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Grenzen und Identitäten im Wechselspiel nach 1989/91 | bpb.de

Grenzen und Identitäten im Wechselspiel nach 1989/91

Gwendolyn Sasse

/ 17 Minuten zu lesen

Der Begriff der Grenze ist untrennbar mit den Entwicklungen von 1989 und 1991 verbunden. Der Beitrag nähert sich den Nachwirkungen dieses Schlüsselmoments als Trias von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen.

1989 und 1991 – der Mauerfall und der Zusammenbruch der Sowjetunion – markieren das Ende des sozialistischen Systems in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion. Diese Daten stehen für die Hoffnungen – und im Rückblick auch für Enttäuschungen – auf Neuanfänge auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene. Nach etwas mehr als drei Jahrzehnten ordnet sich dieser historische Moment in einen größeren Zusammenhang ein. Das Ende des sozialistischen Systems und der Sowjetunion begann lange vor 1989/91, und das imperiale Erbe wirkt bis heute nach.

Der Begriff der Grenze ist untrennbar mit den Entwicklungen von 1989 und 1991 verbunden. Die Maueröffnung 1989 ist das Symbol schlechthin für das Durchbrechen einer physischen und systemischen Grenze. Die Öffnung dieser in Beton gegossenen, gewaltsam kontrollierten Grenze beschleunigte den Zerfall der Sowjetunion und die damit einhergehende postimperiale Neuordnung auf der Grundlage unabhängiger Nationalstaaten.

Dieser Beitrag nähert sich den Nachwirkungen des Schlüsselmoments 1989/91 als Trias von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen. Die Fokussierung auf Prozesshaftigkeit nimmt dem Grenzbegriff seine Aura der Statik und Irreversibilität. Diese Perspektive umfasst verschiedene Akteure an konkreten Orten und gibt damit den Erfahrungen, Ansichten und Identitäten der Bevölkerung mehr Raum, als es in strukturalistischen oder elitenorientierten Erklärungsansätzen der Transformationsforschung üblich ist. In ihrer Definition als "Orte" (places) richten Grenzen den Blick auf die Erfahrungen, Praktiken und Meinungen der in Grenzgebieten lebenden und durch sie geprägten Bevölkerung. So wird zum Beispiel die Wahrnehmung rechtlicher und alltäglicher Grenzregime durch eine neue Art der Grenzziehung durch die EU-Osterweiterung auf lokaler Ebene in den östlichen Nachbarstaaten der EU greifbar. Diese führte nach einer Phase der Grenzöffnungen zu neuen Mobilitätseinschränkungen und Anpassungen sowohl im Alltag als auch auf der politischen Ebene, so zum Beispiel entlang der Westgrenze der Ukraine zu Polen, Ungarn, der Slowakei und Rumänien.

Grenzen definieren oftmals umstrittene Regionen, in denen historisch gewachsene oder gegenwärtige politische Ansprüche und Projekte aufeinanderprallen. Viele Grenzen sind aus Kriegen, Okkupation oder Unabhängigkeitsbestrebungen hervorgegangen. Der Soziologe Steffen Mau hat Grenzen kürzlich als "Sortiermaschinen" bezeichnet und dabei auf das Paradox hingewiesen, dass die Bedeutung von (ex)territorialen Grenzen und Grenzkontrollen im Zuge der Globalisierung zu- und nicht abnimmt und dabei eine Eigendynamik entfaltet.

Das multi- und interdisziplinäre Feld der Grenzforschung hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr dynamisch entwickelt. Hier knüpft dieser Beitrag an und nimmt die Verknüpfung von Grenzen und Identitäten in den Blick. Die Border Studies beruhen in erster Linie auf geografischen und ethnografischen Ansätzen, mit denen Grenzen "von unten" betrachtet werden, das heißt, im Vordergrund stehen die Praktiken, Erfahrungen und Einstellungen derjenigen, für die die Grenzen zum Lebensalltag gehören. Von den metaphorischen "Linien im Sand" re-orientiert sich die Forschung zu den facettenreichen Grenzpraktiken von staatlichen und insbesondere nicht-staatlichen Akteuren. Auch Hinterlassenschaften in der Form von Phantomgrenzen, die infrastrukturell, mental oder elektoral nachwirken, gehören zu diesem Forschungsansatz.

In der nachfolgenden Darstellung liegt der Fokus auf den mit gewaltsamen Konflikten verbundenen Grenzziehungen und dem Wechselspiel von Grenzen und Identitäten im postsowjetischen Raum.

