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Zum Wandel der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989/91

Christoph Cornelißen

/ 17 Minuten zu lesen

Nach 1989/91 kam Bewegung in die Erinnerungskulturen in Europa. Trotz Bemühungen um eine gemeinsame Erinnerungskultur sind diese weiterhin nationalstaatlich geprägt und zeichnen sich immer noch die Grenzen zwischen Ost und West ab.

Als im April 2021 die griechische Regierung Forderungen nach Reparationszahlungen für die im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzungsherrschaft erlittenen Verluste und Schäden an die deutsche Seite richtete, nahm die Bundesregierung – so wie bei vorangegangenen Ersuchen aus Griechenland oder auch aus Polen – den Standpunkt ein, dass mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 sämtliche Forderungen dieser Art endgültig verwirkt seien. Die moralische Entrüstung in Teilen der deutschen Politik und Öffentlichkeit konnte freilich kaum verdecken, dass in den Jahrzehnten zuvor materiell nur wenig zur Wiedergutmachung in Griechenland geleistet wurde. Überdies erwies es sich nun immer mehr als ein drängendes Problem, dass die deutsche Erinnerungskultur um den Zweiten Weltkrieg den Kriegsverbrechen in Griechenland wie überhaupt den Folgen der deutschen Besatzungsherrschaft in Südosteuropa allenfalls am Rande Beachtung geschenkt hatte, die Politik der Aussöhnung mit den westeuropäischen Staaten dagegen eine ganz andere Haltung widerspiegelte. Im Falle Griechenlands dauerte es bis zu einem Staatsbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck im März 2014, bevor erstmals ein Spitzenrepräsentant der Bundesrepublik die Angehörigen der Opfer von deutschen Besatzungsverbrechen um Verzeihung bat.

Das Beispiel vermittelt eine Ahnung davon, wie sehr die Schatten des Zweiten Weltkrieges und die der weiteren Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. In vielerlei Hinsicht deutet sich dahinter zugleich das andauernde Gewicht national überformter Erinnerungskulturen an, die seit der Gründung moderner Nationalstaaten im 19. Jahrhundert die Gedächtniskulturen in ganz Europa nachhaltig prägen sollten. Sehr deutlich kam dieser Sachverhalt zuletzt in den seit 2014 abgehaltenen Veranstaltungen zur Erinnerung an den Ausbruch und die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges zum Vorschein, blieb doch die öffentliche Aufmerksamkeit mit Ausnahme verschiedener internationaler Großveranstaltungen und stärker transnational angelegter Museumsprojekte weitgehend auf das jeweils eigene Land beschränkt.

Das Gesagte gilt noch weit mehr für die öffentliche Erinnerung an das totale Kriegsgeschehen zwischen 1939 und 1945 in Europa. Denn in vielen Ländern beherrschten seither mythisch eingefärbte Erzählungen über den heldenhaften Widerstand gegen die deutschen Besatzer und ihre Helfershelfer die öffentlichen Gedächtniskulturen. Dies betrifft den Westen Europas, noch mehr aber den Osten, wo unter der Vorherrschaft der Sowjetunion die Glorifizierung des "Großen Vaterländischen Krieges" nicht zuletzt dem Zweck diente, die erinnerungskulturelle Hegemonie der UdSSR im gesamten "Ostblock" auf Dauer zu festigen. Über mehrere Jahrzehnte sorgte die geopolitische Lage im Kalten Krieg dafür, dass die offiziösen Gedenkfeierlichkeiten in der Sowjetunion das Schicksal nationaler Minderheiten im eigenen Land ebenso wie die Opfer der stalinistischen Terrorherrschaft und vor allem die ermordeten Juden weitgehend ausblendeten. Darüber hinaus mussten die Bevölkerungen Ostmitteleuropas erleben, wie sehr die einseitige Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 ihre ganz anders gelagerten Kriegserfahrungen systematisch marginalisierte. Es war daher alles andere als ein Zufall, dass der Kampf um die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls am Ende der 1980er Jahre den Gründungsmythos der baltischen Volksfrontbewegungen ausmacht.

