In Demokratien hören die Menschen oft, die ihrem politischen System zugrunde liegende Idee sei die einer "Herrschaft durch das Volk für das Volk". Es gibt verschiedene Möglichkeiten zu bewerten, wie gut ein politisches System funktioniert, doch häufig wird die Verteilung von materiellen Ressourcen in einer Gesellschaft als Maßstab genommen. Wirtschaftliche Ungleichheit bedeutet, dass diejenigen, die sich am falschen Ende der Leiter befinden, mit – relativ gesehen – erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Wenn diese Nachteile nicht nach und nach verringert werden, sondern sich sogar verstärken, wie können wir dann von den Leuten erwarten, dass sie ein solches politisches System als eine "Herrschaft für das Volk" wahrnehmen? Wir wollen hier der Frage nachgehen, inwiefern die hohe und weltweit um sich greifende wirtschaftliche Ungleichheit eine Erklärung für die jüngste Welle der Autokratisierung ist, die wir seit einiger Zeit beobachten können.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Welt einen dramatischen Wandel von politischen Systemen erlebt. In den 1970er und 1980er Jahren begann die sogenannte dritte Welle der Demokratisierung, die ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren erreichte, als sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion über 70 Länder gleichzeitig in einem Demokratisierungsprozess befanden. Seitdem ist die Zahl der sich demokratisierenden Länder deutlich zurückgegangen – auf 13 im Jahr 2021 –, während der entgegengesetzte Prozess der Autokratisierung weltweit dominant wurde. Im Jahr 2021 befanden sich 33 Länder in Autokratisierungsprozessen, von denen nicht weniger als 36 Prozent der Weltbevölkerung betroffen waren.
Parallel zu diesen Entwicklungen hat die wirtschaftliche Ungleichheit seit den 1980er Jahren weltweit zugenommen.
Im Folgenden betrachten wir zunächst das Verhältnis von Demokratie und Ungleichheit und zeigen, dass es in Demokratien im Durchschnitt keineswegs eine gleichmäßigere Verteilung von Einkommen und Vermögen gibt als in Autokratien. Anschließend erörtern wir die Umstände, unter denen Ungleichheit einen Prozess der Autokratisierung in Gang setzen kann. Da nicht wenige Politiker, die autokratische Ambitionen an den Tag legen, demokratisch gewählt sind, konzentrieren wir uns im Besonderen darauf, welche Konsequenzen Ungleichheit für einzelne Wählerinnen und Wähler hat und wie daraus potenziell eine Unterstützung antidemokratischer Politik erwächst.
Demokratie und Ungleichheit
Ein Großteil der Wissenschaftler, die sich mit den sozialen Auswirkungen von Autokratie und Demokratie beschäftigen, ist der Ansicht, dass Demokratien besser auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen als Autokratien. Das klassische theoretische Modell geht davon aus, dass in dem Maß, in dem das Wahlrecht ausgeweitet wird – was zur Folge hat, dass das Einkommen des Durchschnittswählers statistisch sinkt –, die Umverteilungsbemühungen zunehmen, da die Politikerinnen und Politiker sich um die Stimmen der Wähler bemühen müssen, um an der Macht zu bleiben.
Das vom Varieties-of-Democracy-Institut (V-Dem) durchgeführte Projekt "The Case for Democracy" zeigt, dass diese grundlegende Annahme für viele zentrale gesellschaftliche Bereiche und Anliegen zutrifft. So gibt es in Demokratien in der Tat ein größeres Wirtschaftswachstum,
Dies steht im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Vorstellung darüber, warum es in Ländern überhaupt zu Demokratisierung kommt. In zwei in der Demokratisierungsforschung sehr einflussreichen Büchern gehen zum Beispiel Carles Boix
Beide Theoriestränge versuchen also, Demokratisierungsprozesse zu erklären, unterscheiden sich dabei aber deutlich hinsichtlich des erwarteten sozioökonomischen Effekts demokratischen Regierens. Die Frage ist: Welche der beiden Denkschulen entspricht eher den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger selbst? Wir können annehmen, dass die Präferenzen der Bürger in Bezug auf das Thema Umverteilung dafür ausschlaggebend sind, inwieweit sie die Demokratie angesichts der wachsenden Ungleichheiten legitimiert sehen. Wenn ein wesentlicher Teil der Gesellschaft von einem demokratischen politischen System erwartet, dass wirtschaftliche Ungleichheit durch Umverteilung verringert wird, können wir daraus schließen, dass anhaltende oder sogar zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit von diesen Personen als ein Versagen der Demokratie wahrgenommen wird. Das wiederum würde das politische System selbst gefährden.
