"Perestroika" ist im heutigen Russland ein Reizwort. Angesprochen auf Michail Gorbatschows Politik der Umgestaltung der Jahre 1985 bis 1991 (perestroit’: umbauen, umgestalten, neu organisieren) reagieren die meisten russischen Bürger*innen mit wütenden Auslassungen. Gorbatschow habe verantwortungslos und ohne Notwendigkeit das sowjetische Imperium zum Einsturz gebracht. Aber es gibt auch andere Stimmen: Sie betonen die optimistische Aufbruchsstimmung der Perestroika-Zeit, die Durchsetzung lang ersehnter bürgerlicher Freiheitsrechte, die Öffnung des Landes nach außen, die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit. Diese positiven Assoziationen sind vor allem mit dem anderen Schlagwort der Zeit verbunden, mit Glasnost (glasnost’: Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit).
Beide Begriffe haben Karriere gemacht und gehören sicherlich zu den im Ausland bekanntesten russischen Wörtern. Sie bezeichnen die Reformphase in der Sowjetunion, aber ebenso sind sie begrifflich mit dem gesamten Umbruch in Ostmitteleuropa verbunden, mit dem Ende des Kalten Krieges und der Neuordnung Europas nach 1989. Insofern wecken die beiden Begriffe in Westeuropa, in den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts und in manchen der früheren Sowjetrepubliken positive Assoziationen. Zur umstrittenen Bewertung der Perestroika vor allem in Russland trägt bei, dass der Begriff inzwischen umgangssprachlich längst auf die 1990er Jahre ausgedehnt worden ist und damit auch die chaotischen Umbruchprozesse, die in die Regierungszeit Boris Jelzins fallen, unter ihm subsummiert werden.
Dieser Forschungsbericht konzentriert sich auf die Jahre 1985 bis 1991 und reflektiert, welche Zugänge bisher die Erforschung der Perestroika dominiert und das Verständnis von diesem bedeutenden Zeitabschnitt geprägt haben. Zunächst werden die wichtigsten Etappen und Themen der Perestroika knapp skizziert und der derzeitige Forschungsstand referiert.
Abriss: Ursachen und Etappen der Reformpolitik
Michail Gorbatschow wurde am 11. März 1985 im Alter von 54 Jahren zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt und erlöste das Land von der Herrschaft der alten Männer.
Im Frühjahr 1989 fanden die Wahlen zu einem Kongress der Volksdeputierten statt, die den Durchbruch für eine demokratische Entwicklung bedeuteten. Zunächst noch "von oben" gesteuerte Medienkampagnen gegen Missstände schufen Raum, immer offener über Probleme des politischen Systems zu sprechen. Dieser Prozess entfaltete eine ungeheure Dynamik und konnte bald nicht mehr kontrolliert oder gebremst werden. Umweltprobleme und der verantwortungslose Umgang mit ihnen – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war nur ein Beispiel dafür
Besonders in den kaukasischen und baltischen Republiken setzten sich Gruppen durch, die stärkere Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit von der UdSSR anstrebten. Es kam zu Unruhen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Nationalitäten, wie etwa zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Konflikt um die Enklave Nagorny-Karabach. Die Balten forderten die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und eine Erklärung über dessen Unrechtmäßigkeit. Schnell stellten die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen die Staatlichkeit der UdSSR insgesamt infrage.
Zu Beginn der Reformen herrschte Euphorie und die Illusion, die Zukunft brächte bürgerliche Freiheiten und westlichen Wohlstand und bewahre gleichzeitig die gewohnten Sicherheiten des Lebens im Sozialismus. Schon 1990 machte sich Enttäuschung breit. Die Versorgungslage verschlechterte sich dramatisch, und die Kriminalität stieg spürbar an. Die Popularität Gorbatschows in der Bevölkerung sank. Konservative Kräfte in der Kommunistischen Partei versuchten, den Reformprozess zu bremsen, und entschieden sich im August 1991 zu einem Putsch. Dieser scheiterte am Unvermögen der Putschisten, vor allem aber am Widerstand der demokratischen Kräfte und der russischen Regierung unter der Führung von Boris Jelzin.
In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft bemühte sich Gorbatschow um die Erneuerung des Unionsvertrages. Die Unabhängigkeitserklärungen eines Teils der sowjetischen Republiken und die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kamen dem allerdings zuvor. Am 25. Dezember wurde die rote Fahne der Sowjetunion im Kreml eingeholt und stattdessen die Trikolore des Nachfolgestaates Russland gehisst. Die Sowjetunion existierte nicht mehr. Das Gesellschaftsprojekt Kommunismus fand damit in Osteuropa ein Ende.
Perestroika als Finale oder Ouvertüre
Die historische Forschung zur Perestroika steht immer noch am Anfang und ist bei Weitem nicht so ausdifferenziert wie die entsprechende Forschung zur "Wende" in der DDR oder dem Umbruch in Ostmitteleuropa. Bisher ist sie stark geprägt vom Blick der zeitgenössischen politischen Beobachter*innen
Fragestellungen zur Perestroika gründen deshalb häufig auf dem Interesse an einem Problem, das zeitlich vorher oder nachher liegt. Wenn die Gorbatschow-Zeit als Endpunkt einer Entwicklung gesehen wird, stellen sich vor allem Fragen nach der Reformierbarkeit des Sozialismus sowjetischer Spielart, nach dem Ausmaß der Krise oder nach der Sprengkraft unterdrückter nationalistischer Tendenzen in den Sowjetrepubliken. Wer die Perestroika hingegen als Startpunkt für eine neue Entwicklung betrachtet, fragt, ob die demokratischen Kräfte in Russland und in vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu schwach waren, um die Rückkehr autoritärer Tendenzen zu verhindern.
Mit der Situation des heutigen Russlands vor Augen sucht man nach Erklärungen dafür, warum es nicht gelungen ist, eine zuverlässig funktionierende Rechtsstaatlichkeit zu realisieren. Es wird untersucht, warum die Privatisierung der Wirtschaft den Aufstieg von Oligarchen ermöglicht hat und weshalb Korruption zu einem Problem geworden ist, das sich offenbar kaum in den Griff bekommen lässt.
Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, rücken Vorgeschichte oder Folgen der Perestroika in den Mittelpunkt, nicht aber die Periode selbst. Sie kann in ihrer Bedeutung aber erst dann erschöpfend verstanden werden, wenn sie zunächst als eigenständige Periode und mit neuen Ansätzen erforscht wird. Dann erst lässt sich die Frage "Warum ist die Sowjetunion zusammengebrochen?" umformulieren in "Was ist 1991 zusammengebrochen (und was nicht)?" Mit dieser veränderten Fragestellung erschließen sich neue Perspektiven auch auf die Zeit nach 1991, weil neben den Brüchen die Kontinuitäten besser in den Blick genommen werden können.
Die bisher vorliegenden historischen Gesamtdarstellungen zur Gorbatschow-Zeit sind vor allem politik- und strukturhistorische Darstellungen, die die Rahmenbedingungen und Eckdaten dieses Zeitabschnitts systematisieren. Sie konzentrieren sich auf das unmittelbare politische Geschehen und das Handeln Gorbatschows, seiner Mitstreiter und Konkurrenten. Die inneren und äußeren wirtschaftlichen Faktoren werden erläutert: die außenpolitischen Beziehungen, die Nationalitätenkonflikte, der Bürokratismus, die sozialen Probleme, die Mängel des Wohlfahrtssystems, fehlende Rechtsstaatlichkeit, der Kampf um die Anerkennung der Menschenrechte und die Konflikte im Bereich der Kultur.
Der Grundtenor der zeitnah verfassten Untersuchungen lautet, dass das sowjetische System unter einem extremen Reformdruck stand und Maßnahmen unumgänglich waren. Je nach Standpunkt rücken Autor*innen die Kosten der Rüstungsindustrie, den fallenden Ölpreis oder die ineffektive Planwirtschaft in den Vordergrund.
Gegen eine Betrachtungsweise, die vom Wissen um das Ergebnis bestimmt ist, versuchten Stephen Kotkin und Alexei Yurchak anzuschreiben. Kotkin rekapituliert in seinem 2001 verfassten Essay "Armageddon Averted" die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie die Ambitionen Gorbatschows und kommt zu einer "Selbstmordthese".
Yurchak sucht einen anderen methodischen Zugang und löst sich von der Betrachtung der Reformpolitik, ihrer Voraussetzungen, Akteure und Grenzen. Er beschreibt in "Everything Was Forever, Until It Was No More" anhand von Briefwechseln und Interviews mit Mitgliedern der Jugendorganisation Komsomol, wie sich im Spätsozialismus der diskursive Raum veränderte und von den Menschen auf ihre Weise gedeutet wurde. Indem die Teilnahme an ritualisierten Handlungen wie Parteiversammlungen oder Demonstrationen am 1. Mai nur noch als performative Akte vollzogen wurden, verkam das System zur leeren Hülle.
Neue Zugänge und Perspektiven
Zukünftige Forschungen zur Perestroika sollten diesen Impuls aufnehmen. Nicht die großen historischen Synthesen sind angesichts des derzeitigen Forschungsstands gefragt, sondern Detailstudien, die neue Quellenbestände erschließen und Fragen aus anderen Perspektiven stellen. In den Mittelpunkt muss eine Gesellschaftsgeschichte im weitesten Verständnis rücken. Die Perestroika gilt heute als "Revolution von oben". Das ist hinsichtlich ihres Beginns eine zutreffende Bewertung, vernachlässigt aber, dass eine starke Dynamik "von unten" als Reaktion auf die Reformversuche folgte und den weiteren Prozess wesentlich mitbestimmte. Wir wissen bisher zu wenig darüber, wie sich die Mobilisierung der Bevölkerung im Einzelnen vollzog, wie der Alltag sich durch die Reformen veränderte und wie sich die Menschen an die neuen Lebensbedingungen anpassten beziehungsweise diese oft nur mit Mühe überlebten.
Es gibt erste Projekte, in denen mit einem biografischen Ansatz gearbeitet und danach gefragt wird, wie der rasante Wandel individuelle Lebensentwürfe veränderte.
Damit sind einige Forschungsfelder genannt, deren Bearbeitung helfen würde, die Perestroika in ihrer ganzen Vielfältigkeit als eine gesellschaftliche Umbruchphase zu verstehen. Sie war geprägt von der Spannung zwischen Krise und Aufbruch, Hoffnung und Enttäuschung, Beharrung und Neuanfang. Daraus bezog die Perestroika ihre ungeheure Energie und Sprengkraft.
Um neue Perspektiven zu gewinnen, müssen weitere Quellen zusätzlich zu den bisher genutzten erschlossen werden. Zu nennen ist das große Massiv von Druckschriften und Flugblättern, das noch ausgewertet werden kann.
Gerade in der Ausdehnung der Forschung auf die Regionen der ehemaligen Sowjetunion liegt eine Herausforderung. Noch sind regionale Zeitungen, in denen die speziellen Themen einer Stadt oder einer Region besprochen wurden, wenig analysiert worden. Ergänzend dazu lässt sich in den regionalen Archiven und auch in Museen Material gesellschaftlicher Initiativen, von Wirtschaftsbetrieben, Zeitungsredaktionen und Parteiorganisationen finden. Es ist von großem Erkenntnisgewinn, zu benennen, welche Themen an verschiedenen Orten des Landes für die Bevölkerung eine solche Dringlichkeit bekamen, dass sie das Potenzial hatten, die Menschen politisch zu mobilisieren. Damit wäre es möglich, sich von einer auf Moskau zentrierten Sicht zu lösen, die Vielfalt der Probleme, Hoffnungen und Ambitionen besser zu beschreiben und auch die Abspaltung der Sowjetrepubliken nicht nur von den Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit her zu verstehen.
Ein anderer Perspektivenwechsel, der nicht Krisen, Mängel und Brüche, sondern Beständigkeit, Bewahren und Kontinuitäten in den Mittelpunkt rückt, ist als Korrektiv zum etablierten Verständnis ebenfalls sinnvoll. Es ist nach den staatlichen Strukturen zu fragen, die durch die Reformen wenig betroffen waren, wie beispielsweise das Militär und die Sicherheitsorgane, aber auch Erziehungsinstitutionen wie Schule und Kindergarten. Die Betrachtung privater und öffentlicher Lebensbereiche oder Verhaltensweisen, die sich trotz äußeren Wandels wenig veränderten, wird helfen, die gesellschaftlichen Realitäten der Perestroika-Zeit besser auszuleuchten.
Einstellungen zur Perestroika
Bisher scheint es in Russland nur ein Buch zu geben, das die Aufbruchstimmung, die während der Perestroika herrschte, ausführlich dokumentiert und zeigt, wie sich aus einer "Revolution von oben" eine von "unten" entwickelte. Es handelt sich um einen wenig rezipierten, aber bemerkenswerten Band, den der Petersburger Zweig der Gesellschaft "Memorial" herausgegeben hat. Unter dem Titel "Das gesellschaftliche Leben Leningrads in den Jahren der Perestroika" stellten ehemalige Aktivist*innen der demokratischen Bewegung 2010 eine Chronologie zusammen, die sie mit Fotografien und Zeitzeugengesprächen ergänzten. Da bewusst Flugblätter und Interviews aus dem gesamten Spektrum der gesellschaftlich-politischen Bewegung gesammelt wurden, entsteht bei der Lektüre ein Eindruck von der Vielfalt der Erwartungen und der Gleichzeitigkeit, mit der verschiedenste Prozesse abliefen. Zugleich liest sich dieser Band wie ein politisches Bekenntnis zu Demokratie, Pluralismus und Meinungsfreiheit.