In den beiden deutschen Staaten tat man sich gleichzeitig lange sehr schwer damit, durch Wiedergutmachungsleistungen sowie das Bekenntnis zu einer offenen historischen Aufarbeitung der Verantwortung für den Massenmord an den Jüdinnen und Juden Europas und für die Verbrechen an vielen anderen Opfergruppen gerecht zu werden. Ähnlich verhielt sich die Lage in all den Staaten, die, wie beispielsweise Italien oder Rumänien, als Bündnispartner des "Dritten Reiches" sich ebenfalls schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten. Gewiss, seit den 1960er Jahren kamen vielerorts durchaus ernsthafte Bemühungen in Gang, um öffentlich an die düsteren Schattenseiten der eigenen Nation im Zweiten Weltkrieg zu erinnern, sodass der überall vorherrschende Schweigekonsens der Nachkriegszeit allmählich aufbrach. Doch erst die im Jahr 1979 ausgestrahlte Spielfilmserie "Holocaust" machte breite Bevölkerungsgruppen nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in der DDR und in Österreich erstmals überhaupt mit grundlegenden Tatbeständen des Massenmords an den Jüdinnen und Juden Europas vertraut. Im Grunde bewirkten vor allem die Revolutionen der Jahre 1989/91 einen entscheidenden Wandel, rückte doch seither in vielen Ländern das Gebot einer vorbehaltlosen Aufarbeitung auf die Agenda der Erinnerungspolitik.

Risse und Aufbrüche nach 1989/91

Der Zusammenbruch der kommunistisch beherrschten Regime in Ost- und Ostmitteleuropa rief nach 1989/91 einen massiven Wandel auf verschiedenen Feldern der öffentlichen Gedächtniskultur hervor. Besonders sichtbar kam dieser Sachverhalt zunächst im Osten Europas zum Vorschein, ablesbar unter anderem am Schleifen und der Zerstörung unzähliger Denkmäler sowie ihrer Umgestaltung oder ihrem Ersatz durch neue materielle Erinnerungszeichen. In den gleichen Zusammenhang gehören die tausendfache Umbenennung von Straßennamen und anderer öffentlicher Plätze und Einrichtungen, darüber hinaus die veränderten Inszenierungen der staatlichen Gedenkfeierlichkeiten. Auch der "politische Westen" Europas wurde rasch von diesen Umbrüchen erfasst, besonders sichtbar in Italien, wo das überkommene Parteienwesen nach dem Kalten Krieg zerfiel und sich in den nachfolgenden Jahren die staatlich inszenierte Gedächtniskultur erheblich wandelte. Deutliche Rückwirkungen des säkularen Umbruchs waren auch im vereinten Deutschland zu beobachten, wo das Gedenken an den Holocaust nach und nach in das Zentrum der öffentlich inszenierten Erinnerung rückte. Ein frühes Anzeichen war dafür, dass seit den 1990er Jahren die zuvor von der Politik oftmals nur wenig beachteten KZ-Gedenkstätten oder andere Orte der NS-Gewaltherrschaft an herausgehobenen Erinnerungstagen zu Bühnen für öffentliche Gedenkveranstaltungen transformiert wurden.

Parallel dazu veränderte sich der Modus der öffentlich inszenierten Gedenkfeiern. Während über Jahrzehnte die Aufmerksamkeit auf die Figur des Helden, ja der "Nation als heldischer Gemeinschaft" gerichtet war, rückten seither stärker sämtliche Opfer von totalitärer Gewaltherrschaft in den Mittelpunkt des öffentlichen Gedenkens. Zwar machte unter anderem der Historiker Reinhart Koselleck wiederholt darauf aufmerksam, dass die Leidenserfahrungen der Opfer "unverrückbar" in deren Leiber eingeschrieben seien, aber nicht in die Vorstellungswelt Nachgeborener übertragen oder durch irgendeine kollektive Sinnstiftung nachträglich eingeholt werden könnten; die bewusste Erinnerung an die Täter und Täterinnen dürfe darüber nicht in den Hintergrund geraten. Doch von derartigen Einwänden ließ sich die neue Geschichtspolitik in vielen Ländern nicht länger aufhalten. Im Zuge dieser Wende entschuldigten sich Regierungen nun immer öfter für die Verbrechenspolitik ihres Staates in der Vergangenheit und bekannten sich öffentlich zur Schuld der eigenen Nation.