Konflikte und De-facto-Staaten

Der Desintegrationsprozess der auf dem Papier als Föderation verfassten Sowjetunion führte zu einer Reihe von gewaltsamen Territorialkonflikten. Die ersten Konflikte waren unmittelbar mit der Auflösung der Sowjetunion und der nationalen Politik der Nachfolgestaaten verknüpft (Nagorny-Karabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien), in einigen Fällen kam es zu einem zweiten Konfliktzyklus (Abchasien und Südossetien 2008 und Nagorny-Karabach 2020). Der gewaltsame Konflikt in der Ostukraine begann erst 2014, ist aber ebenfalls eng mit den Hinterlassenschaften der Sowjetunion verknüpft. Neben wirtschaftlichen und infrastrukturellen Verflechtungen haben sich vor allem politische Ansprüche und Denkmuster des ehemaligen imperialen Zentrums erhalten. Die Nicht-Anerkennung der ukrainischen staatlichen Unabhängigkeit, die in der Rhetorik vom "slawischen Brudervolk" zum Ausdruck kommt, zieht sich durch die Reden und die gesamte Politik des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin.

Insgesamt wird der Zusammenbruch der Sowjetunion im Vergleich mit den mit dem Zerfall Jugoslawiens verknüpften Kriegen oft als erstaunlich friedlich dargestellt. Dieses Bild greift jedoch zu kurz. Allein der Krieg in der Ostukraine hat bisher etwa 14000 Menschen das Leben gekostet; mindestens 1,5 Millionen Menschen aus dem Donbass sind zu Binnenflüchtlingen geworden, weitere etwa 1 Million sind aus dem Donbass nach Russland geflüchtet. Im Abchasienkonflikt starben bis 1993 über 15000 Menschen, und etwa 200000 Georgier*innen flohen beziehungsweise wurden vertrieben. In erneuten gewaltsamen Auseinandersetzungen im Russisch-Georgischen Krieg 2008 starben etwa 1000 weitere Menschen; über 100000 flohen. In Transnistrien forderte der kurze gewaltsame Konflikt 1992 etwa 1000 Menschenleben. Im Krieg um Nagorny-Karabach, der mehrheitlich armenischen Enklave in Aserbaidschan, die ab 1988 versuchte, sich von Aserbaidschan loszusagen, kamen in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen 1991 und 1994 etwa 30000 Menschen ums Leben, und Hunderttausende mussten fliehen. Der erneute Konflikt 2020 brachte weitere 6000 bis 7000 Opfer mit sich. Das Ausmaß an Gewalt und der Effekt auf Wahrnehmungen und Identitäten sind somit über einen längeren Zeitraum zu berücksichtigen.

In der sowjetischen Praxis waren Grenzziehungen und Zwangsumsiedlungen ein wichtiges Mittel der imperialen Kontrolle von Vielfalt, aber auch Willkür prägte die internen Grenzen und die abgestuften Autonomie-Regelungen innerhalb der 15 Sowjetrepubliken (die nächsthöhere Ebene war die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik, ASSR, innerhalb einer Sowjetrepublik). Dem komplexen hierarchischen System der in der sowjetischen Verfassung aufgeführten Autonomierechte, zum Teil verbunden mit Zugeständnissen in der Sprachenpolitik oder einer Überrepräsentanz nationaler Minderheiten in den politischen Institutionen, war in der praktischen Umsetzung ein enger Rahmen gesetzt. Staatliche Institutionen waren den Strukturen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion untergeordnet. Dennoch boten diese formellen Rechte auf verschiedenen Ebenen des Systems institutionelle Anknüpfungspunkte, um politische Ansprüche und Identitäten im Reformprozess der 1980er und 1990er Jahre zu formulieren und zu mobilisieren.

Autonomie als Mittel der Eindämmung von Konfliktpotenzial beziehungsweise Konfliktmanagement wird in der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung nach wie vor kontrovers diskutiert. Die sowjetischen Autonomien per se waren nicht die direkte Ursache der ethnoterritorialen Konflikte in den frühen 1990er Jahren. Vielmehr waren es die Versuche, diese genau zu dem Zeitpunkt abzuschaffen, als formal bestehende Rechte auf verschiedenen politischen Ebenen aktiv eingefordert wurden. Das sowjetische System der Autonomien, ein integraler Bestandteil der imperialen Strategie des divide et impera, entwickelte sich somit von einem je nach Einzelfall stabilisierenden beziehungsweise unbedeutenden institutionellen Rahmen zu Zeiten der Sowjetunion zu einem signifikanten Faktor im Desintegrationsprozess und in der Eskalationsspirale in Transnistrien (Moldau), Abchasien und Südossetien (Georgien). Diese Richtung in der Kausalitätskette hat bisher durch eine Fokussierung auf Autonomie als ein opportunes Mobilisierungsinstrument von Eliten nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten. Detaillierte Fallanalysen zeigen jedoch, wie institutionelle Mechanismen Identitäten prägen und Kristallisationspunkte für Mobilisierung bieten, wenn – so die Wahrnehmung – gegen bereits bestehende Institutionen, Normen oder Möglichkeiten verstoßen wird.

Bis heute ist keiner dieser Territorialkonflikte aus den 1980er und 1990er Jahren gelöst beziehungsweise beständig durch interne oder externe Akteure reguliert worden. Der im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs weit verbreitete Begriff der "eingefrorenen Konflikte" vermag die Realität dieser Konflikte nicht abzubilden. Der Begriff passt nicht zu einem dynamischen Verständnis von Grenzen und beschreibt eher den Wunschgedanken internationaler Akteure, die den Konflikt de-eskalieren oder beenden wollen. Die suggerierte Stabilität ist längst widerlegt worden: Gewalt mag sich für einen gewissen Zeitraum regulieren oder eindämmen lassen, doch die Möglichkeit einer erneuten Eskalation ist stets gegeben, wie etwa 2008 in Georgien und 2020 in Nagorny-Karabach. Auch ohne erneute gewaltsame Auseinandersetzungen verändern sich die lokalen Dynamiken der Konflikte.

Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wird der Begriff der "eingefrorenen Konflikte" mit Bezug auf Nagorny-Karabach, Abchasien, Südossetien und Transnistrien zunehmend durch den Begriff der "De-facto-Staaten" ersetzt. Unter diesen Begriff werden staatsähnliche Gebilde gefasst, die das Resultat von Sezession, dem teilweisen oder vollständigen Kontrollverlust durch den Mutterstaat beziehungsweise durch Abhängigkeit von einem anderen, als Patron fungierenden Staat sind. De-facto-Staaten verfügen zumindest in Teilen über ein Gebiet, ein Volk und staatliche Institutionen, doch fehlt ihnen die mehrheitliche internationale Anerkennung als Staat.

Wie die Beispiele in Osteuropa zeigen, sind De-facto-Staaten keine temporäre oder homogene Erscheinung. Sie sind auch mehr als nur politische Instrumente geopolitischer Interessen. Die Resilienz von De-Facto-Staaten erhält allmählich in sozialwissenschaftlichen Debatten mehr Aufmerksamkeit. Forschung zu De-facto-Staaten stellt Wissenschaftler*innen vor zahlreiche Herausforderungen – vom erschwerten Zugang zum jeweiligen Territorium bis hin zur Erhebung empirischer Daten. Nach wie vor ist zu wenig bekannt über die Erfahrungen und Einstellungen der Bevölkerung der osteuropäischen De-Facto-Staaten. Die wenigen existierenden systematischen, mit lokalen Partnern umgesetzten Umfragen zeigen neben Unterschieden zwischen den einzelnen Fällen eine vergleichbare wachsende lokale Legitimität der Regime auf.

Mit dem seit 2014 andauernden Krieg in der Ostukraine sind zwei De-facto-Staaten hinzugekommen: die "Volksrepublik Donezk" und die "Volksrepublik Luhansk" – beide von lokalen Separatisten mit militärischer und finanzieller Unterstützung Russlands errichtet und erhalten. Anhand der Ukraine samt ihrer internen Diversität lassen sich die postimperialen Herausforderungen und die langfristigeren Nachwirkungen des sowjetischen institutionellen und mentalen Erbes gut veranschaulichen.

Ukraine: Krim und Ostukraine

Anders als in den gewaltsamen Konflikten, die aus der Mobilisierung gegen die Abschwächung oder Abschaffung sowjetischer Autonomien im Kontext einer neuen nationalstaatlichen Politik hervorgingen, war die Ausgangslage auf der Krim eine andere: Um lokale Autonomiebestrebungen einzubinden, hatte der Oberste Sowjet der Ukraine noch 1991 das Prinzip einer regionalen Autonomie innerhalb der Ukrainischen Sowjetrepublik gebilligt. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine bestand die Herausforderung darin, diese institutionelle Hülse als direkte Hinterlassenschaft aus der späten Sowjetzeit mit Inhalt zu füllen. Eine interne institutionelle Grenzziehung, die Flexibilität bei der Ausgestaltung zuließ, erwies sich als konflikthemmende Anreizstruktur für unterschiedliche politische Kräfte und ihre Vorstellungen für einen angemessenen Status für die Region.

Die Krim, die erst 1954 durch eine sowjetische Grenzverschiebung von der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zur Ukrainischen Sowjetrepublik transferiert worden war, wurde nach 1991 zur ersten großen territorialen Herausforderung für den jungen ukrainischen Staat, der in den von der Sowjetunion geprägten Grenzen zum ersten Mal in seiner Geschichte seine Unabhängigkeit ausgestalten konnte. Das Konfliktpotenzial bestand aus vier Dimensionen: erstens einem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine (dieser Konflikt wurde in zeitgenössischen Analysen und Kommentaren besonders betont), zweitens einem intraregionalen Konflikt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen auf der Krim, drittens einem gesellschaftlichen Konflikt in Verbindung mit der Integration der Krimtataren und viertens einem politischen Konflikt zwischen dem Zentrum Kiew und der Krim als Peripherie im neuen Staatsgefüge.

Letztendlich wurde die Krim in der frühen postsowjetischen Phase zu einem Paradebeispiel für das Management von Konfliktpotenzial und der Anerkennung regionaler Identitäten. Eine Schlüsselrolle kam bei diesem Konfliktmanagement den Verhandlungen über einen Autonomiestatus der Krim zu. Sowohl auf der Krim als auch im Zusammenspiel zwischen den politischen Institutionen auf nationaler und regionaler Ebene wurden von 1991 bis 1998 das Prinzip und die Definition der Autonomie im Verfassungsprozess verhandelt. Die "Autonome Republik der Krim" (mit separatem Status für die Stadt Sewastopol) wurde in der ukrainischen Verfassung trotz der Definition eines unitären Staates verankert (Art. 10) und in der Krim-Verfassung von 1998 im Detail ausgeführt.

Dieser Kompromiss unterstreicht die Bedeutung interner Grenzziehungen bei der Anerkennung von Diversität im Staat. Die 1998 in der ersten von Kiew akzeptierten Krim-Verfassung definierten Autonomierechte sind begrenzt – beispielsweise die Festlegung von drei offiziellen Sprachen (Ukrainisch, Russisch, Krimtatarisch) und die Möglichkeit, lokal erhobene Steuern einzubehalten. Auch die Symbolik einer verfassungsrechtlichen Autonomie ist ein wichtiges Element beim Management von Konfliktpotenzial. In der Konfliktforschung werden häufig Fragen des institutionellen Designs als Mittel der Konfliktprävention, Konfliktresolution oder Konflikttransformation hervorgehoben. Auf der Krim war es weniger das finale institutionelle Format der Krim-Autonomie, sondern die Verhandlung von institutionellen Optionen (institution-making), Interessen und Identitäten, die konfliktentschärfend wirkte.

Verschiedene Faktoren begünstigten die Verhandlungen über den Autonomiestatus, insbesondere die bewusst zurückhaltende Rolle Russlands unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin in Hinblick auf die Mobilisierung einer pro-russischen Bewegung (Republikanische Bewegung der Krim beziehungsweise Block Russland) auf der Krim, die internen Schwächen dieser Bewegung, die sich in der Bevölkerung vor allem durch ökonomische Inkompetenz rasch diskreditierte, der Pragmatismus der politischen Eliten in Kiew und die diffusen ethnopolitischen Trennlinien in einer multiethnisch, mehrheitlich russischsprachigen Region. Als Vermittler trug die OSZE, insbesondere der gerade neu institutionalisierte Hohe Kommissar für nationale Minderheiten, Max van der Stoel, dazu bei, den Rahmen für die Autonomieverhandlungen aktiv mitzugestalten.

Eine Reihe von Herausforderungen auf der Krim blieb vom ausgehandelten institutionellen Kompromiss über den Status der Region unberührt, insbesondere die Integration der etwa 250000 Krimtataren, die aus den Orten ihrer Deportation in Zentralasien und Russland auf die Krim zurückkehrten, und die wirtschaftliche Entwicklung der Halbinsel. Politisch wurde sie jedoch ein fester Bestandteil des Südostens der Ukraine. Separatistische Bewegungen gab es bis zur Krim-Annexion durch Russland 2014 nicht, auch wenn dies in der offiziellen russischen Staatsrhetorik heute anders dargestellt wird.

Die Annexion der Krim 2014 überraschte die Ukraine, einschließlich der Krimbevölkerung, die EU und die USA – und vermutlich ebenso die Bevölkerung Russlands. Sie verstieß gegen internationales Recht und schuf schnell neue Fakten vor Ort. Russische Sondereinheiten besetzten die Krim im Februar, gefolgt von einem regionalen "Referendum" über den Status der Krim am 16. März 2014. Die Abstimmung, die weder frei noch fair verlief, generierte nach russischen Angaben bei einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent eine Mehrheit von etwa 96 Prozent für die Wiedervereinigung mit Russland. Es folgten ein offizielles Beitrittsgesuch, eine programmatische Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin am 18. März verbunden mit der Unterzeichnung des Vertrags über den Beitritt der Krim und Sewastopols zur russischen Föderation und schließlich die Ratifizierung durch den Föderationsrat. Die USA und die EU reagierten mit Sanktionen. Die eigenmächtige Grenzziehung im Widerspruch zu völkerrechtlichen Normen und dem Budapester Abkommen von 1994, das der Ukraine ihre territoriale Integrität im Gegenzug für den Transfer der nach der Auflösung der Sowjetunion auf ihrem Territorium verbliebenen Nuklearwaffen nach Russland garantieren sollte, hat die internationalen Spannungen zwischen den USA und der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite stark erhöht. Die Krim-Annexion war sowohl für die EU und die USA als auch für Putins Regierung ein Novum, das ein koordiniertes Vorgehen durch die EU erforderte. Die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland sind seitdem auf einem Tiefpunkt.

In Russland stieg nach der Krim-Annexion die in Umfragen gemessene Beliebtheit von Präsident Putin auf über 80 Prozent. Die Krim-Annexion blieb kein Projekt der politischen Elite in Russland, sondern gab Russ*innen ein Gefühl von Identität und staatlicher Größe, ein Gefühl, das seit 1991 keinen konkreten Inhalt oder Auslöser mehr gehabt hatte. Die Zugehörigkeit der Krim zu Russland und die hohen Subventionen für die Region werden bis heute weder von den Eliten noch von der Gesellschaft hinterfragt. Es besteht ein übergreifender Krim-Konsens (Krym nash – Die Krim gehört uns.).

Das offizielle russische Narrativ spiegelt sich in Teilen auch in westlichen Diskursen. Die Behauptung, dass die Krim "schon immer russisch" gewesen sei, ist weit verbreitet, obwohl bei dieser These Jahrhunderte krimtatarischer Geschichte ausgeblendet werden. Im Rückblick gewinnt auch die russische Rechtfertigung des Einsatzes von Sondertruppen als eine Reaktion auf die angebliche Bedrohung der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim durch Kiew beziehungsweise auf eine regionale Mobilisierung für Unabhängigkeit oder einen Anschluss an Russland über russische Grenzen hinaus an Verbreitung, obwohl diese Mobilisierung mit Russlands Eingreifen forciert wurde. Die Euromaidan-Massenproteste und die Entscheidung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die Ukraine zu verlassen, schufen die Gelegenheit für Putin, einen sorgfältig ausgearbeiteten, vom Westen nicht antizipierten Plan umzusetzen.

Mit dem Krieg in der Ostukraine, der im April 2014 auf die Annexion der Krim folgte und bei dem Russland lokale Separatisten militärisch und finanziell unterstützt, werden weitere neue Grenzen in den ukrainischen Staat eingeschrieben. Die Ukraine hat die Kontrolle über einen Teil ihrer Grenze mit Russland verloren, und an der im Rahmen des Minsker Abkommens verhandelten Waffenstillstandslinie, die sogenannte Kontaktlinie, an der bisher kein vereinbarter Waffenstillstand von Dauer war, ist ein neues Grenzregime im Entstehen. Beide Grenzziehungen durch Russland unterminieren die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine und haben Implikationen für den Alltag, die Ansichten und Identitäten der lokalen Bevölkerung und der Bevölkerung der Ukraine insgesamt. Eine Waffenstillstandslinie, zunächst als temporäre Grenze gezogen, durchtrennt integrierte wirtschaftliche und soziale Netzwerke und bleibt in der Regel nicht nur eine temporäre Erscheinung. Grenzziehungen beziehen sich nicht nur auf territoriale Grenzen im engeren Sinne, sondern auch auf Praktiken wie die Ausgabe von russischen Pässen in den "Volksrepubliken", insbesondere vor der russischen Duma-Wahl, oder den Zugang zu russischen Medien und Mobilfunknetzen.

Die Möglichkeiten zur Überquerung der Kontaktlinie sind stark eingeschränkt; die Kontakte sind darüber hinaus sehr ungleich verteilt: Aus den "Volksrepubliken" kommen vor allem ältere Leute in die von Kiew kontrollierten Gebiete des Donbass, um ihre Rentenzahlungen zu kassieren. Ethnografische Feldforschung und soziologische Umfragedaten des Zentrums für Ostereuropa- und internationale Studien (ZOiS) 2019 zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Überquerungen der "Kontaktlinie" aus den "Volksrepubliken" und dem weiterhin stark ausgeprägten Verständnis der Zugehörigkeit zum ukrainischen Staat (mit oder ohne Sonderstatus). Insgesamt überquerte 2019 etwa die Hälfte der Befragten in den "Volksrepubliken" mit variabler Regelmäßigkeit die Kontaktlinie in Richtung der von Kiew kontrollierten Gebiete, davon etwa 14 Prozent einmal pro Monat und etwa 16 Prozent einmal in 6 Monaten. Überquerungen in die andere Richtung sind selten: Etwas über 90 Prozent der Befragten gaben 2019 an, nie auf die andere Seite der Donbass-Region zu gehen. Etwa 50 Prozent der Befragten in den "Volksrepubliken" gaben 2019 an, Verwandte oder Freunde auf der von Kiew kontrollierten Seite zu haben; anders herum waren es nur 31 Prozent (in beide Richtungen war der Trend zwischen 2016 und 2019 rückläufig).

Darüber hinaus stellt sich die Frage nach den Auswirkungen von Krieg auf Identitäten in der Ukraine insgesamt. Die historisch bedingte regionale und ethnolinguistische Vielfalt der Ukraine ist weder gleichbedeutend mit einer klaren Ost-West-Spaltung des Landes noch ein alltägliches Konfliktthema. 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist eine auf den Staat und die ukrainische Staatsbürgerschaft ausgerichtete Identität in der Vorstellung der Bevölkerung und der politischen Eliten fest verankert. Laut der vom ZOiS über den gesamtukrainischen KIIS Omnibus (ohne "Volksrepubliken" und die Krim) erhobenen repräsentativen Umfragedaten kristallisierte sich eine staatsbürgerliche Identität (civic identity) zwischen 2017 und 2018 als wichtigste persönliche Identität bei knapp unter 50 Prozent der Befragten heraus. In dieser Hinsicht hat die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass genau zum Gegenteil von Putins Intentionen geführt: Die Grenzziehungen durch Annexion und Krieg haben eine auf den gemeinsamen Staat ausgerichtete Identität gestärkt, anstatt intern polarisierend zu wirken.

Die Konfliktforschung geht in der Regel von einer Polarisierung von Identitäten im Krieg aus. Forschung zu Kroatien und Bosnien und Herzegowina hat jedoch auch gezeigt, dass Ethnonationalismus unter denen, die direkt betroffen sind, schwächer ausgeprägt sein kann. Aus der KIIS Omnibus-Umfrage ist zu ersehen, dass in einem Kriegskontext signifikante Identitätsverschiebungen innerhalb kurzer Zeit erfolgen können. Darüber hinaus war die Mehrheitsmeinung differenzierter und inklusiver als die offizielle Rhetorik des damaligen ukrainischen Präsidenten, der mit dem Slogan "Armee, Sprache, Glauben" 2019 in den Wahlkampf zog und haushoch gegen den Politneuling Wolodymyr Selenskyj mit seiner inklusiven Wahlrhetorik verlor.

Zusammenfassung und Ausblick

Eine Perspektive, die sich dem Wechselspiel zwischen Grenzen und Identitäten anhand von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen nähert, fokussiert sich auf konkrete Orte, Praktiken, Ansichten und Erinnerungen. Diese Erfahrungen prägen sowohl Konfliktpotenzial und Konfliktmanagement als auch die Identitäten der lokalen Bevölkerung. Der historische Moment 1989/91 ging mit physischen und mentalen Grenzöffnungen einher, doch in der Praxis blieben viele Hoffnungen der Bevölkerung in Grenzregionen unrealistisch beziehungsweise unerreicht. Neue Grenzziehungen, wie die EU-Osterweiterung und die mit ihr einhergehenden Grenzkontrollen an der EU-Außengrenze, schränkten die neu erworbene beziehungsweise erhoffte Mobilität und wirtschaftliche Möglichkeiten wieder ein. Der begrenzete, stark kontrollierte Zugang zu einem Kriegsgebiet kann einerseits Kontakte unterbinden und eine persönliche, wirtschaftliche oder politische Neuorientierung nach sich ziehen, andererseits gibt es trotz aller widrigen Umstände Grenzüberquerungen an Waffenstillstandslinien. Diese prägen Einstellungen und Identitäten und fungieren somit auch im übertragenen Sinne als Grenzüberschreitungen.

Die enge Verknüpfung von Grenzen mit Identität und Identitätswandel eröffnet ein weites empirisches Forschungsfeld. Bisher gibt es vergleichsweise wenige systematisch erhobene Daten aus Kriegs- oder Krisenkontexten, die überlappende Dynamiken von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen erfassen. Dies ist Teil einer breiteren, multidisziplinären Aufgabe an der Schnittstelle der Border Studies, Forschung zu Identitäten und Studien zu Konfliktpotenzial und Konfliktmanagement.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag baut in Teilen auf Diskussionen in der Research Unit Borders und dem Projekt "The Liberal Script in Ukraine’s Contested Border Regions" im Kontext des Exzellenzclusters "Contestations of the Liberal Script" (EXC 2055, Project-ID: 390715649) auf, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert wird.

  2. Vgl. Chris Rumford, Towards a Multiperspectival Study of Borders, in: Geopolitics 4/2012, S. 887–902.

  3. Vgl. James Anderson/Liam O’Dowd, Borders, Border Regions and Territoriality: Contradictory Meanings, Changing Significance, in: Regional Studies 7/1999, S. 593–604.

  4. Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert, München 2021.

  5. Für einen Überblick über dieses Forschungsfeld, einschließlich neuerer konzeptueller und methodologischer Überlegungen, vgl. Dominik Gerst/Maria Klessmann/Hannes Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden Baden 2021. Vgl. auch Vladimir Kolossov, Border Studies: Changing Perspectives and Theoretical Approaches, in: Geopolitics 4/2005, S. 606–632.

  6. Vgl. Noel Parker/Nick Vaughan-Williams, Critical Border Studies: Broadening and Deepening the "Lines in the Sand" Agenda, in: Geopolitics 4/2012, S. 727–733.

  7. Vgl. Béatrice Hirschhausen et al. (Hrsg.), Phantomgrenzen: Räume und Akteure in der Zeit neu denken, Göttingen 2015.

  8. Das Feld der Critical Geopolitics, das die geopolitischen Einstellungen der Bevölkerung als eine wichtige Dimension von Geopolitik und Internationalen Beziehungen versteht, verfolgt eine ähnliche Forschungsstrategie. Vgl. Gerard Toal, Understanding Critical Geopolitics: Geopolitics and Risk Society, in: Geopolitics 2–3/1999, S. 107–124.

  9. Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees, Ukraine: Operational Update, December 2016, Externer Link: http://reporting.unhcr.org/sites/default/files/UNHCR%20Ukraine%20Operational%20Update%20-%20December%202016.pdf; Ukrainisches Ministerium für Sozialpolitik, 2020, Externer Link: http://www.kmu.gov.ua/news/oblikovano-1-437-406-vnutrishno-peremishchenih-osib.

  10. Vgl. UNHCR, Ukraine: Operational Update, December 2016, Externer Link: http://reporting.unhcr.org/sites/default/files/UNHCR%20Ukraine%20Operational%20Update%20-%20December%202016.pdf.

  11. Vgl. Uppsala Conflict Data Program (UCDP), Conflict Encyclopedia, 20.12.2021, Externer Link: http://www.ucdp.uu.se; Norwegian Refugee Council, 20.12.2021, Externer Link: http://www.nrc.no/global-figures.

  12. Vgl. James Hughes/Gwendolyn Sasse (Hrsg.), Ethnicity and Territory in the Former Soviet Union: Regions in Conflict, London 2001, S. 239.

  13. Vgl. Svante Cornell, Autonomy as a Source of Conflict: Caucasian Conflicts in Theoretical Perspective, in: World Politics, 2/2002, S. 245–276.

  14. Vgl. Sabine Fischer (Hrsg.), Nicht eingefroren! Die ungelösten Konflikte um Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach im Lichte der Ukraine-Krise, SWP-Studie 2016/S 13, Juli 2016; Externer Link: http://www.swp-berlin.org/publikation/nicht-eingefroren-konflikte-im-postsowjetischen-raum.

  15. In der Völkerrechtsliteratur findet sich der Begriff des "de-facto Regimes". Vgl. Jochen Abr. Frowein, Das de Facto-Regime im Völkerrecht. Eine Untersuchung zur Rechtsstellung "nichtanerkannter Staaten" und ähnlicher Gebilde, Köln–Berlin 1968. Für eine Kontextualisierung vgl. Andreas Heinemann-Grüder, Post-sowjetische De-facto-Regime, 20.11.2020, Externer Link: http://www.laender-analysen.de/russland-analysen/394/RusslandAnalysen394.pdf; Nina Caspersen, Unrecognized States: The Struggle for Sovereignty in the Modern International System, Cambridge 2011; Rebecca Bryant/Mete Hatay, Sovereignty Suspended: Building the So-Called State, Philadelphia 2020.

  16. Zu den ersten Abhandlungen, die eine genauere Auseinandersetzung mit den postsowjetischen De-facto-Staaten einforderten, gehörte: Dov Lynch, Engaging Eurasia’s Separatist States: Unresolved Conflicts and De Facto States, Washington, D.C. 2004. Vgl. auch Mikhail Minakov/Gwendolyn Sasse/Daria Isachenko (Hrsg.), Post-Soviet Secessionism: Nation-Building and State-Failure after Communism, Stuttgart 2021.

  17. Vgl. John O’Loughlin/Vladimir Kolossov/Gerard Toal, Inside the Post-Soviet De Facto States: A Comparison of Attitudes in Abkhazia, Nagorny Karabakh, South Ossetia and Transnistria, in: Eurasian Geography and Economics 5/2014, S. 423–456; Vladimir Kolosov/Maria Zotova, "De-Facto Borders" as a Mirror of Sovereignty. The Case of the Post-Soviet Non-Recognized States, in: Historical Social Research 3/2021, S. 178–207.

  18. Vgl. Tatiana Zhurzhenko, Borderlands into Bordered Lands. Geopolitics of Identity in Post-Soviet Ukraine, New York 2014.

  19. Vgl. Gwendolyn Sasse, The Crimea Issue: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge MA 2007.

  20. Vgl. die detaillierte Chronik und Analyse der Putin-Rede unter Externer Link: https://crimea.dekoder.org/archipel.

  21. Vgl. Sam Greene/Graeme Robertson, Putin v. the People: The Perilous Politics of a Divided Russia, New Haven 2019.

  22. Vgl. Sabine von Löwis/Gwendolyn Sasse, A Border Regime in the Making? The Case of the Contact Line in Ukraine, in: Historical Social Research 3/2021, S. 208–244.

  23. Für die methodologischen Details und die Daten aus der ZOiS-Umfrage im Donbass vgl. ebd., S. 221.

  24. Vgl. ebd., S. 223.

  25. Vgl. Gwendolyn Sasse, Public Perceptions in Flux: Identities, War and Transnational Linkages in Ukraine, ZOiS Report 4/2018, Externer Link: http://www.zois-berlin.de/publikationen/public-perceptions-in-flux-identities-war-and-transnational-linkages-in-ukraine; dies./Alice Lackner, War and Identity: The Case of the Donbas in Ukraine, in: Post-Soviet Affairs 2–3/2018, S. 139–157; Volodymyr Kulyk, Shedding Russianness, Recasting Ukrainianness: The Post-Euromaidan Dynamics of Ethnonational Identification in Ukraine, in: Post-Soviet Affairs 2–3/2018, S. 119–138.

  26. KIIS Omnibus ist eine regelmäßige Bevölkerungsumfrage des Kiewer International Institute of Sociology.

  27. Vgl. Sasse (Anm. 23), S. 4.

  28. Vgl. Karin Dyrstad, After Ethnic Civil War: Ethno-Nationalism in the Western Balkans, in: Journal of Peace Research 6/2012, S. 817–831; Garth M. Massey et al., Nationalism, Liberalism, and Liberal Nationalism in Post-War Croatia, in: Nations and Nationalism 1/2003, S. 55–82; Damir Sekulic, Civic and Ethnic Identity: The Case of Croatia. Ethnic and Racial Studies 3/2014, S. 215–243.

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ist wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail Link: gwendolyn.sasse@zois-berlin.de