Als im April 2021 die griechische Regierung Forderungen nach Reparationszahlungen für die im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzungsherrschaft erlittenen Verluste und Schäden an die deutsche Seite richtete, nahm die Bundesregierung – so wie bei vorangegangenen Ersuchen aus Griechenland oder auch aus Polen – den Standpunkt ein, dass mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 sämtliche Forderungen dieser Art endgültig verwirkt seien.
Das Beispiel vermittelt eine Ahnung davon, wie sehr die Schatten des Zweiten Weltkrieges und die der weiteren Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. In vielerlei Hinsicht deutet sich dahinter zugleich das andauernde Gewicht national überformter Erinnerungskulturen an, die seit der Gründung moderner Nationalstaaten im 19. Jahrhundert die Gedächtniskulturen in ganz Europa nachhaltig prägen sollten. Sehr deutlich kam dieser Sachverhalt zuletzt in den seit 2014 abgehaltenen Veranstaltungen zur Erinnerung an den Ausbruch und die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges zum Vorschein, blieb doch die öffentliche Aufmerksamkeit mit Ausnahme verschiedener internationaler Großveranstaltungen und stärker transnational angelegter Museumsprojekte weitgehend auf das jeweils eigene Land beschränkt.
Das Gesagte gilt noch weit mehr für die öffentliche Erinnerung an das totale Kriegsgeschehen zwischen 1939 und 1945 in Europa.
In den beiden deutschen Staaten tat man sich gleichzeitig lange sehr schwer damit, durch Wiedergutmachungsleistungen sowie das Bekenntnis zu einer offenen historischen Aufarbeitung der Verantwortung für den Massenmord an den Jüdinnen und Juden Europas und für die Verbrechen an vielen anderen Opfergruppen gerecht zu werden.
Risse und Aufbrüche nach 1989/91
Der Zusammenbruch der kommunistisch beherrschten Regime in Ost- und Ostmitteleuropa rief nach 1989/91 einen massiven Wandel auf verschiedenen Feldern der öffentlichen Gedächtniskultur hervor.
Parallel dazu veränderte sich der Modus der öffentlich inszenierten Gedenkfeiern. Während über Jahrzehnte die Aufmerksamkeit auf die Figur des Helden, ja der "Nation als heldischer Gemeinschaft" gerichtet war, rückten seither stärker sämtliche Opfer von totalitärer Gewaltherrschaft in den Mittelpunkt des öffentlichen Gedenkens.
Dies bedeutet freilich keineswegs, dass der grundlegende Formwandel der Erinnerungskultur mit dem Fokus auf den Holocaust seither überall auf einem breiten gesellschaftlichen Einverständnis aufbaute. Tatsächlich verhielt und verhält sich die Lage von Land zu Land sehr unterschiedlich, wie unter anderem erregte Diskussionen in Polen oder Rumänien über die Verantwortung ihrer Länder für den Massenmord an den Jüdinnen und Juden zeigen.
Darüber hinaus zeigt der Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte, wie sehr Europa erinnerungskulturell in ein stärker östliches Gravitationszentrum auf der einen Seite und ein stärker westliches auf der anderen Seite gespalten geblieben ist. Mit einigem Recht lässt sich sogar festhalten, dass die Erinnerung an die Diktaturregime die Europäer und Europäerinnen immer noch trennt, entlang der alten Blockgrenzen zwischen dem Osten und dem Westen, aber auch entlang politisch-ideologischer Grenzen innerhalb der nationalen politischen Kulturen. So ist insbesondere aus Ostmitteleuropa oder auch den östlichen Ländern in der Bundesrepublik immer wieder der mahnende Ruf zu hören, den Opfern der ehemals kommunistisch regierten Volksrepubliken im öffentlichen Gedenken einen ebenso würdigen Platz einzuräumen wie den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Dieser Appell wird zugleich von einer durchaus nennenswerten Nostalgie für den Realsozialismus konterkariert, die nicht nur in den Reihen der Transformationsverlierer viele Anhänger gefunden hat.
Vor dem Hintergrund der gravierenden politischen und sozialen Probleme färbte sich vor allem in Russland die offiziöse Gedächtniskultur nationalistisch ein. Dies bedeutet zum einen, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sich weiterhin fast ausschließlich auf den militärischen Sieg der UdSSR ausrichtete, während die Opfer der stalinistischen Säuberungspolitik ausgeklammert blieben. Zum anderen war zu beobachten, dass sich in Russland und anderen postsozialistischen Staaten staatliche und zivilgesellschaftliche Formen des Erinnerns nicht nur zunehmend regional ausdifferenzierten, sondern diese oft miteinander konkurrierten, sich gelegentlich auch ergänzten und darüber das Aufkommen neuer Formen des Erinnerns begünstigten. So hielten seit den 2010er Jahren Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Gedenkmärschen immer häufiger Porträts ihrer Verwandten hoch, die aktiv am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten. Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in Europa beteiligten sich allein in Moskau eine halbe Million Menschen an einem solchen Marsch zur Erinnerung an das "Unsterbliche Regiment", unter ihnen Präsident Wladimir Putin mit dem Porträt seines Vaters.