Dies bedeutet freilich keineswegs, dass der grundlegende Formwandel der Erinnerungskultur mit dem Fokus auf den Holocaust seither überall auf einem breiten gesellschaftlichen Einverständnis aufbaute. Tatsächlich verhielt und verhält sich die Lage von Land zu Land sehr unterschiedlich, wie unter anderem erregte Diskussionen in Polen oder Rumänien über die Verantwortung ihrer Länder für den Massenmord an den Jüdinnen und Juden zeigen. Auch anderenorts führten die veränderte geopolitische Lage sowie der sich beschleunigende gesellschaftliche Wandel dazu, dass die Erinnerungskulturen im Gefolge einer konfliktreichen Konkurrenz verschiedenster Opfergruppen und auch veränderter politischer Interessenlagen sich dynamisch fortentwickelten. In diesem Zusammenhang entfalteten die "ethnischen Vertreibungen" während der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre eine wegweisende Bedeutung. Vor allem in Deutschland fielen die Reaktionen auf die Bilder der Vertreibungen und Flüchtlingslager besonders stark aus, und sie führten hier dazu, dass im Gefolge jahrelanger politischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen im Jahr 2021 ein neues "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin eröffnet wurde. Ähnliche erinnerungskulturelle Konflikte über die Vertreibungen entbrannten ebenfalls in anderen Ländern Europas (zum Beispiel in Italien, Slowenien, Rumänien oder Ungarn), wo sie bis heute immer wieder aufs Neue für heftige politische Auseinandersetzungen sorgen.

Darüber hinaus zeigt der Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte, wie sehr Europa erinnerungskulturell in ein stärker östliches Gravitationszentrum auf der einen Seite und ein stärker westliches auf der anderen Seite gespalten geblieben ist. Mit einigem Recht lässt sich sogar festhalten, dass die Erinnerung an die Diktaturregime die Europäer und Europäerinnen immer noch trennt, entlang der alten Blockgrenzen zwischen dem Osten und dem Westen, aber auch entlang politisch-ideologischer Grenzen innerhalb der nationalen politischen Kulturen. So ist insbesondere aus Ostmitteleuropa oder auch den östlichen Ländern in der Bundesrepublik immer wieder der mahnende Ruf zu hören, den Opfern der ehemals kommunistisch regierten Volksrepubliken im öffentlichen Gedenken einen ebenso würdigen Platz einzuräumen wie den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Dieser Appell wird zugleich von einer durchaus nennenswerten Nostalgie für den Realsozialismus konterkariert, die nicht nur in den Reihen der Transformationsverlierer viele Anhänger gefunden hat.

Vor dem Hintergrund der gravierenden politischen und sozialen Probleme färbte sich vor allem in Russland die offiziöse Gedächtniskultur nationalistisch ein. Dies bedeutet zum einen, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sich weiterhin fast ausschließlich auf den militärischen Sieg der UdSSR ausrichtete, während die Opfer der stalinistischen Säuberungspolitik ausgeklammert blieben. Zum anderen war zu beobachten, dass sich in Russland und anderen postsozialistischen Staaten staatliche und zivilgesellschaftliche Formen des Erinnerns nicht nur zunehmend regional ausdifferenzierten, sondern diese oft miteinander konkurrierten, sich gelegentlich auch ergänzten und darüber das Aufkommen neuer Formen des Erinnerns begünstigten. So hielten seit den 2010er Jahren Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Gedenkmärschen immer häufiger Porträts ihrer Verwandten hoch, die aktiv am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten. Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in Europa beteiligten sich allein in Moskau eine halbe Million Menschen an einem solchen Marsch zur Erinnerung an das "Unsterbliche Regiment", unter ihnen Präsident Wladimir Putin mit dem Porträt seines Vaters.

