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Schwieriger Geburtstag | Türkei | bpb.de

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Schwieriger Geburtstag Hundert Jahre nach ihrer Gründung ist die Türkei ein gespaltenes Land

Susanne Güsten

/ 16 Minuten zu lesen

Zum hundertsten Jahrestag der Republik deutet sich kein politischer Kurswechsel in der Türkei an. Erdoğan hat das System auf seine Person zugeschnitten und trotz der verfehlten Wirtschaftspolitik weiß er weiterhin eine Mehrheit hinter sich.

Nach Feiern ist Ismet nicht zumute. „Ich war so sicher, dass die abgewählt werden“, sagt der Istanbuler Finanzfachmann über die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Ismet (Name geändert) ist 55, setzte bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei im Mai auf einen Sieg der Opposition und wurde wie fast jeder zweite Türke enttäuscht: Erdoğan siegte erneut und steht mindestens für fünf weitere Jahre an der Spitze des Staates. Für Wähler wie Ismet ist der anstehende hundertste Jahrestag der Republikgründung am 23. Oktober 2023 deshalb kein Freudentag – Erdoğan-Gegner wie er fühlen sich um ihr Land und ihre Identität betrogen.

Spaltung als Erfolgsrezept

Seit 20 Jahren bestimmt der heute 69-jährige Erdoğan die Geschicke der Türkei, seit 2003 als Ministerpräsident und seit 2014 als Staatsoberhaupt. Er hat das Land stärker verändert als alle türkischen Politiker vor ihm, mit Ausnahme von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der von 1923 bis zu seinem Tod 1938 Präsident war. In Erdoğans ersten Amtsjahren erlebte das Land einen vorher noch nie gesehenen Wirtschaftsaufschwung, der einer neuen Mittelschicht aus konservativ-muslimischen Türken zum Aufstieg verhalf. Unter seiner Regierung wurde die Türkei zur EU-Beitrittskandidatin und zum Mitglied der G20, der Gruppe der 20 größten Volkswirtschaften der Welt.

Eines schaffte Erdoğan jedoch nicht – und wahrscheinlich wollte er es auch nicht schaffen: Er hat die Risse in der türkischen Gesellschaft in seinen zwei Jahrzehnten an der Macht nicht gekittet, sondern weiter vertieft. Heute stehen sich Fromme und Laizisten, türkische und kurdische Nationalisten, Anhänger des Westens und Befürworter einer Ausrichtung nach Nahost und Zentralasien so unversöhnlich gegenüber wie nie zuvor. „Das ist nicht mehr die Türkei, die ich kenne“, sagt ein Musiker, der mit seiner Familie auswandern will.

In jedem Wahlkampf seit dem Regierungsantritt seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2002 nutzte Erdoğan diese Konflikte für sich. Auch bei den Wahlen im Mai 2023 hatte er mit der Spalter-Methode Erfolg. In seinen Wahlkampfreden verdammte er die Oppositionsparteien als Landesverräter, die mit kurdischen Separatisten zusammenarbeiten und von Homosexuellen und Transsexuellen gelenkt würden. Er und die AKP seien dagegen die Garanten der Einheit und der traditionellen Werte der türkischen Familie.

Erdbeben-Versagen und schlechte Wirtschaft

Erdoğans jüngster Wahlsieg – er erhielt in der Stichwahl für das Präsidentenamt 52,2 Prozent der Stimmen und damit deutlich mehr als sein Gegenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP mit 47,8 Prozent – war ein Paradebeispiel dafür, dass wirtschaftliche Rückschläge einem regierenden Politiker nicht automatisch zum Verhängnis werden müssen. Obwohl die Türkei, nicht zuletzt wegen Erdoğans Niedrigzinspolitik, unter hoher Inflation und einem rapiden Wertverlust der Türkischen Lira litt, konnte die Opposition ihn – in einem freilich insgesamt nicht fairen Wahlprozess – nicht besiegen.

Umfragen zeigten, dass sich AKP-Wähler von den schweren Wirtschaftsproblemen vor der Wahl im Mai nicht in ihrem Glauben an ihren Anführer erschüttern ließen. Özer Sencar, der Leiter des Meinungsforschungsinstituts Metropoll, schrieb auf Twitter, rund 90 Prozent der AKP-Wähler seien sicher, dass die Regierung die wirtschaftliche Krise überwinden werde. Obwohl 60 Prozent der Gesamtwählerschaft der Wirtschaftspolitik der Regierung nicht vertrauten, reichte Erdoğan die Treue seiner Basis zum Sieg, vor allem, weil die Opposition die Wähler nicht von ihren Ansätzen überzeugen konnte. Metropoll ermittelte, dass 53 Prozent aller Wähler der Opposition die Lösung der Wirtschaftsprobleme ebenfalls nicht zutrauten.

