Für das aktuelle Erstarken von Verschwörungserzählungen werden im öffentlichen Diskurs häufig soziale Netzwerke verantwortlich gemacht. In der Tat weisen soziale Netzwerke beziehungsweise soziale Netzwerkplattformen (SNP)
QAnon als "Omniverschwörung"
Den Kern der QAnon-Erzählung bildet die vermeintliche Verschwörung einer global agierenden, satanistischen Elite, die Kinder missbraucht, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen. Das dynamisch wachsende Phänomen QAnon vereint neben diesem zentralen Motiv jedoch eine Vielzahl verschiedener Verschwörungsframes und -tropen und lässt sich daher am treffendsten als Omniverschwörung
Eine solche Schnittmenge verschiedener, zunächst unzusammenhängender Narrative auf Basis gemeinsamer Meta-Frames ist keineswegs neu, beim Phänomen QAnon scheint diese integrative Dynamik jedoch besonders ausgeprägt. So konnte die "Marke" QAnon einen Mobilisierungseffekt entfalten, der sich nur schwerlich aus der Summe einzelner Verschwörungserzählungen ableiten lässt. Nach einer aktuellen Umfrage sind 15 Prozent aller US-Amerikaner*innen überzeugt, dass Regierung, Medien und Finanzwelt von einem satanistischen Pädophilenring kontrolliert werden (23 Prozent der Anhänger*innen der Republikaner, 8 Prozent der Demokraten).
Ideale Infrastruktur für Verschwörungstheorien
Es gehört zu den Kernmerkmalen sozialer Netzwerkplattformen, dass dort alle Nutzer*innen mit geringem Aufwand eigene Inhalte veröffentlichen können – und oft lässt sich nur anhand der Absenderangabe nachvollziehen, ob die Urheber*innen einzelne Bürger*innen oder Nachbarschaftsverbände, professionelle Nachrichtenmedien, politische Akteure/Organisationen oder Wirtschaftsunternehmen sind. Eine Kontrolle oder Verifizierung der veröffentlichten Inhalte findet allenfalls in sehr oberflächlicher Form statt. Insbesondere Plattformen, die auch anonyme Beiträge zulassen, sind daher ideale Infrastrukturen für Verschwörungstheorien: Auch QAnon geht auf die anonymen Einträge des Nutzers "Q" zurück (es wird vermutet, dass mehrere Autor*innen unter diesem Pseudonym publizieren), die sogenannten Qdrops oder Breadcrumbs, zuerst veröffentlicht auf dem Imageboard 4chan im Oktober 2017. Das Ursprungsnarrativ von QAnon besagt dabei, dass ein anonymer Insider aus der Trump-Regierung sensible Informationen (aus Top-Secret-Quellen mit der Sicherheitsfreigabe "Q") über verschiedene Internetforen publiziere, um die Bürger*innen so auf den bevorstehenden "Sturm" (oder "das große Erwachen") vorzubereiten: ein Angriff auf den deep state und die massenweise Verhaftung der Mitglieder des darin organisierten Kinderhändlerrings.
Da sich die verschiedenen Typen von sozialen Netzwerken in ihren technischen Merkmalen, den von diesen geprägten Nutzungspraktiken sowie ihrer Nutzer*innenschaft stark unterscheiden, kommen ihnen in der Medienökologie jeweils unterschiedliche Rollen bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien zu. Ausgangspunkt für QAnon waren Reddit und 4chan, also Messageboards, die überwiegend von technikaffinen Nutzer*innen besucht werden. Twitter fungierte als Link zwischen den Netzwerken, als Verbindung zur gesellschaftlichen Elite und Zugang zum journalistischen Mainstream.
Aber erst über die reichweitenstarken, in der Breite der Bevölkerung genutzten Plattformen, wie zum Beispiel Facebook und Instagram, konnte das Verschwörungsnarrativ für verschiedene gesellschaftliche Gruppen anschlussfähig werden. Das Motiv der durch Pädophile bedrohten Kinder ermöglichte der Bewegung beispielsweise einen Zugang zu Müttergruppen auf Facebook. Auf diesem Weg verlassen die Verschwörungstheorien die Sphäre der Anonymität – hier werden QAnon-Botschaften auch von Freund*innen und Bekannten geteilt, denen die Nutzer*innen vertrauen. Erst durch das "Deplatforming" prominenter QAnon-naher Accounts auf den großen SNP im Anschluss an den Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 haben sich die Aktivitäten wieder in die randständigeren SNP verlagert, im deutschsprachigen Raum beispielsweise zum Messenger-Dienst Telegram.