Gleichwohl, die Diskussionen über die unterschiedlichen Diktatur- und Besatzungserfahrungen in ganz Osteuropa blieben nicht nur eng miteinander verflochten, sondern sie wirkten zugleich stark konfliktfördernd. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass die Vorbehalte gegen eine öffentliche Debatte über die Rolle von Hunderttausenden Freiwilligen, die sich in den von den Deutschen besetzten Ländern an Verbrechen gegen die Menschheit beteiligt hatten, regelmäßig scharfe Polemiken heraufbeschwören. Obwohl der Sachverhalt von der internationalen historischen Forschung inzwischen breit dokumentiert worden ist, bestehen vor allem in Ungarn, Polen, den baltischen Staaten und der Ukraine zu vielen dieser Fragen bis heute erhebliche Konflikte. Mit Blick auf Polen muss sogar von einem Schweigekonsens gesprochen werden, den eine revisionistische Geschichtspolitik förmlich einfordert.

Konjunktur des Holocaustgedächtnisses

Ungeachtet zahlreicher Widerstände entwickelte sich seit den 1990er Jahren die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland sowie in vielen anderen Ländern zu einem herausragenden Orientierungspunkt der staatlichen Gedächtniskultur. Schon weit früher waren dazu im Westen Europas erste Anstöße von der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechenspolitik sowie der historischen NS-Forschung ausgegangen. Erst aber mit der Öffnung und vollen Zugänglichkeit der Archive in Osteuropa war dann seit den 1990er Jahren die Grundlage dafür gegeben, um auf der Basis unzähliger, neu erschlossener Quellen ein präzises Bild der mörderischen Gewalteskalation im Zweiten Weltkrieg zu zeichnen. Im Zuge der immer öfter so genannten "Täterforschung" wurde deutlich, dass die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Instanzen des polykratischen Herrschaftssystems der NS-Diktatur die Ermordung der Verfolgten eher beschleunigt denn behindert hatte. Außerdem konnte nun die direkte oder indirekte Beteiligung von Einzelnen oder Gruppen an den unzähligen Verbrechen gegen die Menschheit nicht nur klarer dokumentiert, sondern juristisch verfolgt werden.

Vor diesem Hintergrund verstärkte sich in vielen Ländern Europas ein grundlegender Paradigmenwechsel in den Erinnerungskulturen, der insgesamt den Übergang von einem politischen zu einem stärker moralischen Muster der Vergangenheitsbetrachtung anzeigt. Trotz richtungsweisender Impulse aus der Forschung bereits seit den 1970er Jahren, die international durch regional- und alltagsgeschichtliche Untersuchungen die Diktaturerfahrungen vor Ort und darüber in vielen Fällen auch die Geschichte der lokalen jüdischen Gemeinden in den Mittelpunkt des Interesses rückte, gab mit Steven Spielbergs "Schindlers Liste" aus dem Jahr 1993 erneut ein international erfolgreicher Publikumsfilm den entscheidenden Schub zu einem Opfergedenken in den Erinnerungskulturen verschiedener Länder. In Deutschland hatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre der Historikerstreit über die "Singularität" des Genozids an den Jüdinnen und Juden indirekt den Boden dafür bereitet, dass hier geschichtskulturelle Auseinandersetzungen über den angemessenen Umgang mit der NS-Vergangenheit schon früher Fahrt aufnahmen, und doch sorgten im darauffolgenden Jahrzehnt vor allem die Debatten um die Thesen des Historikers Daniel Goldhagen über einen "eliminatorischen Antisemitismus" der Deutschen oder auch die Konflikte um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung für eine erhebliche Mobilisierung der Öffentlichkeit.

Dass die öffentlichen Aushandlungen über die "richtigen" Formen der Erinnerungskultur eine europäische Dimension aufwiesen, zeigte sich mit großem Nachdruck zur Jahrtausendwende auf der Internationalen Holocaust-Konferenz in Stockholm, an der Delegationen aus 50 Ländern teilnahmen. Mit ihrer Deklaration vom 20. Januar 2000 bekannten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ausdrücklich dazu, dass das "Ausmaß des von den Nazis geplanten und ausgeführten Holocaust (…) für immer in unserem kollektiven Gedächtnis verankert bleiben" müsse. Eine direkte Folge hiervon war die Entscheidung verschiedener Staaten der Europäischen Union, den Tag der Befreiung des Lagers Auschwitz am 27. Januar in ihren offiziellen Gedenkkalender aufzunehmen und alljährlich entsprechende Gedächtnisfeiern zu zelebrieren; in Deutschland war dies bereits seit 1996 der Fall. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass seitdem die öffentliche Resonanz an diesen Tagen von Land zu Land erheblich schwankt. Dagegen kann das 2005 in Berlin eingeweihte "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" als der wohl sichtbarste und zugleich auch erfolgreichste Ausdruck des erinnerungskulturellen Wandels begriffen werden. Zusammen mit der unterirdisch angelegten Dauerausstellung entwickelte sich das Denkmal zu einem regelrechten Publikumsmagneten; jedes Jahr kommen seit seiner Eröffnung rund eine halbe Million Menschen an diesen Erinnerungsort.

International ist über die neuen Denkmäler und Museen zur Erinnerung an den Holocaust zu einer Hochkonjunktur eines "opferidentifizierten Erinnerns" gekommen. Hiergegen richtet sich mittlerweile eine Kritik von verschiedenen Seiten. Zum einen erkennt diese eine allzu bereitwillige Identifikation der Nachlebenden mit den jüdischen Opfern. Dank "geliehener Identitäten" wähnten sich vor allem Jüngere leicht auf der moralisch richtigen Seite und schafften so gleichzeitig Distanz zu den Täterinnen und Tätern, zur eigenen Familiengeschichte. Zum anderen gründet das generelle Unbehagen an der Erinnerungskultur der Gegenwart in der zunehmenden Entgrenzung, Kommerzialisierung und Banalisierung der Holocaust-Erinnerung. So bedenkenswert diese und weitere Einwände auf den ersten Blick wirken, lässt sich kaum übersehen, dass heute an zahlreichen Orten des NS-Terrors in Europa die Verantwortung Einzelner oder von Gruppen für Akte menschenunwürdiger Gewalt durchaus sehr klar benannt wird. Und so sehr manche Produkte der internationalen "popkulturellen" Auseinandersetzung hoch problematisch wirken müssen, empfiehlt sich auch in diesem Fall eine differenziertere Wahrnehmung. Positiv gewendet: Zahlreiche Filme, Cartoon-Serien oder Graphic Novels haben gerade unter vielen Jüngeren überhaupt erst ein Interesse an der Gewaltgeschichte der Diktaturen in Europa geweckt.

Debatten um eine europäische Gedächtniskultur

Obwohl bereits seit mehreren Jahren eine intensive Diskussion über europäische Erinnerungsorte in Europa geführt wird, sind bislang sämtliche Versuche zur Begründung einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur im Sande verlaufen. Zwar haben die Plädoyers für eine "dialogische Erinnerungskultur" (Aleida Assmann) oder dafür, die großen Katastrophen des langen 20. Jahrhunderts als "Anker- und Fluchtpunkte eines gesamteuropäischen Geschichtsbewusstseins" (Claus Leggewie) zu identifizieren, einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber zuletzt sind sie an der anhaltenden Dominanz nationaler Erinnerungskulturen abgeprallt. Ähnlich verhält es sich mit Initiativen der Europäischen Union zur Förderung eines "Europäischen Gedächtnisses". Auf diesem Feld dauerte es bis zum Mai 2017, bevor das "Haus der Europäischen Geschichte" in Brüssel seine Tore öffnen konnte. Ungeachtet der langen Vorbereitungszeit kommt man nicht umhin festzustellen, dass dieser Versuch "europäischer Kompromisslogik" eher ins Leere zielt. In der Ausstellung werden durchaus die dunklen Seiten der europäischen "Erfolgsgeschichte" gezeigt, aber der Fokus auf der zivilisatorischen Dimension setzt andere Akzente.