Autokratisierung und wirtschaftliche Ungleichheit
Die jüngste Forschung zur Autokratisierung liefert wertvolle Analysen über die Art und Weise, wie sich Autokratisierung heute vollzieht. Die Ursachenanalyse hingegen wurde bisher etwas stiefmütterlich behandelt, insbesondere in Bezug auf strukturelle Determinanten wie die Wirtschaft. Uns sind zumindest keine Studien bekannt, in denen konkret die Auswirkungen von Ungleichheit auf die jüngste Welle der Autokratisierung untersucht worden wären. Im Folgenden gehen wir daher zunächst auf einige nachgewiesene Auswirkungen der Ungleichheit auf die demokratische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und auf die Befürwortung antidemokratischer Politik ein und stellen dann unsere Überlegungen dazu vor, wie diese Erkenntnisse mit der Autokratisierungsfrage zusammenhängen.
Es ist allgemein bekannt, dass demokratische Partizipation Ressourcen erfordert. Klassischerweise werden drei Komponenten genannt – Zeit, Geld und staatsbürgerliche Kompetenzen oder Fähigkeiten –, die in der Gesellschaft ungleich verteilt sind.
Die vergangenen Jahrzehnte in Europa und Nordamerika zeichneten sich durch eine sinkende Wahlbeteiligung, eine schwindende Identifikation mit den Parteien, fallende Mitgliederzahlen, eine geringere Unterstützung für die etablierten Parteien, das Aufkommen von "Single-Issue-Bewegungen", die sich nur auf einzelne Themen konzentrieren, und den Aufstieg von systemfeindlichen Parteien aus. Dies kann als Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand der Politik in den etablierten Demokratien gedeutet werden, es bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Unterstützung für eine autokratische Alternative wächst. Die Ablehnung von etablierten Parteien und die Unterstützung einer populistischen Partei als Ergebnis politischer Unzufriedenheit kann immerhin noch als Zeichen dafür verstanden werden, dass das vorhandene politische System weiterhin für fähig gehalten wird, sich zum Besseren zu wandeln. Wenn die populistische Partei jedoch auch antidemokratisch agiert und/oder die Wählerschaft antidemokratische Werte vertritt, kann aus der Ablehnung einer aktuellen Regierung oder einer konkreten Politik eine Ablehnung des gesamten politischen Systems werden.
Antidemokratische Werte haben in den etablierten Demokratien Europas und Nordamerikas in den zurückliegenden Jahrzehnten erheblich an Zustimmung gewonnen: Bürgerinnen und Bürger scheinen immer weniger von der Hoffnung getragen, sie könnten tatsächlich Einfluss auf die öffentliche Politik nehmen. Sie messen der Demokratie als politischem System immer weniger Wert bei und stehen autoritären Optionen offener gegenüber als früher.
Sozioökonomische und kulturelle Faktoren
Diese Komplexität tritt klar zutage, wenn man sich die Indikatoren für die Unterstützung populistischer und rechtsradikaler Parteien in diesen etablierten Demokratien anschaut. In der Regel konzentriert sich die Forschung zu den Ursachen der Unterstützung für solche Parteien entweder auf wirtschaftliche oder auf kulturelle Faktoren. In Studien, die sich auf wirtschaftliche Aspekte konzentrieren, konnte gezeigt werden, dass Personen am unteren Ende des Einkommensspektrums eher für populistische und rechtsradikale Parteien stimmen, wenn die Verhältnisse insgesamt sehr ungleich sind.