Gleichwohl, die Diskussionen über die unterschiedlichen Diktatur- und Besatzungserfahrungen in ganz Osteuropa blieben nicht nur eng miteinander verflochten, sondern sie wirkten zugleich stark konfliktfördernd. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass die Vorbehalte gegen eine öffentliche Debatte über die Rolle von Hunderttausenden Freiwilligen, die sich in den von den Deutschen besetzten Ländern an Verbrechen gegen die Menschheit beteiligt hatten, regelmäßig scharfe Polemiken heraufbeschwören. Obwohl der Sachverhalt von der internationalen historischen Forschung inzwischen breit dokumentiert worden ist, bestehen vor allem in Ungarn, Polen, den baltischen Staaten und der Ukraine zu vielen dieser Fragen bis heute erhebliche Konflikte. Mit Blick auf Polen muss sogar von einem Schweigekonsens gesprochen werden, den eine revisionistische Geschichtspolitik förmlich einfordert.
Konjunktur des Holocaustgedächtnisses
Ungeachtet zahlreicher Widerstände entwickelte sich seit den 1990er Jahren die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland sowie in vielen anderen Ländern zu einem herausragenden Orientierungspunkt der staatlichen Gedächtniskultur. Schon weit früher waren dazu im Westen Europas erste Anstöße von der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechenspolitik sowie der historischen NS-Forschung ausgegangen. Erst aber mit der Öffnung und vollen Zugänglichkeit der Archive in Osteuropa war dann seit den 1990er Jahren die Grundlage dafür gegeben, um auf der Basis unzähliger, neu erschlossener Quellen ein präzises Bild der mörderischen Gewalteskalation im Zweiten Weltkrieg zu zeichnen.
Vor diesem Hintergrund verstärkte sich in vielen Ländern Europas ein grundlegender Paradigmenwechsel in den Erinnerungskulturen, der insgesamt den Übergang von einem politischen zu einem stärker moralischen Muster der Vergangenheitsbetrachtung anzeigt. Trotz richtungsweisender Impulse aus der Forschung bereits seit den 1970er Jahren, die international durch regional- und alltagsgeschichtliche Untersuchungen die Diktaturerfahrungen vor Ort und darüber in vielen Fällen auch die Geschichte der lokalen jüdischen Gemeinden in den Mittelpunkt des Interesses rückte, gab mit Steven Spielbergs "Schindlers Liste" aus dem Jahr 1993 erneut ein international erfolgreicher Publikumsfilm den entscheidenden Schub zu einem Opfergedenken in den Erinnerungskulturen verschiedener Länder. In Deutschland hatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre der Historikerstreit über die "Singularität" des Genozids an den Jüdinnen und Juden indirekt den Boden dafür bereitet, dass hier geschichtskulturelle Auseinandersetzungen über den angemessenen Umgang mit der NS-Vergangenheit schon früher Fahrt aufnahmen, und doch sorgten im darauffolgenden Jahrzehnt vor allem die Debatten um die Thesen des Historikers Daniel Goldhagen über einen "eliminatorischen Antisemitismus" der Deutschen oder auch die Konflikte um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung für eine erhebliche Mobilisierung der Öffentlichkeit.
Dass die öffentlichen Aushandlungen über die "richtigen" Formen der Erinnerungskultur eine europäische Dimension aufwiesen, zeigte sich mit großem Nachdruck zur Jahrtausendwende auf der Internationalen Holocaust-Konferenz in Stockholm, an der Delegationen aus 50 Ländern teilnahmen. Mit ihrer Deklaration vom 20. Januar 2000 bekannten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ausdrücklich dazu, dass das "Ausmaß des von den Nazis geplanten und ausgeführten Holocaust (…) für immer in unserem kollektiven Gedächtnis verankert bleiben" müsse.
International ist über die neuen Denkmäler und Museen zur Erinnerung an den Holocaust zu einer Hochkonjunktur eines "opferidentifizierten Erinnerns" gekommen. Hiergegen richtet sich mittlerweile eine Kritik von verschiedenen Seiten. Zum einen erkennt diese eine allzu bereitwillige Identifikation der Nachlebenden mit den jüdischen Opfern. Dank "geliehener Identitäten" wähnten sich vor allem Jüngere leicht auf der moralisch richtigen Seite und schafften so gleichzeitig Distanz zu den Täterinnen und Tätern, zur eigenen Familiengeschichte. Zum anderen gründet das generelle Unbehagen an der Erinnerungskultur der Gegenwart in der zunehmenden Entgrenzung, Kommerzialisierung und Banalisierung der Holocaust-Erinnerung.
Debatten um eine europäische Gedächtniskultur
Obwohl bereits seit mehreren Jahren eine intensive Diskussion über europäische Erinnerungsorte in Europa geführt wird, sind bislang sämtliche Versuche zur Begründung einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur im Sande verlaufen.
Eine idealisierte Repräsentation dieses Typs steht im Grunde in einem merklichen Gegensatz zu den gelebten Erinnerungen von Millionen Europäerinnen und Europäern. So hat die internationale historische Forschung überzeugend den Nachweis dafür führen können, dass vor allem die von Generation zu Generation tradierten Erinnerungen, das heißt: die Familiengedächtnisse, überall den entscheidenden Einfluss darauf ausüben, was und wie Menschen erinnern. Man sollte daher nicht undifferenziert von dem einen kollektiven Gedächtnis sprechen, und ebenso darf man die staatlichen Inszenierungen einer nationalen Erinnerungskultur nicht mit homogenen kollektiven Gedächtnissen verwechseln. Die Umbrüche der vergangenen 30 Jahre zeigen vielmehr, dass sich seither wie in einem Zeitraffer mehrere Erinnerungswellen entladen haben, über die zahlreiche, teilweise lange verschüttete Gedächtnisse reaktiviert und damit scheinbar überlebte Konflikte wiederbelebt worden sind. Der nachfolgende politische Streit um die jeweils legitimen, genauer: die staatlich sanktionierten "kollektiven Gedächtnisse" nationaler Erinnerungskulturen war damit vorprogrammiert. Es darf daher auch nicht verwundern, dass die erinnerungspolitischen Konflikte gerade in den sogenannten Transformationsstaaten besonders heftig ausgetragen worden sind.
Alle diese Debatten werden in den kommenden Jahren schon allein deswegen immer wieder aufflammen, weil die massiven menschlichen und materiellen Verluste im Gefolge der Vernichtungsfeldzüge der deutschen Truppen und ihrer Verbündeten zwischen 1939 und 1945 auch in der Zukunft Forderungen nach Wiedergutmachungen und Reparationen aufwerfen werden.
Das erinnerungskulturelle Erbe des europäischen Kolonialismus
Mittlerweile ziehen die entsprechenden Debatten noch viel weitere Kreise, denn seit einigen Jahren ist in vielen Ländern Europas ein heftiger Streit über den "richtigen" Umgang mit dem düsteren Erbe des europäischen Kolonialismus ausgebrochen. In diesem Zusammenhang sprechen verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von direkten Verbindungslinien – solche personeller, funktionaler oder auch diskursiver Natur – zwischen kolonialem Rassismus und Holocaust. In Deutschland ist in dieser Hinsicht vor allem der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer mit der These direkter Verbindungen "von Windhuk nach Auschwitz" hervorgetreten. Denn sowohl der europäische Kolonialismus als auch die nationalsozialistische Expansions- und Mordpolitik beruhten auf Konzepten wie "Rasse" und "Raum", wie Zimmerer betont. Diese Annahme hat jedoch ebenso wie der Vorschlag des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg, Sklaverei, europäische Kolonialherrschaft und den Holocaust sowie andere Massenverbrechen als Teil einer europäischen Gewaltgeschichte zusammenzudenken, ohne deren jeweilige Besonderheiten zu relativieren oder zu verharmlosen, teilweise scharfe Kritik auf sich gezogen. Im Kern richten sich die Einwände gegen das Konzept einer "multidirektionalen Erinnerung", weil es eine Gleichsetzung von kolonialer Bevölkerungspolitik der europäischen Mächte und der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden behaupte. Die Rede von einer "kolonialen Dimension" des Holocaust verschleiere sogar wesentliche Ursachengeflechte und Handlungsmuster des Massenmords an den europäischen Juden, argumentierte die Historikerin Ulrike Jureit überzeugend.
Die teils hoch polemisch geführten Debatten, die den innereuropäischen Rassismus in Gestalt des Antislawismus meist vollständig ausblenden, spiegeln sich aktuell auf dem politischen Feld in den Verhandlungen über eventuelle Wiedergutmachungen. Dabei geht es nicht nur um die jüngst von polnischer Seite erneuerten Forderungen nach Reparationen, sondern aktuell verhandelt die Bundesregierung mit Vertretern aus Namibia über die Frage, ob, in welcher Höhe und an wen die deutsche Seite Wiedergutmachungen für den deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama (1904–08) leisten solle. In diesem Zusammenhang zeigt sich jedoch, dass nicht nur bei Fragen der finanziellen Wiedergutmachung, sondern auch bei allen Projekten zur Restitution von afrikanischer "Beutekunst" die Erwartungen in den opferzentrierten Erinnerungskulturen Europas in einem merklichen Spannungsverhältnis zur Empfängerseite stehen.