Eine idealisierte Repräsentation dieses Typs steht im Grunde in einem merklichen Gegensatz zu den gelebten Erinnerungen von Millionen Europäerinnen und Europäern. So hat die internationale historische Forschung überzeugend den Nachweis dafür führen können, dass vor allem die von Generation zu Generation tradierten Erinnerungen, das heißt: die Familiengedächtnisse, überall den entscheidenden Einfluss darauf ausüben, was und wie Menschen erinnern. Man sollte daher nicht undifferenziert von dem einen kollektiven Gedächtnis sprechen, und ebenso darf man die staatlichen Inszenierungen einer nationalen Erinnerungskultur nicht mit homogenen kollektiven Gedächtnissen verwechseln. Die Umbrüche der vergangenen 30 Jahre zeigen vielmehr, dass sich seither wie in einem Zeitraffer mehrere Erinnerungswellen entladen haben, über die zahlreiche, teilweise lange verschüttete Gedächtnisse reaktiviert und damit scheinbar überlebte Konflikte wiederbelebt worden sind. Der nachfolgende politische Streit um die jeweils legitimen, genauer: die staatlich sanktionierten "kollektiven Gedächtnisse" nationaler Erinnerungskulturen war damit vorprogrammiert. Es darf daher auch nicht verwundern, dass die erinnerungspolitischen Konflikte gerade in den sogenannten Transformationsstaaten besonders heftig ausgetragen worden sind. Auch der äußerste Westen Europas blieb von diesen Konflikten keineswegs ausgespart, wurde doch in Spanien nach dem Untergang der Franco-Diktatur Mitte der 1970er Jahre das öffentliche Erinnern an diese Zeit zunächst mit einem Schweigegebot belegt, bevor im Laufe der 1990er Jahren heftige geschichtspolitische Auseinandersetzungen folgten, die bis heute anhalten. Gleichermaßen fallen bereits seit vielen Jahren die Pendelausschläge der vergangenheitspolitischen Diskussionen in Italien im internationalen Vergleich relativ stark aus, und auch die Lage im vereinten Deutschland zeigt an, dass die erinnerungskulturellen Positionierungen verschiedener sozialer Gruppen erheblich voneinander abweichen können.

Alle diese Debatten werden in den kommenden Jahren schon allein deswegen immer wieder aufflammen, weil die massiven menschlichen und materiellen Verluste im Gefolge der Vernichtungsfeldzüge der deutschen Truppen und ihrer Verbündeten zwischen 1939 und 1945 auch in der Zukunft Forderungen nach Wiedergutmachungen und Reparationen aufwerfen werden.

