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"Reichsbürger" und Souveränismus | Verschwörungstheorien | bpb.de

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"Reichsbürger" und Souveränismus

Jan Rathje

/ 16 Minuten zu lesen

Die "Reichsbürger" sind erst seit wenigen Jahren einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Ihre Ideologie baut auf einer langen Tradition aus antisemitischen und verschwörungsideologischen Denkmustern auf – und auf ihrer Verbindung mit dem Rechtsextremismus.

Am 29. August 2020 überstiegen hunderte Menschen am Rande einer großen Anti-Lockdown-Demonstration in Berlin die Absperrungen um den Deutschen Bundestag und erklommen die Treppen des Reichstagsgebäudes. Drei Polizist:innen hielten die Menge vom Vordringen in den Bundestag ab, bis Verstärkung eintraf. Neben russischen, US-amerikanischen und deutschen Flaggen schwenkten Demonstrierende während der Aktion auch deutlich sichtbar die schwarz-weiß-rote Fahne des Deutschen Reichs. Zuvor hatte eine Heilpraktikerin, die dem "Reichsbürger"- und "QAnon"-Milieu zugerechnet wird, auf einer Bühne verkündet, der damalige US-Präsident Donald Trump sei zur Befreiung Deutschlands in Berlin gelandet: Nun sei es an der Zeit, sich das Hausrecht über den Bundestag zurückzuholen. Die Polizei konnte zwar die Treppen des Reichstagsgebäudes räumen. Innerhalb des souveränistischen Milieus um die "Reichsbürger" wurde die Aktion jedoch als Propagandaerfolg gewertet.

"Reichsbürger"

Das Phänomen der "Reichsbürger" erfährt seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre öffentliche Aufmerksamkeit. Grund dafür ist der Mord an einem Polizeibeamten im fränkischen Georgensgmünd durch einen "Reichsbürger". Am 19. Oktober 2016 stürmte die Polizei das Wohnhaus des Mannes, um dessen 31 Schusswaffen zu konfiszieren. Der Mann, der sein Grundstück mit einer gelben Linie und einem Schild als "Regierungsbezirk Wolfgang" markiert hatte, schoss auf die Beamten, wobei er mehrere verletzte – einen davon tödlich. Vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth wurde er dafür zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

"Reichsbürger" zweifeln die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland an. Manche von ihnen meinen, Deutschland befinde sich noch immer im Krieg und sei besetzt, da nach dem Zweiten Weltkrieg kein Friedensvertrag geschlossen worden sei. Andere behaupten, die Bundesrepublik sei nicht einfach nur ein Besatzungskonstrukt geheimer Mächte hinter den Alliierten, sondern darüber hinaus eine Firma – die BRD GmbH. Entsprechend würden bei Auseinandersetzungen mit dem Staat lediglich privatrechtliche Regelungen gelten. Ein Teil des Milieus zieht daraus den Schluss, dass das Deutsche Reich der letzte rechtmäßige Staat der Deutschen gewesen sei. Dessen Handlungsfähigkeit müsse folglich wiederhergestellt werden. Andere wiederum glauben, aus der Bundesrepublik "austreten", sich zu individuellen Souveränen erklären oder gar einen eigenen Staat ausrufen zu können. Aber woher kommt dieser Glaube?

Der Begriff "Reichsbürger" ist vor allem durch die Aktionen des selbsternannten "Reichskanzlers" Wolfgang Ebel geprägt. Als 1980 Westberliner Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn streikten, wurden viele von ihnen entlassen – darunter Wolfgang Ebel. Anschließend führte er in Westberlin mehrere Gerichtsprozesse, um seinen Lebensunterhalt sichern zu können. Während dieser Prozesse bildeten sich Ebels reichsideologische Vorstellungen aus. In späteren Selbstzeugnissen behauptete er, während des Streiks von alliierten Geheimdienstmitarbeitenden über die Handlungsunfähigkeit des Deutschen Reichs informiert und mit der Aufgabe betraut worden zu sein, diesen Umstand zu ändern. Anschließend gab sich Ebel als "Generalbevollmächtigter des Deutschen Reiches" und "Reichsverkehrsminister" aus. In den Folgejahrzehnten trat er als "Reichskanzler" der von ihm gegründeten "Kommissarischen Reichsregierung" (KRR) auf. Für Ebel war die Bundesrepublik eine illegale Vereinigung, die als Deckmantel einer "jüdisch-freimaurerischen" Verschwörung diente. Folglich müssten "Reichsbürger" weder Steuern und Gebühren noch Buß- oder Ordnungsgelder an die Bundesrepublik zahlen. Das führte zu zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen. Ebel und seine Gefolgsleute verschickten seitenlange Begründungen für die Nichtexistenz der Bundesrepublik an die Behörden. Als "Reichsregierung" erließen sie Todesurteile gegen Beamt:innen für ihren "Volksverrat", da sie für einen illegalen Staat tätig seien. Zudem boten Mitglieder der KRR kostenpflichtige Lehrgänge an, in denen über die vermeintlich wahre Rechtslage Deutschlands informiert wurde. Darüber hinaus verkauften sie "Reichsdokumente", wie etwa Reisepässe und Führerscheine.

Das Anwachsen der KRR führte zu Spannungen zwischen ihren Mitgliedern, die zu mehreren Abspaltungen führten. Dieser Prozess setzte sich weiter fort, sodass inzwischen dutzende mehr oder weniger aktive reichsideologische "Regierungen" existieren.

Für das Jahr 2020 verzeichnet das Bundesamt für Verfassungsschutz 20.000 (2019: 19.000) "Reichsbürger und Selbstverwalter", von denen 1.000 Mitglieder (2019: 950) als rechtsextrem eingestuft werden. Auf der Social Media-Plattform Telegram hingegen verzeichnen offene "Reichsbürger"-Kanäle (Stand: Juni 2021) mehr als 60.000 Abonnent:innen. Diese Diskrepanz verdeutlicht, dass es zusätzlich zu den gängigen Erhebungen sozialwissenschaftlicher Studien bedarf, um die tatsächliche Größe des Milieus zu ermitteln.

Verschwörungsideologischer Souveränismus

Das Milieu, aus dem sowohl Ebel als auch der Täter von Georgensgmünd stammen, soll als "souveränistisches" bezeichnet werden, die verbindende und treibende Ideologie dahinter als "verschwörungsideologischer Souveränismus". Bei allen Schwierigkeiten der Kategorienbildung scheint dieser Begriff besser geeignet als die amtlich genutzten Begriffe "Reichsbürger und Selbstverwalter", um das Phänomen auch in transnationalen Kontexten zu erfassen. Besonders der Begriff "Reichsbürger" verengt den Blick auf eine deutsch-österreichische Spezifik des verschwörungsideologischen Souveränismus, der auch in anderen Staaten zu finden ist.

Verschwörungsideologischer Souveränismus soll nachfolgend als das Bestreben verstanden werden, individuelle oder Volkssouveränität sowie eine damit verbundene, als natürlich begriffene Ordnung gegen die herrschende gesellschaftliche und politische Ordnung (wieder)herstellen zu wollen, die als Mittel einer globalen Verschwörung mit dem Ziel der Vernichtung der Eigengruppe identifiziert wird. Verschwörungsideologischer Souveränismus in Deutschland ist personell und ideengeschichtlich eng mit Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rechtslibertarismus verknüpft.

Die Ideologie von Souveränist:innen und "Reichsbürgern" ist notwendig mit Verschwörungsdenken verbunden, da die zentrale Behauptung der fehlenden Souveränität des eigenen Staates oder Volkes für Souveränist:innen mehrere Fragen aufwirft: Warum ist die Bundesrepublik oder warum sind die Deutschen nicht souverän? Warum ist dieses Wissen nicht weit verbreitet? Die innerhalb des Milieus geteilten Antworten beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf die verschwörungsideologische Vorstellung, der zufolge Deutschland und die Deutschen von einer geheimen, fremden Macht beherrscht würden. Die Bundesrepublik sei daher bloß ein Mittel zur Unterdrückung des deutschen Volkes.