Strategische Akteure
Angesichts der Unmengen täglich auf den Plattformen veröffentlichter Inhalte ist es wenig überraschend, dass der Großteil von ihnen gar nicht oder nur von sehr wenigen Nutzer*innen gesehen wird. Entscheidend für die Sichtbarkeit von Inhalten in Netzwerken sind zentrale Knotenpunkte: Akteure, denen sehr viele andere (möglichst ebenfalls gut vernetzte) Nutzer*innen folgen. Mit Blick auf QAnon ist daher der Einfluss gesellschaftlicher Eliten, die sich zu QAnon bekennen, von immenser Bedeutung. Eliten legitimieren den Verschwörungsglauben und spielen so eine zentrale Rolle bei der Expansion von Narrativen von den Randbereichen des Internets in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses. Im Falle QAnons waren die wohl wichtigsten Katalysatoren des Deep-State-Narrativs Trumps Wahlkampfversprechen, Hillary Clinton zu verhaften ("Lock her up!") und den "Sumpf" Washingtons trockenzulegen ("Drain the swamp!"). Trump folgte auch als Präsident weiter dem politischen Kalkül, sich zu Verschwörungserzählungen zu bekennen, um so ihre Mobilisierungskraft für seine Zwecke zu nutzen. Soziale Medien spielten dabei eine zentrale Rolle: Trump lenkte laut einer Untersuchung von "Media Matters" insgesamt 315 Mal Aufmerksamkeit auf QAnon-assoziierte Twitter-Accounts, vor allem durch Retweets.
Neben den prominenten Schlüsselfiguren und Verstärker*innen aus der gesellschaftlichen Elite sind für den Erfolg von Verschwörungstheorien über Netzwerkplattformen, und insbesondere für den Erfolg QAnons, die sogenannten Verschwörungsunternehmer*innen (conspiracy entrepreneurs)
Die Bemühungen der Verschwörungsunternehmer*innen zielten von Beginn an auch stark auf Journalist*innen, da die rechte Echokammer für sich genommen zu isoliert gewesen wäre, um die nationale Medienagenda zu beeinflussen und Anhänger*innen außerhalb der eigenen Kreise zu rekrutieren.
Hier entfalten Verschwörungstheorien ein beträchtliches ökonomisches Potenzial: Neben den Werbeeinnahmen über die Zugriffe der interessierten Nutzer*innen lassen sich in den USA inzwischen Millionen mit dem Verkauf von Merchandise umsetzen, mit Büchern oder Eintrittskarten zu QAnon-Events – aber auch über Spendenaufrufe, etwa zur Unterstützung Trumps, aber auch für Online-Wetten auf dessen Wahlsieg oder das Eintreten diverser QAnon-Prophezeiungen.
Vergleichbare Dynamiken lassen sich in Deutschland nachzeichnen:
Vulnerabilität gegenüber Verschwörungstheorien
Wie die ländervergleichenden Nachrichtennutzungsstudien des Reuters Institute zeigen, nutzt ein immer größer werdender Anteil der Bürger*innen SNP auch, um sich über politische Geschehnisse zu informieren.
Für das Verständnis der Bedeutung von SNP für die Verbreitung von Verschwörungstheorien ebenso entscheidend ist aber, dass bei deren Nutzung soziale Motive neben Informationsmotiven eine deutlich größere Rolle spielen als bei der Nutzung klassischer Nachrichtenmedien. Die Nutzer*innen sind unmittelbar mit ihrem persönlichen Netzwerk verknüpft, sie betreiben also gleichzeitig auch Beziehungspflege und gestalten auf der Plattform ihre persönliche und ihre soziale Identität – was Folgen für die Auswahl, Rezeption und Bewertung der dort verfügbaren Inhalte hat.
Gleichzeitig fördern die typischen Rezeptionsgewohnheiten bei der SNP-Nutzung über Smartphones eine oberflächliche oder gar automatisierte Bewertung der Inhalte;
Der interaktive Charakter der SNP ist ein weiterer Faktor, der zur Verbreitung von Verschwörungstheorien beiträgt: Jede*r einzelne Nutzer*in kann sich selbst an der Suche nach Hinweisen und Indikatoren beteiligen und dazu wiederum selbst Beiträge verfassen. Nachdem QAnon über Youtube-Videos, Reddit-Boards und Facebook-Gruppen sukzessive einem größeren Publikum bekannt wurde, ermöglichte der interaktive Charakter der SNP einer wachsenden Zahl von Usern, selbst zur "Beweisführung" beizutragen: Immer mehr Menschen beteiligten sich an der Interpretation und der "Erforschung" der Qdrops (Anhänger*innen von QAnon bezeichnen sich oft als "Researcher", als Forschende), die weiterhin in der unkontrollierten Sphäre der Imageboards (4chan, später 8chan/8kun) veröffentlicht wurden.