Das erinnerungskulturelle Erbe des europäischen Kolonialismus

Mittlerweile ziehen die entsprechenden Debatten noch viel weitere Kreise, denn seit einigen Jahren ist in vielen Ländern Europas ein heftiger Streit über den "richtigen" Umgang mit dem düsteren Erbe des europäischen Kolonialismus ausgebrochen. In diesem Zusammenhang sprechen verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von direkten Verbindungslinien – solche personeller, funktionaler oder auch diskursiver Natur – zwischen kolonialem Rassismus und Holocaust. In Deutschland ist in dieser Hinsicht vor allem der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer mit der These direkter Verbindungen "von Windhuk nach Auschwitz" hervorgetreten. Denn sowohl der europäische Kolonialismus als auch die nationalsozialistische Expansions- und Mordpolitik beruhten auf Konzepten wie "Rasse" und "Raum", wie Zimmerer betont. Diese Annahme hat jedoch ebenso wie der Vorschlag des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg, Sklaverei, europäische Kolonialherrschaft und den Holocaust sowie andere Massenverbrechen als Teil einer europäischen Gewaltgeschichte zusammenzudenken, ohne deren jeweilige Besonderheiten zu relativieren oder zu verharmlosen, teilweise scharfe Kritik auf sich gezogen. Im Kern richten sich die Einwände gegen das Konzept einer "multidirektionalen Erinnerung", weil es eine Gleichsetzung von kolonialer Bevölkerungspolitik der europäischen Mächte und der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden behaupte. Die Rede von einer "kolonialen Dimension" des Holocaust verschleiere sogar wesentliche Ursachengeflechte und Handlungsmuster des Massenmords an den europäischen Juden, argumentierte die Historikerin Ulrike Jureit überzeugend. Der Kernunterschied liege darin begründet, dass die nationalsozialistische Expansions- und Besatzungspolitik die rassische Homogenisierung der eroberten Gebiete erreichen wollte, was die vollständige Vernichtung der europäischen Juden voraussetzte. Dagegen hätten die europäischen Kolonialmächte gegenüber indigenen Bevölkerungen außerhalb Europas ein auf Heterogenität beruhendes "bevölkerungspolitisches Ordnungskonzept" verfolgt, ungeachtet "gezielter Vernichtungspolitiken" im Einzelnen.

Die teils hoch polemisch geführten Debatten, die den innereuropäischen Rassismus in Gestalt des Antislawismus meist vollständig ausblenden, spiegeln sich aktuell auf dem politischen Feld in den Verhandlungen über eventuelle Wiedergutmachungen. Dabei geht es nicht nur um die jüngst von polnischer Seite erneuerten Forderungen nach Reparationen, sondern aktuell verhandelt die Bundesregierung mit Vertretern aus Namibia über die Frage, ob, in welcher Höhe und an wen die deutsche Seite Wiedergutmachungen für den deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama (1904–08) leisten solle. In diesem Zusammenhang zeigt sich jedoch, dass nicht nur bei Fragen der finanziellen Wiedergutmachung, sondern auch bei allen Projekten zur Restitution von afrikanischer "Beutekunst" die Erwartungen in den opferzentrierten Erinnerungskulturen Europas in einem merklichen Spannungsverhältnis zur Empfängerseite stehen. Alle diese Debatten werden – das ist bereits jetzt vorauszusehen – die Erinnerungskulturen in Europa noch auf Jahre beschäftigen und darüber den Fokus von innereuropäischen Belangen stärker nach außen wenden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michael Martens, Überfall auf Griechenland. Der lange Schatten des Krieges, 6.4.2021, Externer Link: http://www.faz.net/-17279413; Hagen Fleischer, Vergangenheitspolitik und Erinnerung. Die deutsche Okkupation Griechenlands im Gedächtnis beider Länder, in: Chryssoula Kambas/Mariliza Mētsu (Hrsg.), Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg: Griechische und deutsche Erinnerungskultur, Köln 2015, S. 31–54.

  2. Vgl. Ulf Brunnbauer, Aufrechnungen von Frustrationen. Griechische Reparationsforderungen an Deutschland vor dem Hintergrund der Schuldenkrise,1.7.2015, Externer Link: https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/aufrechnungen-von-frustrationen.

  3. Vgl. Christoph Cornelißen/Arndt Weinrich (Hrsg.), Writing the Great War. The Historiography of World War I from 1918 to the Present, New York 2021.

  4. Vgl. Jörg Echternkamp/Stefan Martens (Hrsg.), Experience and Memory. The Second World War in Europe, New York 2010; Kerstin von Lingen (Hrsg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis, Paderborn 2009.