Ein "Reichsbürger"-Transparent, gezeigt auf der Anti-Lockdown-Demonstration in Berlin am 29. 8. 2020. (© picture-alliance, sulupress.de)

Das souveränistische Milieu in Deutschland ist höchst heterogen. Es lässt sich idealtypisch in vier Submilieus unterteilen:

Traditionell organisierte Rechtsextreme zielen seit 1945 darauf, das (nationalsozialistische) Deutsche Reich und dessen "Volksgemeinschaft" wiederherzustellen. Sie waren und sind im Umfeld politischer Parteien (anfangs etwa der Sozialistischen Reichspartei (SRP), später der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD)) aktiv, aber auch in anderen rechtsextremen Organisationen, Netzwerken und Verlagen. Einige bezeichnen sich selbst als "Reichsbürger".

Reichsbürger in der Tradition des "Reichskanzlers" Wolfgang Ebel glauben, die Handlungsfähigkeit eines Deutschen Reiches bereits durch ihr eigenes "Regierungshandeln" unmittelbar wiederhergestellt zu haben. Sie waren und sind seit den 1980er Jahren mehrheitlich nicht in traditionellen rechtsextremen Organisationen aktiv.

Individual-, Gruppen- und sezessionistische Souveränist:innen wollen (zunächst) kein Deutsches Reich von oben wiederherstellen, sondern erklären sich als Individuen, Familien(-Oberhäupter), Gruppen oder als Staatsgründer:innen für souverän. Sie glauben, sich mit ihren "Staatsterritorien" von der Bundesrepublik abgespalten zu haben, die zumeist nicht als Staat, sondern als Firma identifiziert wird.

"Neurechte" Souveränist:innen bilden ein Scharnier zwischen anderen rechtsextremen, reaktionären, souveränistischen und verschwörungsideologischen Milieus. Sie beziehen sich vordergründig nicht auf das nationalsozialistische Deutsche Reich, sondern beklagen die vermeintlich fehlende Souveränität Deutschlands, das mit der Bundesrepublik nicht notwendigerweise identisch gesetzt wird. Frühe Mitglieder der "Neuen Rechten" proklamierten offen die Idee eines neu zu errichtenden Deutschen Reiches.

Rechtsextreme und antisemitische Tradition

Verschwörungsideologischer Souveränismus steht in einer rechtsextremen und antisemitischen Tradition. Noch immer ist der Souveränismus mit den Kriegsniederlagen im 20. Jahrhundert und deren Folgen verbunden. Somit ist er älter als die Bundesrepublik. Rechtsextreme Organisationen und Parteien streben seit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 die politische und territoriale Wiederherstellung des Deutschen Reichs und seiner Souveränität an. Der Politikwissenschaftler Richard Stöss stellt eine zentrale Rolle dieser Kampagne für den deutschen Rechtsextremismus von 1945 bis 1982 fest.

Die SRP war eine der ersten Parteien in der Bundesrepublik, die diesen Anspruch von 1949 bis zu ihrem Verbot im Jahr 1952 prominent vortrug. Nach Ansicht der Partei hatte das Deutsche Reich mit der Kapitulation der Wehrmacht nicht aufgehört, zu existieren. Sie wertete die Verhaftung des letzten Reichspräsidenten und Stellvertreters Hitlers, Karl Dönitz, als illegalen Akt der Alliierten. Mitglieder der SRP verstanden sich als Teil einer "Widerstandsbewegung", als "Nationale Opposition" gegen die deutsche Teilung, die Bundesrepublik und deren andere Parteien. Die Partei nutzte den Mythos der "jüdischen Weltverschwörung", um das gesamte Weltgeschehen für die Identität ihrer Anhänger:innen in eine antisemitische Ordnung zu bringen. Das Reich war in ihrer Vorstellung die postulierte Antithese gegen abstrakte gesellschaftliche Prozesse der Moderne: Alle Widersprüche sollten in der Volks- beziehungsweise Reichsgemeinschaft aufgehen. Nach dem Parteiverbot wechselten Parteimitglieder zur Deutschen Reichspartei (DRP) und schließlich zur 1964 gegründeten NPD, für die die Wiederherstellung des Deutschen Reichs weiterhin ein – wenn auch untergeordnetes – Ziel ist.

Für den traditionellen Rechtsextremismus sind auch die Aktionen Manfred Roeders von Bedeutung. Roeder teilte die Grundannahmen der SRP bezüglich der Fortexistenz des Deutschen Reichs. Seine Strategie zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Reichs umfasste jedoch zunächst keine parlamentarische Arbeit. Stattdessen kontaktierte er 1975 Karl Dönitz, den er für das letzte rechtmäßige Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs hielt. Als Dönitz die angebotene Zusammenarbeit ablehnte, veranstaltete Roeder am 23. Mai 1975 den "Reichstag zu Flensburg". Dessen Anliegen war es, "Deutschland von den Besatzungsmächten und vom Besatzungsrecht zu befreien, damit sich endlich wieder eine freie, vom Deutschen Volk gewählte Regierung bilden kann". Die Polizei löste die Veranstaltung auf. Drei Jahre später ließ sich Roeder von seiner Gruppe "Freiheitsbewegung Deutsches Reich" zum "Reichsverweser" ernennen. Ab 1980 war er Teil der rechtsextremen Terrororganisation "Deutsche Aktionsgruppen", die für sieben Brand- und Sprengstoffanschläge verantwortlich war, bei denen zwei vietnamesische Asylsuchende tödlich verletzt wurden. Weitere Ziele waren eine Ausstellung zum KZ Auschwitz und eine jüdische Schule. Roeder wurde 1982 für seine Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer 13-jährigen Haftstrafe verurteilt. Nach seiner frühzeitigen Haftentlassung 1990 war er weiterhin politisch tätig. Roeder teilte die antisemitischen Vorstellungen einer "jüdischen Weltverschwörung", gegen die er nicht nur mit der Wiederherstellung des Deutschen Reichs, sondern auch propagandistisch durch Holocaust-Leugnung vorgehen wollte. Er verbreitete die bei späteren "Reichsbürgern" und Souveränist:innen gängige Forderung nach einem Friedensvertrag mit den Alliierten und behauptete, das Grundgesetz sei keine Verfassung. Als Beweis führte Roeder Art. 146 GG an, der Bestimmungen zu einer neuen Verfassung der Deutschen enthält.

Hinsichtlich der rechtsextremen und antisemitischen Tradition des souveränistischen Milieus sind außerdem die Aktivitäten von Horst Mahler von Bedeutung. Im rechtsextremen "Deutschen Kolleg" zielte er mit Gleichgesinnten seit den späten 1990er Jahren auf die Errichtung eines "Vierten Reichs" ab. Ab Februar 2004 musste sich die Gruppe wegen Volksverhetzung vor Gericht verantworten. Mahler verband dort Holocaust-Leugnung mit souveränistischer Propaganda. So behauptete er: "Die Deutschen sind erst wieder frei, wenn das Deutsche Reich seine Handlungsfähigkeit wiedererlangt hat. Der Weg zur Selbstherrlickeit [sic!] des Deutschen Reiches führt über den Sturz der Jüdischen Fremdherrschaft. Die Jüdische Fremdherrschaft stürzt mit der Entlarvung der Auschwitzlüge." Kurz vor Beginn des Prozesses verkündete er die Gründung einer "Reichsbürgerbewegung", in der er sich kritisch zu anderen "Reichsbürger"-Gruppierungen in der Tradition der "Kommissarischen Reichsregierung" Wolfgang Ebels positionierte. Auch mehrere Verurteilungen wegen Volksverhetzung und damit verbundene Haftstrafen haben Mahler nicht zum Abbruch seiner antisemitisch-souveränistischen Tätigkeiten gebracht. Selbst aus dem Gefängnis heraus veröffentlichte er propagandistische Schriften. Mehrere prominente Holocaust-Leugner:innen waren Mitglieder von Mahlers "Reichsbürger"-Organisationen, so etwa neben Manfred Roeder auch Ursula Haverbeck-Wetzel. Zu diesem Umfeld sucht seit einigen Jahren der rechtsextreme und antisemitische "Reichsbürger", Videoblogger und Aktivist Nikolai Nerling Anschluss. Unter dem Namen "Volkslehrer" führt er diese Traditionslinie des rechtsextremen Souveränismus deutlich sichtbar innerhalb der Protestbewegungen der vergangenen Jahre fort.