Es gibt aber auch ein wachsendes Forschungsfeld, das sich mit der Kombination von wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren befasst und somit den autoritären Werten, die sich aus protektionistischen Einstellungen ergeben, Rechnung trägt. Ungleichheit und wirtschaftliche Benachteiligung sind wichtige Indikatoren für den Grad der sozialen Integration, das soziale Kapital und den sozialen Status einer Person, die wiederum die Wahrscheinlichkeit für die Unterstützung rechtsradikaler und populistischer Parteien beeinflussen. So haben Studien zum Beispiel gezeigt, dass Statusangst
Allerdings ist wichtig, auf einige Vorbehalte gegenüber diesen Ergebnissen hinzuweisen. Erstens wird jede Antwort auf die Frage, wie sich Ungleichheit auf Autokratisierung auswirkt, unweigerlich dadurch beeinträchtigt, dass der Umfang der verfügbaren Vergleichsstudien, sowohl in geografischer wie zeitlicher Hinsicht, relativ klein ist. Eine klare Einschränkung besteht darin, dass die untersuchten Länder oft zu den wohlhabenderen gehören und viele von ihnen über relativ umfangreiche Sozialsysteme verfügen. Wir können nicht davon ausgehen, dass Menschen am unteren Ende des Einkommensspektrums in weniger wohlhabenden Regionen der Welt ähnlich reagieren – vor allem dann, wenn sie sich in weitaus prekäreren Situationen befinden und keinerlei staatliche Hilfe gegeben ist.
Zweitens liegen die meisten Länder, die von der aktuellen Autokratisierungswelle erfasst werden, außerhalb Europas und Nordamerikas. Obwohl viele von ihnen, zum Beispiel Brasilien, die Türkei oder Indien, von rechtspopulistischen oder rechtsradikalen Parteien angeführt werden, können wir nicht einfach davon ausgehen, dass die Triebkräfte für die Wählerunterstützung dort genau dieselben sind wie bei den rechtsgerichteten Parteien in Europa und Nordamerika.
Drittens würden die Ergebnisse an Belastbarkeit gewinnen, wenn man die Fälle gewählter Autokraten aus der Vergangenheit mit einbeziehen würde. Auch wenn diese Fälle selten sind und es offensichtliche Probleme mit den Daten gibt, könnten wir die Ergebnisse so auf die Auswirkungen von Ungleichheit angesichts heutiger Entwicklungen kontrollieren (wie etwa die jüngste Globalisierungswelle, die ebenfalls als Gefahr für die Demokratie angesehen wird).
Viertens: Nicht alle populistischen und rechtsradikalen Parteien sind antidemokratisch. Wenn es uns um die Prozesse der Autokratisierung geht, sollten wir in die Analyse auch nur die Unterstützung für solche Parteien einbeziehen, die tatsächlich autokratische Werte zum Ausdruck bringen und Autokratie zum Ziel haben.
Ein letzter Punkt: Wie die Forschung über Ungleichheit und Demokratisierung zeigt,
Ausblick: Ungleichheit und Autokratisierung
Wir möchten diesen Beitrag mit einigen kurzen theoretischen Mutmaßungen darüber beschließen, wie Ungleichheit und Autokratisierung zusammenhängen. Wir hoffen, damit einen Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu den Auswirkungen von Ungleichheit auf Autokratisierung zu schaffen und künftige Forschungsarbeiten anzustoßen. Konkret wollen wir zwei Thesen formulieren, wie Ungleichheit Autokratisierung beeinflusst: Erstens glauben wir, dass Ungleichheit vor allem auf lange Sicht eine Rolle spielen wird. Zweitens denken wir, dass die Entwicklung von Ungleichheit für die hier diskutierte Frage ebenso wichtig ist wie das absolute Niveau von Ungleichheit.
