Am 29. August 2020 überstiegen hunderte Menschen am Rande einer großen Anti-Lockdown-Demonstration in Berlin die Absperrungen um den Deutschen Bundestag und erklommen die Treppen des Reichstagsgebäudes. Drei Polizist:innen hielten die Menge vom Vordringen in den Bundestag ab, bis Verstärkung eintraf. Neben russischen, US-amerikanischen und deutschen Flaggen schwenkten Demonstrierende während der Aktion auch deutlich sichtbar die schwarz-weiß-rote Fahne des Deutschen Reichs. Zuvor hatte eine Heilpraktikerin, die dem "Reichsbürger"- und "QAnon"-Milieu zugerechnet wird, auf einer Bühne verkündet, der damalige US-Präsident Donald Trump sei zur Befreiung Deutschlands in Berlin gelandet: Nun sei es an der Zeit, sich das Hausrecht über den Bundestag zurückzuholen.
"Reichsbürger"
Das Phänomen der "Reichsbürger" erfährt seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre öffentliche Aufmerksamkeit. Grund dafür ist der Mord an einem Polizeibeamten im fränkischen Georgensgmünd durch einen "Reichsbürger". Am 19. Oktober 2016 stürmte die Polizei das Wohnhaus des Mannes, um dessen 31 Schusswaffen zu konfiszieren. Der Mann, der sein Grundstück mit einer gelben Linie und einem Schild als "Regierungsbezirk Wolfgang" markiert hatte, schoss auf die Beamten, wobei er mehrere verletzte – einen davon tödlich. Vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth wurde er dafür zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
"Reichsbürger" zweifeln die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland an. Manche von ihnen meinen, Deutschland befinde sich noch immer im Krieg und sei besetzt, da nach dem Zweiten Weltkrieg kein Friedensvertrag geschlossen worden sei. Andere behaupten, die Bundesrepublik sei nicht einfach nur ein Besatzungskonstrukt geheimer Mächte hinter den Alliierten, sondern darüber hinaus eine Firma – die BRD GmbH. Entsprechend würden bei Auseinandersetzungen mit dem Staat lediglich privatrechtliche Regelungen gelten. Ein Teil des Milieus zieht daraus den Schluss, dass das Deutsche Reich der letzte rechtmäßige Staat der Deutschen gewesen sei. Dessen Handlungsfähigkeit müsse folglich wiederhergestellt werden. Andere wiederum glauben, aus der Bundesrepublik "austreten", sich zu individuellen Souveränen erklären oder gar einen eigenen Staat ausrufen zu können. Aber woher kommt dieser Glaube?
Der Begriff "Reichsbürger" ist vor allem durch die Aktionen des selbsternannten "Reichskanzlers" Wolfgang Ebel geprägt. Als 1980 Westberliner Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn
Das Anwachsen der KRR führte zu Spannungen zwischen ihren Mitgliedern, die zu mehreren Abspaltungen führten. Dieser Prozess setzte sich weiter fort, sodass inzwischen dutzende mehr oder weniger aktive reichsideologische "Regierungen" existieren.
Für das Jahr 2020 verzeichnet das Bundesamt für Verfassungsschutz 20.000 (2019: 19.000) "Reichsbürger und Selbstverwalter", von denen 1.000 Mitglieder (2019: 950) als rechtsextrem eingestuft werden.
Verschwörungsideologischer Souveränismus
Das Milieu, aus dem sowohl Ebel als auch der Täter von Georgensgmünd stammen, soll als "souveränistisches" bezeichnet werden, die verbindende und treibende Ideologie dahinter als "verschwörungsideologischer Souveränismus".
Verschwörungsideologischer Souveränismus soll nachfolgend als das Bestreben verstanden werden, individuelle oder Volkssouveränität sowie eine damit verbundene, als natürlich begriffene Ordnung gegen die herrschende gesellschaftliche und politische Ordnung (wieder)herstellen zu wollen, die als Mittel einer globalen Verschwörung mit dem Ziel der Vernichtung der Eigengruppe identifiziert wird. Verschwörungsideologischer Souveränismus in Deutschland ist personell und ideengeschichtlich eng mit Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rechtslibertarismus verknüpft.
Die Ideologie von Souveränist:innen und "Reichsbürgern" ist notwendig mit Verschwörungsdenken verbunden, da die zentrale Behauptung der fehlenden Souveränität des eigenen Staates oder Volkes für Souveränist:innen mehrere Fragen aufwirft: Warum ist die Bundesrepublik oder warum sind die Deutschen nicht souverän? Warum ist dieses Wissen nicht weit verbreitet? Die innerhalb des Milieus geteilten Antworten beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf die verschwörungsideologische Vorstellung, der zufolge Deutschland und die Deutschen von einer geheimen, fremden Macht beherrscht würden. Die Bundesrepublik sei daher bloß ein Mittel zur Unterdrückung des deutschen Volkes.
Das souveränistische Milieu in Deutschland ist höchst heterogen. Es lässt sich idealtypisch in vier Submilieus unterteilen:
Traditionell organisierte Rechtsextreme zielen seit 1945 darauf, das (nationalsozialistische) Deutsche Reich und dessen "Volksgemeinschaft" wiederherzustellen. Sie waren und sind im Umfeld politischer Parteien (anfangs etwa der Sozialistischen Reichspartei (SRP), später der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD)) aktiv, aber auch in anderen rechtsextremen Organisationen, Netzwerken und Verlagen. Einige bezeichnen sich selbst als "Reichsbürger".
Reichsbürger in der Tradition des "Reichskanzlers" Wolfgang Ebel glauben, die Handlungsfähigkeit eines Deutschen Reiches bereits durch ihr eigenes "Regierungshandeln" unmittelbar wiederhergestellt zu haben. Sie waren und sind seit den 1980er Jahren mehrheitlich nicht in traditionellen rechtsextremen Organisationen aktiv.
Individual-, Gruppen- und sezessionistische Souveränist:innen wollen (zunächst) kein Deutsches Reich von oben wiederherstellen, sondern erklären sich als Individuen, Familien(-Oberhäupter), Gruppen oder als Staatsgründer:innen für souverän. Sie glauben, sich mit ihren "Staatsterritorien" von der Bundesrepublik abgespalten zu haben, die zumeist nicht als Staat, sondern als Firma identifiziert wird.
"Neurechte" Souveränist:innen bilden ein Scharnier zwischen anderen rechtsextremen, reaktionären, souveränistischen und verschwörungsideologischen Milieus. Sie beziehen sich vordergründig nicht auf das nationalsozialistische Deutsche Reich, sondern beklagen die vermeintlich fehlende Souveränität Deutschlands, das mit der Bundesrepublik nicht notwendigerweise identisch gesetzt wird. Frühe Mitglieder der "Neuen Rechten" proklamierten offen die Idee eines neu zu errichtenden Deutschen Reiches.
Rechtsextreme und antisemitische Tradition
Verschwörungsideologischer Souveränismus steht in einer rechtsextremen und antisemitischen Tradition.
Die SRP war eine der ersten Parteien in der Bundesrepublik, die diesen Anspruch von 1949 bis zu ihrem Verbot im Jahr 1952 prominent vortrug. Nach Ansicht der Partei hatte das Deutsche Reich mit der Kapitulation der Wehrmacht nicht aufgehört, zu existieren. Sie wertete die Verhaftung des letzten Reichspräsidenten und Stellvertreters Hitlers, Karl Dönitz, als illegalen Akt der Alliierten. Mitglieder der SRP verstanden sich als Teil einer "Widerstandsbewegung", als "Nationale Opposition" gegen die deutsche Teilung, die Bundesrepublik und deren andere Parteien.
Für den traditionellen Rechtsextremismus sind auch die Aktionen Manfred Roeders von Bedeutung. Roeder teilte die Grundannahmen der SRP bezüglich der Fortexistenz des Deutschen Reichs. Seine Strategie zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Reichs umfasste jedoch zunächst keine parlamentarische Arbeit. Stattdessen kontaktierte er 1975 Karl Dönitz, den er für das letzte rechtmäßige Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs hielt. Als Dönitz die angebotene Zusammenarbeit ablehnte, veranstaltete Roeder am 23. Mai 1975 den "Reichstag zu Flensburg". Dessen Anliegen war es, "Deutschland von den Besatzungsmächten und vom Besatzungsrecht zu befreien, damit sich endlich wieder eine freie, vom Deutschen Volk gewählte Regierung bilden kann".