Auch das anfängliche Versagen der Regierung bei der Hilfe nach dem Erdbeben vom 6. Februar 2023, das in der Türkei mehr als 50000 Menschen tötete und elf Provinzen in Südanatolien verwüstete, kostete Erdoğan nur relativ wenige Stimmen.

Erdoğans Charisma war für den Wahlerfolg nicht unwichtig. Der Staatspräsident wird von seinen Anhängern vergöttert. Sie nennen ihn „reis" – „Chef“ – und verehren ihn, weil er die Türkei in den 2000er Jahren aus einer tiefen Wirtschaftskrise führte, das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst abschaffte und den politischen Einfluss der Militärs beendete. Auch versteht es Erdoğan selbst nach mehr als 20 Jahren an der Macht, sich als Mann aus dem Volk zu präsentieren.

Meister der Polarisierung

Erdoğan ist in der AKP unumstritten und kultiviert sein Image als strenger Landesvater, der die Probleme der einfachen Leute kennt. Er wuchs im Istanbuler Arbeiterviertel Kasımpaşa als Sohn kleiner Leute auf und erlebte, wie fromme Muslime unter der damaligen Herrschaft der Laizisten benachteiligt wurden. Diese Erfahrung prägt ihn bis in die Gegenwart und formt seine Überzeugung, dass sich die Türken unter seiner Führung immer wieder gegen mächtige Gegenspieler im In- und Ausland durchsetzen müssen.

Dabei hat sich Erdoğan eine pragmatische Beweglichkeit erhalten, die es ihm erlaubt, je nach Lage mit Kurden, Rechtsnationalisten, Islamisten, Militärs, der EU, arabischen Staaten oder Russland zusammenzuarbeiten. Derzeit bemüht er sich um ein Treffen mit dem syrischen Staatschef Baschar al-Assad, den er in den ersten Jahren des syrischen Bürgerkrieges mithilfe von Rebellengruppen stürzen wollte. Erdoğan setzt seine Frömmigkeit als Brücke zu seiner Anhängerschaft ein, ordnet seine religiösen Überzeugungen aber anderen Prioritäten unter, wenn es sein muss: „Ich würde selbst eine Moschee abreißen, um eine Straße zu bauen“, sagte er einmal.

Dieses Rezept verhalf Erdoğan zu spektakulären Erfolgen. Er gründete 2001 die AKP, die ein Jahr später die Regierung in Ankara übernahm und bis heute führt. Wirtschaftliche und politische Reformen ließen die Türkei international aufsteigen und bescherten den Bürgern einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand. Seine zunehmende Intoleranz – seit seinem Amtsantritt als Staatschef im Jahr 2014 hat die Justiz fast 200000 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Präsidentenbeleidigung eingeleitet – verschärfte jedoch das innenpolitische Klima. Nach dem Bruch seines Bündnisses mit der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen entging Erdoğan 2016 nur knapp einem Staatsstreich, in dessen Folge er den Druck auf Andersdenkende noch weiter verstärkte. Seit 2018 regiert er als Chef eines Präsidialsystems, das ihm weitreichende Machtbefugnisse ohne wirksame Kontrolle durch andere Institutionen sichert.

Hilfreiches Präsidialsystem

Erdoğan profitierte bei der Wahl zudem von strukturellen Vorteilen. So hat die AKP nach offiziellen Angaben rund elf Millionen Mitglieder und ist mit Abstand die stärkste politische Kraft in der Türkei. Das heißt, dass fast jeder Sechste der 64 Millionen Wähler des Landes Mitglied der Partei ist. Rechnet man die Familien der AKP-Mitglieder hinzu, verbreitert sich die Basis für die Regierungspartei noch weiter. Erdoğan verfügt damit über eine Stammwählerschaft, die für andere Parteien unerreichbar ist. Die zweitstärkste Kraft, die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP, hat knapp 1,4 Millionen Mitglieder. Alle anderen Parteien liegen unter der Millionengrenze.

Das türkische Präsidialsystem, das ganz auf Erdoğan zugeschnitten ist, machte es der Opposition zusätzlich schwer. Erdoğan hat die AKP zu einer Staatspartei gemacht. Ihre Gefolgsleute sitzen in Bürokratie, Justiz und Medien, was sich im Wahlkampf bemerkbar machte: Provinz- und Stadtverwaltungen stellten öffentliche Ressourcen wie Busse für AKP-Veranstaltungen zur Verfügung oder verpflichteten ihre Beamten und Angestellten, an AKP-Kundgebungen teilzunehmen.