Anhaltend hohe oder wachsende Ungleichheit wird vor allem auf lange Sicht zu Autokratisierung führen, da über längere Zeiträume hinweg ein Gefühl der politischen und sozialen Stagnation entstehen kann. Natürlich glauben wir nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger das Niveau der Ungleichheit jedes Jahr genauestens zur Kenntnis nehmen und ab einem bestimmten Schwellenwert die Autokratie bevorzugen. Wir glauben aber, dass die wirtschaftliche Ungleichheit ein wichtiger Faktor ist, der die Wahrnehmung der Qualität und des Charakters der Gesellschaft, in der man lebt, beeinflusst. Wenn wirtschaftliche Ungleichheit im Laufe der Zeit konstant hoch bleibt oder zunimmt, haben wir Grund zu der Annahme, dass dies zu einem Gefühl des Pessimismus und des Misstrauens gegenüber zukünftigen Verbesserungen führt. Wenn ein demokratisches politisches System unablässig sozioökonomische Ergebnisse zeitigt, die einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft an den Rand drängen, während die Politik bei jeder Wahl verspricht, die Gesellschaft für alle zu verbessern, wäre es nicht überraschend, wenn eine große Anzahl von Wählerinnen und Wählern zunehmend das politische System als Ganzes in Frage stellt – statt wie bisher nur einzelne Regierungen oder Parteien. Wir sollten unbedingt genauer empirisch untersuchen, wie sich jahrzehntelang anhaltende oder zunehmende Ungleichheit auf die Zustimmung zu antidemokratischer Politik auf der Ebene des einzelnen Wählers oder von Wählergruppen sowie auf die Autokratisierung auf Staatsebene auswirkt.
Die zweite These ähnelt der ersten, rückt aber die Dynamik der Ungleichheit in den Vordergrund, nicht ihr langfristiges Niveau. Auch hier gehen wir davon aus, dass die Entwicklung der Ungleichheit Einfluss darauf hat, wie die Leistungsfähigkeit und die Attraktivität eines politischen Systems wahrgenommen und bewertet werden. Aus verschiedenen historischen Gründen bestehen große Unterschiede zwischen Staaten hinsichtlich des Ausmaßes der Ungleichheit oder der sozioökonomischen Strukturen. Wird wirtschaftliche Ungleichheit im Laufe der Zeit verringert, kann das die Legitimität des politischen Systems erhöhen – selbst wenn der Grad der Ungleichheit generell hoch bleibt –, weil es den Bürgern, denen solche sozioökonomischen Ergebnisse wichtig sind, ein Gefühl von Optimismus und nachweislicher Verbesserung vermittelt. Wenn jedoch die Ungleichheit in einer Demokratie im Laufe der Zeit zunimmt, kann dies – selbst wenn die Ungleichheit eigentlich relativ gering ist – zu gegenteiligen Wahrnehmungen führen. Entwicklungen in die eine oder andere Richtung sind für das allgemeine Gefühl der Menschen, wohin sich eine Gesellschaft bewegt, von Bedeutung. Daher glauben wir, dass sich auch Länder mit einem relativ niedrigen Ungleichheitsgrad auf dünnes Eis begeben, wenn die Ungleichheit zuzunehmen beginnt. Bei zunehmender Ungleichheit, vor allem über einen längeren Zeitraum hinweg, ist es nicht verwunderlich, wenn Bürgerinnen und Bürger das Ergebnis dieses Prozesses früher oder später dem politischen System als Ganzem zuschreiben.
Wie und in welchem Ausmaß wirtschaftliche Ungleichheit zur Autokratisierung beiträgt, muss erst noch genauer systematisch erforscht werden. Doch wir glauben, überzeugende Beweise für einen Zusammenhang zwischen beiden Faktoren vorgelegt zu haben. Eine weitere Beschäftigung mit diesem Thema wäre nicht nur ein gewinnbringendes wissenschaftliches Unterfangen, sondern auch wichtig für die heutige und die zukünftige Politik. Wollen wir der Gefahr einer Autokratisierung entgegenwirken, müssen wir uns um ein besseres Verständnis von Autokratisierungsprozessen bemühen. Die Untersuchung des Zusammenhangs von Ungleichheit, Unzufriedenheit mit der Demokratie und daraus resultierender Unterstützung antidemokratischer Kräfte ist hierfür entscheidend.
Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff.