Die zunehmende Spreizung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse gibt Anlass zur Sorge – auch und gerade dann, wenn die daraus resultierenden Folgen für die Gesellschaft in den Blick genommen werden. So stehen sozioökonomische Ungleichheiten beispielsweise im Verdacht, die Gesundheit und das subjektive Wohlbefinden zu beeinträchtigen und das soziale Miteinander zu schwächen. Und nicht nur sozial schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen scheinen hiervon betroffen zu sein, sondern auch jene, die tendenziell zu den Gewinnern ökonomischer Verteilungsprozesse zählen.
Vor diesem Hintergrund erscheint ein Perspektivenwechsel erforderlich: die Betrachtung von Ungleichheiten aus dem Blickwinkel der Bevölkerung. Aber wie nehmen wir Bürgerinnen und Bürger eigentlich soziale Ungleichheit wahr? Wie kommt es, dass wir nur über ein sehr ungenaues Bild von den Einkommensverhältnissen anderer verfügen und nicht besser über unsere eigenen Positionen in der sozialen Hierarchie Bescheid wissen? Gibt es systematische Perzeptionsunterschiede – beispielsweise zwischen armen und reichen Menschen oder zwischen jenen, die in gleicheren oder ungleicheren Gesellschaften leben? Und was folgt eigentlich aus der vielleicht fehlerhaften Perzeption für die Bewertung und Akzeptanz von Ungleichheiten und die Forderung nach staatlicher Umverteilung?
Konzepte und Messinstrumente
Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit beziehen sich auf subjektive Repräsentationen eines gesellschaftlichen Sachverhalts (den "Status quo")
In der länderübergreifenden Umfrageforschung haben sich vornehmlich zwei Messinstrumente zur empirischen Erfassung von gesellschaftsbezogenen Ungleichheitswahrnehmungen in Bezug auf das Verteilungsergebnis etabliert: Zum einen werden Personen Pyramidendiagramme vorgelegt, die verschiedene Gesellschaftsformen abbilden. Die Befragten werden aufgefordert, jene Abbildung zu bestimmen, die am besten ihrer Wahrnehmung von Ungleichheit in ihrem Land entspricht. Ein anderes verbreitetes Messinstrument befasst sich mit der Polarisierung von Einkommen. Befragte werden aufgefordert, die Höhe der durchschnittlichen Einkommen verschiedener Berufsgruppen zu schätzen. Die Höhe der wahrgenommenen Einkommensspreizung wird im Anschluss daran indirekt, meist über die Diskrepanz in den angegebenen Durchschnittsgehältern von Vorstandsvorsitzenden großer Unternehmen und ungelernten Fabrikarbeitern, ermittelt. Informationen zum Verteilungsprozess und damit zur wahrgenommenen sozialen Mobilität beziehungsweise der sozialen Durchlässigkeit des Gesellschaftssystems werden üblicherweise mittels Fragen zu den Hintergründen für das Vorankommen in der Gesellschaft erfasst. Dabei wird zwischen personenbezogenen Begründungen, wie harter Arbeit und Bildung, und strukturellen Begründungen, wie der Bevorteilung aufgrund der familiären Herkunft oder Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts oder der Religionszugehörigkeit, unterschieden. Die Wahrnehmung gesellschaftsbezogener Ungleichheiten (insbesondere zu Verteilungsergebnissen) ist auch für selbstbezogene Ungleichheitswahrnehmungen relevant, da sie einen Referenzrahmen zur Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Position bietet. Dazu werden Befragte üblicherweise gebeten, sich selbst auf einer 10-stufigen Skala zu verorten, die die hierarchische Gesellschaftsstruktur widerspiegelt.
Fehlwahrnehmungen sozialer Ungleichheit
Wahrnehmungen geben immer "nur" ein subjektives Abbild eines sozialen und hoch komplexen Sachverhaltes wieder. Daher stellt sich die Frage, wie sehr unsere Wahrnehmungen von den tatsächlichen Gegebenheiten abweichen und ob sich systematische Unterschiede zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen und Ländern feststellen lassen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass wir Bürgerinnen und Bürger die Gesellschaft gleicher wahrnehmen als sie in Wirklichkeit ist. Gerade die Schätzung von Einkommen am oberen Ende des Einkommensspektrums fällt uns besonders schwer.
Aber auch wenn das eigentliche Ausmaß an Ungleichheit oftmals unterschätzt wird, so sind Perzeptionen meist nicht zufällig. Personen nehmen zum Beispiel im Durchschnitt größere Ungleichheiten wahr, wenn sie in Ländern mit höheren Ungleichheiten leben. Auch wenn der statistische Zusammenhang nicht besonders stark ist, so ist er doch positiv.
Markante Unterschiede in der Wahrnehmung von Einkommensungleichheiten sind auch zwischen sozialen Gruppen zu beobachten. Beispielsweise nehmen Personen aus einkommensstarken Haushalten größere Lohndivergenzen zwischen Vorstandsvorsitzenden und ungelernten Fabrikarbeitern wahr als Personen einkommensschwacher Haushalte. Stellt man dieser Betrachtung gegenüber, was Vorstandsvorsitzende und Fabrikarbeiter aus Sicht der Befragten gerechterweise verdienen sollten, so zeigt sich, dass Personen mit hohem Einkommen gleichzeitig auch dazu tendieren, größere Lohndivergenzen zu akzeptieren. Einkommensschwache Personengruppen hingegen nehmen zwar geringere Lohndiskrepanzen wahr, empfinden diese aber eher als ungerecht.
Auch mit der Wahrnehmung unserer eigenen Position in der sozialen Hierarchie haben wir Bürgerinnen und Bürger unsere Probleme. Hier zeigt sich eine klare "Tendenz zur Mitte" – eine systematische Wahrnehmungsverzerrung, die sich in allen bislang untersuchten Ländern beobachten lässt.
Diese Ergebnisse unterstreichen, dass Wahrnehmungen zum Ausmaß der Ungleichheit und die Selbstpositionierung in der sozialen Hierarchie nicht zufällig sind, sondern bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Ursachen für diese Fehlwahrnehmungen vielschichtig sind. Das direkte soziale Umfeld, Werte und Glaubenssätze, aber auch Heuristiken und soziale Vergleiche können unsere Wahrnehmung entscheidend beeinflussen.
Ursachenanalyse
Dass sich real existierende Ungleichheiten nicht eins zu eins in der Wahrnehmung der Bevölkerung widerspiegeln, ist angesichts der Komplexität des Sachverhalts nicht weiter verwunderlich. Auch wenn Informationen zu bestehenden Ungleichheiten öffentlich zur Verfügung stehen und in regelmäßigen Abständen über die Medien ins Blickfeld geraten, so sind diese oftmals für den Einzelnen zu abstrakt und fernab der individuellen Lebenswelt. Denn Menschen bewegen sich tendenziell in eher homogenen Umfeldern. Wir ziehen in Viertel, in denen andere ähnlich viel verdienen wie wir selbst. Wir umgeben uns mit Freunden und Bekannten, die ähnliche Berufe ausüben und ähnliche Bildungsbiografien haben. Gesellschaftliche Gruppen, die sehr viel reicher oder sehr viel ärmer sind, kommen in unserem Alltag in der Regel kaum vor.
Diese Grundhypothese wird durch die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik unterstützt – eine einfache kognitive Faustregel, um Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten auch dann zu beurteilen, wenn die Zeit oder die Möglichkeit fehlt, dafür auf präzise Daten zurückzugreifen. Demnach werden Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen überschätzt, wenn sie kognitiv schneller zugänglich sind und leichter abgerufen werden können.
Dass gerade Personen unterer Einkommensgruppen ein geringeres Ausmaß an Ungleichheit wahrnehmen, kann auf die oben beschriebenen Mechanismen zurückgeführt werden. Zudem wird hier – neben dem fehlenden Wissen über die Einkommen von sozial Höhergestellten und einer mangelnden Vorstellungskraft – auch eine geringere Fähigkeit zur sozialen Differenzierung vermutet.
Für selbstbezogene Ungleichheitswahrnehmungen – wie beispielsweise die soziale Positionswahrnehmung – sei auf die Relevanz von sozialen Vergleichsprozessen hingewiesen. Es ist eine generelle Eigenschaft des Menschen, sich zu vergleichen. Allerdings unterscheiden wir uns nicht nur darin, dass wir uns unterschiedlich häufig vergleichen, sondern auch in der Wahl der Referenzgruppe. Vergleiche mit sozial Höhergestellten können leicht zu einem Gefühl der sozialen Deprivation führen und somit zu einer geringeren Selbstpositionierung im sozialen Gefüge und einer größeren Ungleichheitswahrnehmung.
Auch Ideologien und allgemeine Glaubenssätze zu gesellschaftlichen Verteilungsfragen scheinen die Perzeption von Ungleichheiten in der Gesellschaft – vor allem aber deren Bewertung – zu beeinflussen.
Bewertung von Ungleichheit und die Forderung nach staatlicher Umverteilung
Es überrascht auf den ersten Blick nur wenig, dass die Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten in einem engen Zusammenhang mit der politischen Forderung nach staatlicher Umverteilung steht. Dies trifft auf die gesellschaftsbezogene Ungleichheitsperzeption ebenso zu wie auf die Wahrnehmung der eigenen Position in der sozialen Hierarchie: Je größer die sozialen Unterschiede und je geringer der eigene soziale Status wahrgenommen werden, desto höher ist die Zustimmung zu staatlichen Interventionen.
Aber wie genau hängen Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse zusammen? Die psychologische Forschung verweist darauf, dass Wahrnehmungen einen direkten Einfluss auf die Präferenzbildung haben und somit unsere Bewertung von sozialer Ungleichheit stark beeinflussen. Der Soziologe George Homans hat dies prägnant so zusammengefasst: "What is, is always becoming what ought to be."
Des Weiteren zeigt sich, dass Wahrnehmungen von Verteilungsprozessen für die Akzeptanz von Ungleichheiten erheblich sind. Wird zum Beispiel individuelles Fehlverhalten als Ursache für Armut angesehen, tendieren Bürgerinnen und Bürger dazu, die von ihnen wahrgenommene Ungleichheit eher zu akzeptieren.
Ausblick
Die Erforschung von Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit hat ihre ganz eigene Berechtigung. Als ein separater, interdisziplinär angelegter Forschungszweig innerhalb der Sozialwissenschaften leistet sie einen eigenständigen und vielversprechenden Beitrag zur gesellschaftspolitischen Debatte hinsichtlich der Legitimität, Stabilität und Kontinuität von sozialen Ungleichheiten in demokratisch verfassten Gesellschaften. Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse sind auch für die Erklärung von individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Einkommensungleichheiten von zentraler Bedeutung. Denn Einschränkungen in der Lebensqualität, in der Gesundheit und im Wohlbefinden von Individuen sind primär dann zu erwarten, wenn Ungleichheiten von diesen als zu hoch wahrgenommen werden und als ungerecht oder illegitim bewertet werden.
Grundsätzlich ist die empirische Analyse von Perzeptionen sozialer Ungleichheiten ein komplexes Unterfangen. Es ist unstrittig, dass Perzeptionen mittels standardisierter Umfrageinstrumente nur ungenau erhoben und Kausalitäten zwischen einzelnen kognitiven Teilaspekten nur unzureichend bestimmt werden können. Eine theoriegeleitete Vorgehensweise ist daher umso wichtiger, genauso wie die Entwicklung und Implementierung neuer Erhebungsinstrumente, die es erlauben, verschiedene Ungleichheitsdimensionen zu erfassen und mit realen Verhältnissen zu vergleichen. Denn nicht nur Unterschiede im Einkommen und Vermögen, sondern beispielsweise auch im sozialen Status sind für die Ungleichheitsforschung relevant. Auch die Entwicklung von sensitiven Messinstrumenten zur vergleichenden Erfassung von subjektiven und objektiven Ungleichheiten – so komplex und abenteuerreich dieses Unterfangen auch sein mag – sollte ein weiterer Schwerpunkt künftiger Forschung sein.
Zudem ist bislang nur wenig über den Einfluss der Medien und des politischen Diskurses bekannt. So ist zum Beispiel weitgehend unklar, ob Ungleichheitswahrnehmungen politisch beeinflussbar sind und an welche ethisch-moralischen Grenzen eine gezielte Beeinflussung stößt. Pikant sind diese Fragen insbesondere vor dem Hintergrund, dass Wahrnehmungen eine besondere Rolle für die Legitimierung und Stabilität von Ungleichheiten spielen und damit auch politische Forderungen nach staatlicher Umverteilung beeinflussen.
Abschließend sei angemerkt, dass Ungleichheiten natürlich auch dann existieren können, wenn sie von der Bevölkerung nicht als solche wahrgenommen werden. Gerade dann ist politischer Wille gefragt und eine neutrale Sozialberichterstattung, die über die bestehenden Verhältnisse aufklärt und eine gesellschaftliche Debatte darüber anregt, welches Ausmaß an Ungleichheit für jeden einzelnen und für die Gesellschaft als solche vertretbar ist.