Souveränismus und "Querdenken"

Seit Beginn der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Proteste gegen die Eindämmungsmaßnahmen der Bundesregierung – nachfolgend als "Querdenken"-Bewegung bezeichnet – sind auch souveränistische Individuen und Gruppen in diesen Zusammenhängen aktiv. Schon in der Vergangenheit suchten sie gezielt Proteste auf, um Propaganda zu verbreiten, neue Mitglieder zu werben oder selbst Führungsrollen zu übernehmen. Ihre Aktivitäten lassen sich beispielhaft zu Beginn des Kriegs in der Ostukraine und innerhalb der darauf reagierenden "Montagsmahnwachen für den Frieden" (2014/15) nachweisen. Diese Proteste gegen staatliches Handeln und staatliche Akteure boten einen Anknüpfungspunkt für souveränistische Agitation.

Während der aufkommenden Anti-Lockdown-Proteste um "Querdenken 711" waren "Reichsbürger" und andere Souveränist:innen offen Teil der sich bildenden Bewegung. So distanzierte sich der Hauptorganisator von "Querdenken 711", Michael Ballweg, nur zögerlich und unter öffentlichem Druck von Nikolai Nerling, der Querdenken von Anfang an begleitete. Neben dieser Verbindung signalisierte Ballweg nicht nur durch Treffen mit prominenten Souveränisten Sympathien für das Milieu. Bereits im August 2020 verbreitete Ballweg das Narrativ des fehlenden Friedensvertrags von einer Bühne in Stuttgart und wollte im Rahmen eines Protestcamps zur zweiten großen "Hygiene"-Demonstration in Berlin eine "Verfassungsgebende Versammlung" einberufen.

Unabhängig von den Aktivitäten der Hauptorganisatoren zeigten Protestierende auf den beiden Demonstrationen im August 2020 in Berlin deutlich sichtbar Reichsfahnen und verbreiteten souveränistische Propaganda. Für Jürgen Elsässer, Chefredakteur des souveränistischen, verschwörungsideologischen und antisemitischen Magazins "Compact", markierte die deutliche Wahrnehmbarkeit von Reichsfahnen einen vermeintlichen "Popstatus" des Reichs in der deutschen Gesellschaft. Seiner Meinung nach fänden die "Insignien von 1871" innerhalb der Bewegung Anklang, da "sie der letzte Staat auf deutschem Boden gewählt hat, der nicht oktroyiert war: Die Weimarer Republik wurde von den Versailler Siegermächten erzwungen, das Dritte Reich war im Würgegriff einer einzigen Partei, die DDR stand unter sowjetischer Kontrolle, und die Bundesrepublik war ein Provisorium der Westalliierten". Die Frage nach der vermeintlich fehlenden Souveränität Deutschlands verbinde "Reichsbürger" und die Mehrheit von Querdenken. Auf dem Weg zu dieser geteilten Überzeugung liegen noch andere Punkte, die Teile von Querdenken und den Souveränismus miteinander verbinden: Beide richten sich gegen staatliche Autorität und begreifen den Staat als Teil einer Weltverschwörung, die das Ziel verfolgt, "das Volk" zu unterdrücken.

"Reichsbürger" und QAnon

In diesem Zusammenhang ist auch die Übernahme des "QAnon"-Verschwörungsmythos durch einige "Reichsbürger"-Gruppierungen bemerkenswert. Bei QAnon handelt es sich um die mit christlichen Endzeitvorstellungen verbundene Fantasie, dass Donald Trump die USA und letztlich die Welt von einer Verschwörung pädophiler Satanist:innen befreien werde. Einige "Reichsbürger" in der Tradition Ebels integrierten das Narrativ von QAnon in ihre souveränistischen Vorstellungen von geltendem alliierten Besatzungsrecht. Zu Beginn der Pandemie in Deutschland, im Frühjahr 2020, sahen Anhänger:innen im NATO-Manöver "Defender Europe 20" ein Zeichen, dass Trump auch die Deutschen befreien werde. Im Manöver war der Einsatz von 20.000 US-amerikanischen Soldaten in Europa geplant. Nach Auffassung von Teilen des souveränistischen Milieus dienten diese insgeheim dazu, die BRD zu beseitigen. Trump würde anschließend mit den Deutschen einen Friedensvertrag schließen und ihre Souveränität (im Reich) wiederherstellen. Das Manöver fand nicht statt, die Idee des Befreiers Trump setzte sich dennoch innerhalb des Milieus fest und trat nun neben die seit Jahren zirkulierenden Vorstellungen einer Befreiung der Deutschen durch Russland.

"Reichsbürger" und "QAnon"-Anhänger bitten Donald Trump, Deutschland zu befreien, gezeigt auf der Anti-Lockdown- Demonstration in Berlin am 29. 8. 2020. (© picture-alliance/dpa, Kay Nietfeld)

Dass dies nicht nur ein passives Abwarten der Errettung bedeutet, wurde während der zweiten Großdemonstration von Querdenken in Berlin Ende August 2020 sichtbar. Souveränist:innen und ihre Sympathisant:innen forderten vor den Botschaften der USA und Russlands einen Friedensvertrag. Vor letzterer kam es ab dem frühen Abend zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei denen unter anderem der rechtsextreme "Reichsbürger" und Antisemit Attila Hildmann festgenommen wurde. Vor dem Reichstag sammelten sich bereits den ganzen Tag über "Reichsbürger" mit und ohne QAnon-Bezug vor der Bühne des ehemaligen NPD-Mitglieds und langjährigen Souveränisten Rüdiger Hoffmann und seiner Gruppierung "staatenlos.info". Hoffmann veranstaltet seit Jahren Dauerkundgebungen vor dem Reichstagsgebäude und ruft mindestens seit September 2013 immer wieder zum "Sturm auf den Reichstag" auf. Bevor von der Bühne aus zum Erklimmen der Treppen des Reichstagsgebäudes aufgerufen wurde, sprachen dort Hildmann und Nerling.

Souveränistische Gewalt

Auch wenn bisher wenige Souveränist:innen gewalttätig geworden sind, verzeichnet das Innenministerium einen Anstieg der Gewalttaten für das Jahr 2020 auf 125 (2019: 121), wovon die meisten Erpressungs- und Widerstandsdelikte sind. Der Ideologie des Milieus ist ein Drängen zur Gewalt inhärent. Die manichäische Auffassung von Geschichte und Gesellschaft – also die Vorstellung, die Welt befände sich kurz vor einer Entscheidungsschlacht zwischen den Mächten des Guten und des Bösen –, verstärkt durch widerspruchsfreie Kommunikationssphären, wie etwa auf Telegram, drängt zur rettenden Aktion. Gleichzeitig legitimiert die Überzeichnung der "Bestialität", Gesetzlosigkeit und nahezu grenzenlosen Macht des Feindes den gewalttätigen "Widerstand" des Milieus. Die damit verbundene Sehnsucht nach dem Sturz der Bundesrepublik kann durch staatliche Repression befördert werden. Bisher erfolgten terroristische Taten aus dem klassisch organisierten rechtsextremen Teil des Milieus. Inwiefern die staatlichen Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie diesbezüglich eine Wirkung entfalten, kann noch nicht abgeschätzt werden. Das souveränistische Milieu dürfte jedenfalls auch nach den Querdenken-Protesten attraktiv für Sympathisant:innen sein, da das Feindbild nicht gewechselt werden muss und das Milieu seit Jahren Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit dem Staat bereit hält – besonders in Fällen von Insolvenz und Verschuldung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Julius Geiler, Das ist die Frau, die zum Sturm auf den Reichstag rief, 1.9.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/26142914.html.

  2. Vgl. Peter Maxwill, Ein "wahrhaftiger Mensch", ein Mörder, 23.10.2017, Externer Link: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/a-1174273.html.

  3. Die Deutsche Reichsbahn war die staatliche Eisenbahn der DDR, die auch in Westberlin für den Betrieb der S-Bahn zuständig war (Anm. d. Red.).

  4. Zu Ebels Lebensweg und Rechtsauffassung siehe Christoph Schönberger, Geschichten vom Reich, Geschichten vom Recht. Der Fortbestand des Deutschen Reiches als rechtliche Imagination, in: ders./Sophie Schönberger (Hrsg.), Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie, Frankfurt/M.–New York 2020, S. 37–70.

  5. Vgl. hierzu ausführlich Jan Rathje, Zwischen Verschwörungsmythen, Esoterik und Holocaustleugnung – die Reichsideologie, 14.10.2015, Externer Link: http://www.bpb.de/210330.

  6. Vgl. Philipp Gessler, Die Reichsminister drohen mit dem Tod, in: Die Tageszeitung (taz), 15.8.2000, S. 19.

  7. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Verfassungsschutzbericht 2020, Berlin 2021, S. 113.

  8. Der Begriff wurde von Susann Bischof als kategoriale Bezeichnung des Gesamtmilieus vorgeschlagen.

  9. Vgl. BfV (Anm. 7), S. 112.

  10. Am bekanntesten sind die US-amerikanischen "Sovereign Citizens", von denen deutsche Souveränist:innen verschiedene Handlungsformen übernommen haben. Bisher existieren hierzu nur wenige vergleichende Studien, so etwa Trystan Stahl/Heiko Homburg, "Souveräne Bürger" in den USA und deutsche "Reichsbürger" – ein Vergleich hinsichtlich Ideologie und Gefahrenpotenzial, in: Dirk Wilking (Hrsg.), "Reichsbürger". Ein Handbuch, Potsdam 20152, S. 203–224; Hinnerk Berlekamp, Die Reichsbürger, ein internationales Phänomen, in: Andreas Speit (Hrsg.), Reichsbürger. Die unterschätzte Gefahr, Berlin 2017, S. 179–196.

  11. Vgl. Jan Rathje, Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten. Vom Wahn des bedrohten Deutschen, Münster 2017; ders., Eine neue rechtsterroristische Bedrohung? Souveränismus von "Reichsbürgern" und anderen in Deutschland, in: Wissen schafft Demokratie 6/2019, S. 158–167.

  12. Vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, Verfassungsschutzbericht 2000, Hannover 2001, S. 83.

  13. Vgl. hierzu ausführlich Jan Rathje, For Reich and Volksgemeinschaft – Against the World Conspiracy. Antisemitism and Sovereignism in the Federal Republic of Germany Since 1945, in: Antisemitism Studies 1/2021, S. 100–138. Es existieren auch andere Unterteilungen des Milieus. Der Kriminalpsychologe Jan-Gerrit Keil unterscheidet traditionell nationalistische Reichsbürger, Selbstverwalter, Monarchen und Stifter von Königreichen und Fürstentümern sowie Milieumanager. Vgl. Jan-Gerrit Keil, Zur Abgrenzung des Milieus der "Reichsbürger" – Pathologisierung des Politischen und Politisierung des Pathologischen, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 21.6.2021, DOI: 10.1007/s11757-021-00668-7.

  14. Vgl. Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 20103, S. 31.

  15. Vgl. Otto Büsch, Geschichte und Gestalt der SRP, in: ders./Peter Furth (Hrsg.), Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Studien über die "Sozialistische Reichspartei" (SRP), Wiesbaden 1967 [1957], S. 1–192, hier S. 24, S. 36; Gideon Botsch, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt 2012, S. 3.

  16. Vgl. Peter Furth, Ideologie und Propaganda der SRP, in: Otto Büsch/ders. (Anm. 15), S. 193–309, hier S. 229.

  17. Vgl. Fabian Virchow, Will die NPD ein "Viertes Reich"?, in: ders./Christian Dornbusch/Robert Andreasch (Hrsg.), 88 Fragen und Antworten zur NPD. Weltanschauung, Strategie und Auftreten einer Rechtspartei – und was Demokraten dagegen tun können, Schwalbach/Ts. 2008, S. 59–61.

  18. Manfred Roeder, Ein Kampf ums Reich. Eine Dokumentation und politische Streitschrift um die Nachfolge des Reiches, Schwarzenborn/Knüll 1979, S. 38.

  19. Vgl. ebd., S. 60ff., S. 67f. Zum "Reichstag zu Flensburg" vgl. Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung – Ursachen – Gegenmaßnahmen, Wiesbaden 1989, S. 163f.

  20. Vgl. Michael Bauerschmidt et al., Deutsche Aktionsgruppen, in: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996, S. 156.

  21. Vgl. Roeder (Anm. 18), S. 42, S. 58f.; zur Diskussion um die Bedeutung des Art. 146 GG vgl. Horst Dreier, Das Grundgesetz – eine Verfassung auf Abruf?, in: APuZ 18–19/2009, S. 19–26.

  22. Horst Mahler, Das Ende der moralischen Geschichtsbetrachtung führt zur Antwort auf die Judenfrage. Einlassung zur Anklage wegen Volksverhetzung vor der 22. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin (522) 81 Js 3570/KLs (1/03), Kleinmachnow 2004, S. 5.

  23. Vgl. ders., Verkündigung der Reichsbürgerbewegung, 15.4.2004, Externer Link: https://web.archive.org/web/20040602233745/www.aufstand-fuer-die-wahrheit.net/reichsbuergerbewegung.html. Zum Prozess vgl. Rainer Erb/Andreas Klärner, Antisemitismus zur weltgeschichtlichen Sinnstiftung. Horst Mahler vor Gericht, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14, Berlin 2005, S. 111–134.

  24. Vgl. Roland Sieber, Reichsbürger, Neonazis und Antisemiten. Querfront kapert Friedensdemonstrationen, 16.4.2014, Externer Link: https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2014/04/16/n_15687; Rainer Link, Mahnwachen für den Frieden. Ein rechtes Projekt auf den Trümmern linker Fundamente, 3.11.2015, Externer Link: http://www.deutschlandfunkkultur.de/mahnwachen-fur-den-frieden-ein-rechtes-projekt-auf-den.media.78bd7436d677ed4be8e9e60e164e679b.pdf.

  25. Vgl. Keil (Anm. 13), S. 4.

  26. Vgl. Monitor, Corona-Demos: Wie rechts tickt Querdenken?, 10.9.2020, http://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-studiom–-corona-demos-wie-rechts-tickt-querdenken-100.html.

  27. Vgl. Jan Rathje, Wie Verschwörungsgläubige "QAnon" und Reichsideologie verbinden, 26.8.2020, Externer Link: http://www.belltower.news/coronaleugnerinnen-demonstrationen-wie-verschwoerungsglaeubige-qanon-und-reichsideologie-verbinden-102941; Wulf Rohwedder, "Querdenker" im "Königreich", 19.11.2020, Externer Link: http://www.tagesschau.de/investigativ/querdenken-reichsbuerger-101.html.

  28. Jürgen Elsässer, Das Reich wird Pop, in: Compact 10/2020, S. 10–13, hier S. 13.

  29. Ebd.

  30. Der Youtube-Kanal der prominentesten "Reichsbürger"-QAnon-Gruppe steigerte seine Reichweite von März 2020 bis zur Löschung des Kanals Ende März 2021 von 13.500 auf 110.000 Abonnent:innen. Vgl. Social Blade, YouTube User Analytics/Statistics for Hans-Joachim Müller (2021-02-25 – 2021-03-27), https://socialblade.com/youtube/channel/UC4j39PjtsYHCYP2W–2uPSQ/monthly.

  31. Siehe hierzu auch den Beitrag von Katharina Kleinen-von Königslöw und Gerret von Nordheim in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  32. Vgl. Rathje (Anm. 27).

  33. Vgl. Tom Vincent Dicke/Katja Thorwarth, "Querdenken-711" in Berlin: Veranstalter will "keine Rechtsextremen gesehen" haben, 3.9.2020, Externer Link: http://www.fr.de/-90033019.html.

  34. Vgl. Alexander Fröhlich, Versuchter Sturm auf den Reichstag hätte verhindert werden können, 19.9.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/26201330.html.

  35. Vgl. Jan Rathje/Jürgen Peters, Sturz der BRD in Planung. "Staatenlos.info" fordert "Entnazifizierung", in: Lotta 70/2018, S. 33f.

  36. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Anm. 7), S. 32.

  37. Vgl. Rathje (Anm. 11).

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ist Mitbegründer und Senior Researcher des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie in Berlin.
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