Das Coronavirus existiert gar nicht, aber die Regierung schürt Panik, um unsere Grundrechte einzuschränken. Bill Gates steckt hinter der "Plandemie", um einen globalen Impfzwang durchzusetzen und so die Weltbevölkerung zu dezimieren. Vielleicht ist aber auch die 5G-Technologie für die Entstehung des Virus verantwortlich. Verschwörungstheorien sind derzeit in aller Munde. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung glaubt an sie, und diejenigen, die nicht an sie glauben, betrachten sie mit wachsender Sorge.
Beides, der Glaube wie die Sorge, ist verständlich. Verschwörungstheorien erfüllen wichtige Funktionen für die Identität derjenigen, die an sie glauben.
Auch die Sorge über Verschwörungstheorien ist berechtigt. Zwar sind nicht alle Verschwörungstheorien gefährlich und beileibe nicht alle Menschen, die an sie glauben. Doch Verschwörungstheorien können problematische Konsequenzen haben. Sie können Gewalt legitimieren, wie nicht zuletzt die Attentate von Halle und Christchurch gezeigt haben. Wer sich als Opfer eines globalen Komplotts sieht, kann sich dazu berufen fühlen, zur Waffe zu greifen. Medizinische Verschwörungstheorien sind darüber hinaus gefährlich, weil sie dazu führen können, dass man sich und andere unabsichtlich gefährdet. Wer denkt, dass das Coronavirus nicht existiert oder harmlos ist, hält Abstands- und Hygieneregeln weniger streng ein oder verletzt sie gar bewusst als Akt zivilen Ungehorsams. Schließlich können Verschwörungstheorien das Vertrauen in die Demokratie beschädigen. Wer meint, dass alle Politiker*innen unter einer Decke stecken, beteiligt sich vielleicht nicht mehr an Wahlen oder gibt seine Stimme den Populist*innen. Wer glaubt, dass eine demokratische Wahl gefälscht wurde, geht dagegen womöglich mit Gewalt vor, wie es am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol in Washington geschah.
Doch was genau sind eigentlich Verschwörungstheorien, und stimmt der Eindruck, dass sie immer populärer und einflussreicher werden? Diesen und verwandten Fragen widme ich mich in diesem Beitrag. Im ersten Teil definiere ich das Phänomen und grenze es konzeptuell von realen Verschwörungen und Fake News ab. Anschließend erörtere ich, warum der in der deutschen Öffentlichkeit umstrittene Begriff "Verschwörungstheorie" angemessen ist. Im dritten Teil skizziere ich kurz die Geschichte des verschwörungstheoretischen Denkens seit der Frühen Neuzeit. Dabei gilt mein besonderes Augenmerk dem Prozess der Stigmatisierung, den Verschwörungstheorien in der westlichen Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchlaufen haben, sowie der Rolle des Internets für ihre Verbreitung. Abschließend gehe ich kurz auf aktuelle Entwicklungen im Zuge der Corona-Pandemie ein.
Definition
Verschwörungstheorien behaupten, dass mächtige Akteure
Die Überbetonung des absichtsvollen Handelns, das sich zudem reibungslos in die Tat umsetzen lässt, führt dazu, dass Verschwörungstheoretiker*innen explizit oder implizit immer die Frage "Cui bono?" – wem nützt das? – stellen.
Der nahezu völlige Ausschluss des Zufalls markiert auch einen wichtigen Unterschied zwischen den imaginierten Komplotten der Verschwörungstheoretiker*innen und realen Verschwörungen. Letztere hat es immer gegeben und wird es vermutlich auch immer geben. Man denke an die Ermordung Julius Cäsars im Jahr 44 vor Christus und die versuchte Ermordung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny im August 2020. Beide Verschwörungen waren letztendlich erfolglos. Den römischen Verschwörern gelang es zwar, Cäsar zu töten, doch ihr eigentliches Ziel – die Staatsform der Republik zu bewahren – verfehlten sie. Es kam zum Bürgerkrieg, an dessen Ende Octavian zum Alleinherrscher wurde und so die Epoche des Kaisertums einläutete. "Die Verschwörer", so schrieb schon Karl Popper, "genießen nur selten die Früchte ihrer Verschwörung".