  5. Vgl. Wolfram von Scheliha, Der Pakt und seine Fälscher. Der geschichtspolitische Machtkampf in Russland zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, in: Anna Kaminsky et al. (Hrsg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011, S. 175–198, hier S. 178.

  6. Vgl. José Brunner et al. (Hrsg.), Die Globalisierung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik, Göttingen 2013.

  7. Vgl. Frank Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von "Holocaust" zu "Der Untergang", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/2007, S. 1–32.

  8. Vgl. Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2021.

  9. Vgl. Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt/M. 2003.

  10. Vgl. Henri Rousso, Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, in: Zeithistorische Forschungen 1/2004, S. 363–378.

  11. Vgl. Reinhart Koselleck, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 21–32.

  12. Vgl. Hermann Lübbe, Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual, Berlin 2000.

  13. Vgl. Micha Brumlik/Karol Sauerland (Hrsg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa, Frankfurt/M. 2010.

  14. Vgl. Ulf Brunnbauer/Stefan Troebst (Hrsg.), Zwischen Amnesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa, Wien 2007.

  15. Vgl. Mischa Gabowitsch/Cordula Gdaniec/Ekaterina Makhotina (Hrsg.), Kriegsgedenken als Event. Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, Paderborn 2017.

  16. Vgl. Thomas Sandkühler, Das Fußvolk der "Endlösung". Nichtdeutsche Täter und europäische Dimension des Völkermords, Darmstadt 2020; Markus Krzoska/Paweł Zajas, Deutsch-polnische Geschichte. 1945 bis heute, Darmstadt 2021.

  17. Grundlegend dazu Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2010. Vgl. auch Ulrich Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt/M. 1998.

  18. International Holocaust Remembrance Alliance, Die Erklärung von Stockholm, 28.1.2000, Externer Link: https://ihra2020.diplo.de/ihra-de/-/2308844.

  19. Vgl. Harald Schmid, Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als "Holocaustgedenktag" in Europa, in: Jan Eckel/Claudia Moisel (Hrsg.), Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 174–202.

  20. Vgl. Martin Sabrow, Abschied von der Aufklärung? Über das Erlösungsversprechen unserer Erinnerungskultur, in: Merkur Jg. 71/2017, S. 5–16.

  21. Vgl. Gavriel D. Rosenfeld, Hi Hitler! Der Nationalsozialismus in der Populärkultur, Darmstadt 2021.

  22. Vgl. Konrad H. Jarausch/Thomas Lindenberger: Contours of a Critical History of Contemporary Europe. A Transnational Agenda, in: dies. (Hrsg.), Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York 2007, S. 1–20.

  23. Aleida Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur, Wien 2012; Claus Leggewie, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.

  24. Vgl. Andreas Fickers, Kompromissgeschichte, serviert auf dem "Tablet". Das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel, in: Zeithistorische Forschungen 15/2018, S. 173–183.

  25. Vgl. Stefan Troebst (Hrsg.), Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010.

  26. Vgl. Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.), Aufarbeitung der Diktatur. Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009.

  27. Vgl. Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009 (Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021). Statt zahlreicher Nachweise der Kritik siehe hier nur: Katharina Stengel, Rezension, in: Externer Link: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95854. Zur Kritik an den Thesen Jürgen Zimmerers vgl. zuletzt Jonas Kreienbaum, Koloniale Ursprünge? Zur Debatte um mögliche Wege von Windhuk nach Auschwitz, in: APuZ 40–41/2021, S. 14–19, sowie Ulrike Jureit, Vereinfacher am Werk, 12.7.2021, Externer Link: http://www.faz.net/-17432582.

  28. Vgl. Friederike Haupt, Unrecht an Nama und Herero. Deutschland will Völkermord "ohne Schonung und Beschönigung" benennen, 28.5.2021, Externer Link: http://www.faz.net/-17362018; Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München 20212.

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ist Professor für Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt Geschichte Europas im 20. Jahrhundert an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. E-Mail Link: cornelissen@em.uni-frankfurt.de