Tatsächlich ist der Glaube an Verschwörungserzählungen besonders bei solchen Menschen ausgeprägt, die dazu neigen, in zufälligen Koinzidenzen Muster zu erkennen.
Neben den Plattformen spielen dabei auch Suchmaschinen eine zum Teil problematische Rolle: Wenn Nutzer*innen erstmalig Begriffen aus Verschwörungstheorien begegnen, sei es in den traditionellen Nachrichtenmedien oder in sozialen Netzwerken, dann führen Suchmaschinen sie in die sogenannten "Data Voids":
Die Dynamik der resultierenden Selbstbestätigungszirkel befriedigt das Bedürfnis nach kognitiver Klarheit, das bei Verschwörungsgläubigen besonders ausgeprägt ist: eine Abneigung gegen Ambiguität, eine Tendenz, klaren Antworten zu glauben. Diese unkritische Haltung Verschwörungsgläubiger spiegelt sich in sozialen Netzwerken in einer gleichsam hyperaktiven Bereitschaft, alle Inhalte zu teilen, die als bestätigend aufgefasst werden – seien sie noch so unplausibel.
Entsprechend fanden Studien zur Verbreitung von Verschwörungsnarrativen in sozialen Medien heraus, dass diese vor allem in relativ isolierten Sub-Netzwerken zu finden sind.
Eskalationen im Digitalen und darüber hinaus
Auch unabhängig von Verschwörungstheorien lässt sich schon länger das Phänomen der digitalen Enthemmung beobachten:
Im Kontext von Verschwörungstheorien erscheint dieses Gewaltpotenzial derzeit aus zwei Gründen besonders problematisch: wegen der engen Verzahnung mit der gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene und den persönlichen und gesellschaftlichen Destabilisierungen durch die Corona-Pandemie.
Die beschriebenen Selbstbestätigungszirkel dienen extremistischen Gruppierungen als Orte der Radikalisierung und digitalen Enthemmung. Verschwörungserzählungen übernehmen hier eine wichtige soziale und funktionale Rolle, sie sind Multiplikatoren der Radikalisierung ("radicalizing multiplier").
Die so gewachsene Medienökologie spezialisierte sich zusehends darauf, das Weltgeschehen durch die Folie des Verschwörungsglaubens zu deuten, also immer neue Evidenzen und Verschwörungsfragmente zu ersinnen, um so die Marke QAnon zu stärken. Unter diesen Bedingungen wirkte der Ausbruch der Covid-Pandemie wie ein Brandbeschleuniger: Aus der Forschung zu Verschwörungsgläubigen ist bekannt, dass insbesondere große, präzedenzlose Ereignisse profane Erklärungsmuster unbefriedigend erscheinen lassen.
Wie wir gesehen haben, ist QAnon das Produkt einer gewachsenen Ökologie, eines Netzwerks voneinander profitierender Akteure, die symbiotisch und in gegenseitiger Abhängigkeit agieren. Die Netzwerkstrukturen sozialer Medien, aus denen QAnon hervorgegangen ist, katalysieren diese Form der synergetischen Verschmelzung verschiedener Gruppen und ermöglichen so Kristallisationsprozesse rund um eine kollektive Identität, gemeinsame Symbole und Slogans. Verschwörungsunternehmer*innen nutzen Ressourcen des Online-Marketings, um der neuen Marke zu Sichtbarkeit zu verhelfen, und genauso nutzen strategische Akteure Mechanismen gezielter Desinformationskampagnen, um den Inhalten eine größere Reichweite zu verschaffen.
QAnon ist nicht das erste Produkt, das aus dieser Konstellation hervorgeht. Es ist jedoch die erfolgreichste Version einer Reihe konzertierter Kampagnen eines (mehr oder minder losen) Netzwerks unterschiedlich motivierter Akteure, die darauf hinwirken, Bürger*innen langfristig epistemologisch von der übrigen Gesellschaft zu entkoppeln.