Schließlich sind Verschwörungstheorien von "Fake News" zu unterscheiden. Obwohl der Alltagsdiskurs beide Begriffe mitunter synonym gebraucht, handelt es sich um zwei unterschiedliche Phänomene. Fake News sind bewusst verbreitete Falschinformationen, die darauf abzielen, bestimmte Personen oder Institutionen zu diskreditieren, Verwirrung zu stiften oder andere Ziele zu erreichen.
Begrifflichkeit
In einem zu Beginn der Corona-Pandemie erschienenen populärwissenschaftlichen Buch heißt es: "Der gängige Begriff der Verschwörungstheorie ist in letzter Zeit immer mehr kritisiert worden, da man hierbei nicht von Theorien im wissenschaftlichen Sinn sprechen kann."
Wie der Philosoph Karl Hepfer erläutert, haben Verschwörungstheorien und wissenschaftliche Theorien viel gemeinsam. Beide versuchen, auf der Grundlage miteinander verknüpfter Annahmen – im Fall der Verschwörungstheorie: nichts geschieht durch Zufall; nichts ist, wie es scheint; und alles ist miteinander verbunden – Wissen über die Welt zu gewinnen. Wie wissenschaftliche Theorien auch liefern Verschwörungstheorien somit Antworten auf Erkenntnisfragen und ermöglichen ein "Verständnis der Welt".
Ein weiteres Argument gegen den Begriff "Verschwörungstheorie" ist, dass Verschwörungstheorien, anders als wissenschaftliche Theorien, "nicht durch gegenteilige Beweise korrekturfähig",
Schließlich wenden diejenigen, die den Begriff "Verschwörungstheorie" ersetzen möchten, ein, dass er die Anhänger*innen oft absurder Ideen in problematischer Manier aufwerte.
Betont werden muss, dass diese Begriffsdiskussion keine rein akademische Fingerübung ist, sondern praktische Konsequenzen hat. Wer statt von "Verschwörungstheorien" von "Verschwörungsmythen", "Verschwörungsideologien" oder "Verschwörungserzählungen" spricht, verwendet Begriffe, die das allgemeine Wesen des Phänomens nur unzureichend erfassen und sich lediglich für bestimmte Verschwörungstheorien eignen.
Geschichte
Verschwörungstheorien haben eine lange Geschichte, aber sie sind, anders als die frühe Forschung dachte, keine anthropologische Konstante.
Anders als heute wurden Verschwörungstheorien damals nicht als Problem betrachtet. Von der Frühen Neuzeit bis in die 1950er Jahre waren Verschwörungstheorien in der gesamten westlichen Welt orthodoxes Wissen im Sinne der Wissenssoziologie, also von wissenschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Autoritäten als valide und gültig erachtetes Wissen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde verschwörungstheoretisches Wissen in der westlichen Welt zunehmend problematisiert. Dieser Prozess der Stigmatisierung ist bisher nur für die USA detailliert nachgezeichnet worden. Es ist jedoch anzunehmen, dass er in Europa sehr ähnlich verlief, da die Effekte auch hier zu beobachten sind. Wie Katharina Thalmann gezeigt hat, war es vor allem das Einsickern sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in Alltagsdiskurse, das zur Delegitimierung konspirationistischen Wissens führte. Theodor Adorno und Leo Löwenthal, die vor den Nazis ins amerikanische Exil geflohen waren, beschäftigten sich unter dem Eindruck des Holocaust mit den potenziell fürchterlichen Auswirkungen von Verschwörungstheorien. Sie konzentrierten sich dabei auf die Psychopathologie der Verschwörungstheoretiker*innen und postulierten eine enge Verbindung zwischen der Neigung zum Totalitarismus und der zu Verschwörungstheorien. Gleichzeitig begannen Wissenschaftstheoretiker*innen wie Karl Popper, die Epistemologie von Verschwörungstheorien zu kritisieren. Verschwörungstheorien, so argumentierten sie, könnten die Welt nicht adäquat beschreiben, da sie viel zu einseitig menschliche Handlungsmacht betonten und nichtintendierte Effekte sowie die Eigenlogik sozialer Systeme und deren strukturelle Zwänge vernachlässigten.
Dieser zunächst innerakademische Diskurs wurde einige Jahre später von einer neuen Generation von Wissenschaftler*innen wie dem Soziologen Edward Shils oder dem Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset aufgegriffen. Ihnen ging es nicht mehr um den Totalitarismus in Europa, sondern um Argumente gegen die konspirationistische Anti-Kommunistenhetze in den USA. Ihre Schriften wurden von Journalist*innen rezipiert, die sich ebenfalls mit diesem Thema befassten, und so in die breite Öffentlichkeit getragen, wo sie schnell Wirkung entfalteten, sodass Verschwörungstheorien zunehmend als eine Gefahr für die amerikanische Demokratie begriffen wurden. Die Delegitimierung dieser Denkform gipfelte 1964 in Richard Hofstadters berühmtem Aufsatz über den "Paranoid Style in American Politics", in dem er die beiden Stränge der Kritik endgültig verschmolz und Verschwörungstheorien mit Geisteskrankheit assoziierte.
Verschwörungstheorien wanderten somit aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder, sie blieben jedoch auch in der westlichen Welt einigermaßen populär. Sie verschwanden zwar aus der Öffentlichkeit, wo sie nicht mehr akzeptiert wurden, zirkulierten aber weiterhin in Subkulturen. Verschwörungstheoretiker*innen hatten es dementsprechend schwer, ein breiteres Publikum zu erreichen. Oft mussten sie ihre Bücher im Selbstverlag herausbringen. Ihre alternativen Erklärungen entfalteten daher keine große Wirkung. Wer daran zweifelte, dass die Amerikaner tatsächlich auf dem Mond gelandet waren, musste viel Zeit und Mühe investieren, um alternative Erklärungen für diese Ereignisse zu finden. Oft blieb es deshalb bei Zweifeln, die sich nicht zu Verschwörungstheorien verfestigten.
Abbildung 2: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21 (© bpb)
Abbildung 2: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21 (© bpb)
Mit dem Internet hat sich die Situation wieder geändert. Für Verschwörungstheoretiker*innen ist es nun sehr leicht, ihre Ideen zu publizieren. Und wer einmal "9/11" oder "Impfen" googelt, findet je nach individuellem Suchalgorithmus spätestens auf der zweiten Seite der Ergebnisliste Links zu konspirationistischen Seiten. Das Internet erhöht somit zunächst einmal die Sichtbarkeit und Verfügbarkeit von Verschwörungstheorien. Hinzu kommt, dass Verschwörungstheoretiker*innen über das Internet viel besser vernetzt sind als früher und sich so leichter gegenseitig in ihren Überzeugungen bestärken können. Auch sind Gegenöffentlichkeiten mit eigenen Experten- und Mediensystemen entstanden. Das hat zur Folge, dass vermutlich wieder etwas mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben als vor dem Aufkommen des Internets. Es sind aber sicherlich deutlich weniger als vor hundert oder zweihundert Jahren. Es gilt noch immer, was Joseph Parent und Joseph Uscinski in ihrer quantitativen Studie zu amerikanischen Verschwörungstheorien konstatieren, für die sie unter anderem Leserbriefe an die Redaktionen großer Zeitungen von 1890 bis in die Gegenwart ausgewertet haben: "[W]e do not live in an age of conspiracy theories and have not for some time."
Corona
Psychologie und Politikwissenschaft versuchen seit einigen Jahren, die Verbreitung einer allgemeinen Verschwörungsmentalität zu bestimmen. Solche Studien sind einerseits aufschlussreich, andererseits aber mit Skepsis zu betrachten, da sie nicht bestimmen können, wie fest die geäußerten Überzeugungen und wie wichtig sie für die Identität der Befragten sind.
Das ist insofern nicht überraschend, da die in Deutschland populären Verschwörungstheorien zu Corona alle nicht neu sind. In den meisten Fällen wurde die Pandemie lediglich zum neuesten Kapitel bereits vorher existierender Verschwörungstheorien zum Impfen, zur angeblichen Abschaffung der Grundrechte, zur 5G-Technologie oder zum "Großen Austausch". Dass viele Beobachter*innen zunächst von einem Anstieg ausgingen, ist dennoch verständlich. Zum einen wissen wir aus der psychologischen Forschung, dass Menschen, die Ambivalenzen oder Unsicherheit schlecht akzeptieren können oder sich ohnmächtig fühlen, besonders empfänglich für Verschwörungstheorien sind.
Man darf jedoch stärkere Sichtbarkeit nicht mit zunehmender Popularität verwechseln. Der sicherste Indikator dafür, dass jemand an eine Verschwörungstheorie glaubt, ist, dass er bereits an andere solche Theorien glaubt. Nur fällt dies oft nicht auf. Die meisten Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind nicht psychisch krank, wie man früher vermutete, sondern ganz normal. Sie wissen, dass ihre Überzeugungen von vielen, mit denen sie täglich zu tun haben, abgelehnt werden. Entsprechend behalten sie ihre Ansichten für sich und äußern sie nur unter Gleichgesinnten. Selbst ein Thema wie das Impfen, das handfeste Auswirkungen auf das eigene Leben hat, kann im Gespräch mit Freund*innen und Familie normalerweise ausgespart werden. Die Coronakrise dagegen macht aufgrund der vielfältigen Einschränkungen des sozialen Lebens eine ständige Positionierung notwendig – gerade im Umgang mit Freund*innen und Familienangehörigen. Noch immer – Stand: Juni 2021 – gibt es für viele Menschen kaum ein anderes Thema. Gerade im Privaten ging es bis vor kurzem (und eventuell bald wieder) meist um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen man sich überhaupt treffen konnte. Das führte zwangsläufig dazu, dass diejenigen, die die Kontaktbeschränkungen als Teil eines Komplotts sehen, dies auch sagten. Das mag bei vielen Menschen den Eindruck erweckt haben, dass es plötzlich auch in ihrem Umfeld Verschwörungstheoretiker*innen gibt. Das ist nicht unbedingt falsch, denn bestimmt haben einige Menschen Verschwörungstheorien erst durch Corona entdeckt. In den allermeisten Fällen aber, das belegen die Zahlen, glaubten Kolleg*innen, Freund*innen und Verwandte schon vorher an Verschwörungstheorien; man wusste es nur nicht.
Abbildung 3: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21 (© bpb)
Abbildung 3: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21 (© bpb)
Zu der Wahrnehmung, dass der Glaube an Verschwörungstheorien in der Krise sprunghaft zugenommen habe, hat auch die große Aufgeregtheit beigetragen, mit der das Thema mitunter diskutiert wird. Anders als während der Krim-Krise von 2014 oder der "Flüchtlingskrise" ein Jahr später, wo erst nach einigen Monaten intensiver über die zirkulierenden Verschwörungstheorien berichtet wurde, taten Journalist*innen dies beim Thema Corona viel früher. Das lag einerseits an einer begrüßenswerten Sensibilisierung für das Thema aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre. Es hatte aber sicher auch damit zu tun, dass das öffentliche Leben im März 2020 vollständig zum Erliegen kam und Journalist*innen nach ein paar Tagen nach neuen Perspektiven auf das einzige Thema suchten, das es für viele Wochen gab. Die sogenannten "Hygienedemos" gegen die Kontaktbeschränkungen, die bereits Ende März begannen, die bundesweite "Querdenken"-Bewegung mit ihrer problematischen Nähe zur Neuen Rechten und die Impf-Verschwörungstheorien, die 2021 zunehmend dominant wurden, befeuerten die Sorgen der Öffentlichkeit.
Diese Sorgen sind – wie gesagt – nicht unberechtigt. Der Glaube an Verschwörungstheorien kann gefährliche Folgen haben, aber es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen, wie dies im öffentlichen Diskurs bisweilen geschieht. Verschwörungstheorien sind Teil aller modernen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit, und bis vor wenigen Jahrzehnten waren sie noch viel populärer und akzeptierter als heute. Ihre große Sichtbarkeit in der Gegenwart ist vor allem eine Folge der Skepsis, mit der sie in Deutschland – die USA sind ein anderes Thema – noch immer von der breiten Mehrheit und fast allen politischen Entscheidungsträger*innen betrachtet werden. Die Coronakrise hat dies nicht geändert; sie hat vielmehr zu einer noch größeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit geführt. Auf vielen Ebenen werden derzeit Maßnahmen zur Eindämmung von Verschwörungstheorien diskutiert. Daher kann man verhalten optimistisch sein, dass der Glaube an sie in den nächsten Jahren eher ab- als zunehmen wird. Verschwinden wird er allerdings nie.