Hinsichtlich der rechtsextremen und antisemitischen Tradition des souveränistischen Milieus sind außerdem die Aktivitäten von Horst Mahler von Bedeutung. Im rechtsextremen "Deutschen Kolleg" zielte er mit Gleichgesinnten seit den späten 1990er Jahren auf die Errichtung eines "Vierten Reichs" ab. Ab Februar 2004 musste sich die Gruppe wegen Volksverhetzung vor Gericht verantworten. Mahler verband dort Holocaust-Leugnung mit souveränistischer Propaganda. So behauptete er: "Die Deutschen sind erst wieder frei, wenn das Deutsche Reich seine Handlungsfähigkeit wiedererlangt hat. Der Weg zur Selbstherrlickeit [sic!] des Deutschen Reiches führt über den Sturz der Jüdischen Fremdherrschaft. Die Jüdische Fremdherrschaft stürzt mit der Entlarvung der Auschwitzlüge."
Souveränismus und "Querdenken"
Seit Beginn der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Proteste gegen die Eindämmungsmaßnahmen der Bundesregierung – nachfolgend als "Querdenken"-Bewegung bezeichnet – sind auch souveränistische Individuen und Gruppen in diesen Zusammenhängen aktiv. Schon in der Vergangenheit suchten sie gezielt Proteste auf, um Propaganda zu verbreiten, neue Mitglieder zu werben oder selbst Führungsrollen zu übernehmen. Ihre Aktivitäten lassen sich beispielhaft zu Beginn des Kriegs in der Ostukraine und innerhalb der darauf reagierenden "Montagsmahnwachen für den Frieden" (2014/15) nachweisen.
Während der aufkommenden Anti-Lockdown-Proteste um "Querdenken 711" waren "Reichsbürger" und andere Souveränist:innen offen Teil der sich bildenden Bewegung. So distanzierte sich der Hauptorganisator von "Querdenken 711", Michael Ballweg, nur zögerlich und unter öffentlichem Druck von Nikolai Nerling, der Querdenken von Anfang an begleitete.
Unabhängig von den Aktivitäten der Hauptorganisatoren zeigten Protestierende auf den beiden Demonstrationen im August 2020 in Berlin deutlich sichtbar Reichsfahnen und verbreiteten souveränistische Propaganda. Für Jürgen Elsässer, Chefredakteur des souveränistischen, verschwörungsideologischen und antisemitischen Magazins "Compact", markierte die deutliche Wahrnehmbarkeit von Reichsfahnen einen vermeintlichen "Popstatus" des Reichs in der deutschen Gesellschaft. Seiner Meinung nach fänden die "Insignien von 1871" innerhalb der Bewegung Anklang, da "sie der letzte Staat auf deutschem Boden gewählt hat, der nicht oktroyiert war: Die Weimarer Republik wurde von den Versailler Siegermächten erzwungen, das Dritte Reich war im Würgegriff einer einzigen Partei, die DDR stand unter sowjetischer Kontrolle, und die Bundesrepublik war ein Provisorium der Westalliierten".
"Reichsbürger" und QAnon
In diesem Zusammenhang ist auch die Übernahme des "QAnon"-Verschwörungsmythos durch einige "Reichsbürger"-Gruppierungen bemerkenswert.
"Reichsbürger" und "QAnon"-Anhänger bitten Donald Trump, Deutschland zu befreien, gezeigt auf der Anti-Lockdown- Demonstration in Berlin am 29. 8. 2020. (© picture-alliance/dpa, Kay Nietfeld)
"Reichsbürger" und "QAnon"-Anhänger bitten Donald Trump, Deutschland zu befreien, gezeigt auf der Anti-Lockdown- Demonstration in Berlin am 29. 8. 2020. (© picture-alliance/dpa, Kay Nietfeld)
Dass dies nicht nur ein passives Abwarten der Errettung bedeutet, wurde während der zweiten Großdemonstration von Querdenken in Berlin Ende August 2020 sichtbar. Souveränist:innen und ihre Sympathisant:innen forderten vor den Botschaften der USA und Russlands einen Friedensvertrag. Vor letzterer kam es ab dem frühen Abend zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei denen unter anderem der rechtsextreme "Reichsbürger" und Antisemit Attila Hildmann festgenommen wurde.
Souveränistische Gewalt
Auch wenn bisher wenige Souveränist:innen gewalttätig geworden sind, verzeichnet das Innenministerium einen Anstieg der Gewalttaten für das Jahr 2020 auf 125 (2019: 121), wovon die meisten Erpressungs- und Widerstandsdelikte sind.