähligen Verschwörungsmythen können also die Wünsche und Fantasien derer gelesen werden, die an sie glauben – was sie noch bedrohlicher macht als die alleinige Feststellung, dass diejenigen, die an sie glauben, offensichtlich verrückt sind. Denn es ist ein sozialer, kein individueller Wahn – ein soziales Wahnweltbild der Verschwörung, das auf den Wunsch nach der Allmacht verweist. Denn als verrückt gelten Verschwörungsanhänger(innen) nur so lange, wie sie in einer Welt leben, die sie als verrückt kenntlich zu machen imstande ist. Wenn der Wahn sich die Realität getreu seines Bildes zur Wirklichkeit entstellt, gilt der/die Verrückte nicht mehr als solche/r, sondern als normal und gut angepasst. Eine solche Normalitätsvorstellung ist dabei ohne jede Frage eine, die sich auf barbarische Vernichtungsfantasien und ihre praktische Umsetzung gründet – denn in der antisemitischen Vernichtung erträumen sich die Antisemit(inn)en die Erlösung von ihrer größten Angst: der vor dem Tod.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Teile der nachfolgenden Überlegungen sind bereits an anderer Stelle entwickelt worden und werden hier erweitert. Vgl. Samuel Salzborn, Vom rechten Wahn. "Lügenpresse", "USrael", "Die da oben" und "Überfremdung", in: Mittelweg 36, 6/2016, S. 76–96; ders., Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim 2020, S. 191–204.

  2. Vgl. Tobias Jaecker, Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters, Münster 2004.

  3. So etwa von Microsoft-Gründer Bill Gates oder dem Unternehmer George Soros.

  4. Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn 2014.

  5. Vgl. Christoph Butterwegge et al., Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002.

  6. Vgl. Salzborn 2016 (Anm. 1).

  7. Isidor J. Kaminer, Normalität und Nationalsozialismus, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 5/1997, S. 385–409, hier S. 389.

  8. Rolf Pohl, Normalität und Pathologie. Sozialpsychologische Anmerkungen zum Umgang mit der NS-Gewalt in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hrsg.), Gewalt und Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft, Hannover 2001, S. 89–109, hier S. 106.

  9. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt/M. 1997 [1951], S. 125.

  10. Vgl. hierzu ausführlich: Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt/M.–New York 2010.

  11. Vgl. Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus. Bd. VII: Zwischen Assimilation und "Jüdischer Weltverschwörung", Frankfurt/M. 1988; Wolfgang Wippermann, Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Berlin 2007.

  12. Vgl. Béla Grunberger, Der Antisemit und der Ödipuskomplex, in: Psyche. Eine Zeitschrift für psychologische und medizinische Menschenkunde 5/1962, S. 254–271.

  13. Vgl. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: ders., Gesammelte Werke Bd. XVI, Frankfurt/M. 1999 [1939], S. 101–246.

  14. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 219.

  15. Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: ders., Gesammelte Werke Bd. II/III, Frankfurt/M. 1999 [1899/1900], S. 625.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Samuel Salzborn für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus.
E-Mail Link: website@salzborn.de