Zudem profitiert Erdoğan von einem Großteil der türkischen Medien, weil viele Zeitungen und Fernsehsender im Besitz regierungsnaher Konzerne sind. Die öffentlichen Medien sind ohnehin auf Regierungslinie. Der auf dem Papier unabhängige staatliche Fernsehsender TRT widmete Erdoğan im April 2023 fast 33 Stunden Sendezeit – sein Herausforderer Kılıçdaroğlu kam auf 32 Minuten. Hohe Posten im Staatsapparat sind für Bewerber ohne Mitgliedschaft in der AKP oder enge Beziehungen zur Regierung kaum zu erreichen. Regierungsnahe Konzerne verdienen an öffentlichen Ausschreibungen.

Mutlose und zerstrittene Opposition

Trotz dieser Benachteiligungen waren viele Oppositionspolitiker und -wähler überzeugt, die Ära Erdoğan bei den Mai-Wahlen beenden zu können. Umso schwerer war der Schock für sie, als Erdoğan wieder siegte. Einen Neuanfang in den Reihen der Erdoğan-Gegner gab es jedoch nicht. Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu weigerte sich trotz seiner Niederlage, als Vorsitzender der CHP zurückzutreten. Auch die Vorsitzenden der anderen fünf Oppositionsparteien, die zusammen mit der CHP im Wahlkampf eine Allianz gebildet hatten, blieben auf ihren Posten. Führende Politiker aus diesem Sechs-Parteien-Bündnis deuteten an, dass der Block bei künftigen Wahlen nicht mehr gemeinsam antreten werde.

Innerparteiliche Gegner von Kılıçdaroğlu fordern einen Generationenwechsel in der CHP, die einst von Atatürk gegründet wurde und das Land in den ersten drei Jahrzehnten nach Gründung der Republik dominierte, aber seit 1979 nicht mehr an einer Regierung beteiligt war. Kılıçdaroğlus Kritiker werfen ihm vor, alle Wahlen in den vergangenen Jahren verloren und bei seiner Präsidentschaftskandidatur seinen persönlichen Ehrgeiz über politische Klugheit gestellt zu haben. Ekrem İmamoğlu, der CHP-Bürgermeister von Istanbul, mit seinen 52 Jahren mehr als 20 Jahre jünger als der 74-jährige Kılıçdaroğlu, wurde zum Anführer der Partei-Rebellen.

Erdoğan sieht İmamoğlu als potenziell gefährlichen Gegenspieler und setzte deshalb die regierungstreue Justiz auf ihn an, die drei Strafverfahren gegen den Bürgermeister eröffnete. Bei einer Verurteilung könnte İmamoğlu mit einem Politikverbot belegt und damit aus dem Verkehr gezogen werden.

Das Interesse der Regierung an juristischen Schritten gegen İmamoğlu erklärt sich aus dem türkischen Wahlkalender: Im März 2024 werden die 64 Millionen Wähler ihre Kommunalparlamente und Bürgermeister neu bestimmen. Nur wenige Stunden nach seinem Wahlerfolg im Mai 2023 richtete Erdoğan den Blick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen. Er rief die AKP auf, alles zu tun, um im März die Metropole Istanbul und die Hauptstadt Ankara zurückzuerobern. Beide Städte waren bei den Kommunalwahlen von 2019 an die Opposition gegangen – eine der schwersten Wahlniederlagen für Erdoğan in seiner Karriere. Nun will der Präsident diese Scharte wieder auswetzen. Die Mutlosigkeit und das Chaos bei den Oppositionsparteien verbessern seine Chancen.

„Jahrhundert der Türkei“

Mit dem neuen Wahlsieg im Rücken konzentriert sich Erdoğan seit Mai darauf, die türkische Wirtschaft wieder flott zu bekommen. Er verabschiedete sich von seiner Niedrigzinspolitik, mit der er die Zentralbank in den vergangenen Jahren zu drastischen Zinssenkungen gezwungen hatte, um das Wachstum anzukurbeln. Die Auswirkungen der steigenden Inflation für die Normalverbraucher wollte er mit immer neuen Anhebungen des Mindestlohns ausgleichen. Nach der Wahl holte Erdoğan seinen ehemaligen Berater Mehmet Şimşek als Finanzminister wieder ins Kabinett; dieser ging sogleich daran, die Zinspolitik zu ändern. Erdoğan bemühte sich um Investitionen arabischer Staaten in die türkische Wirtschaft. Während einer Reise durch die reichen Golfstaaten erhielt er im Juli 2023 allein von den Vereinigten Arabischen Emiraten finanzielle Zusagen von mehr als 50 Milliarden Dollar.

Gleichzeitig trieb der Präsident seinen Plan voran, das 21. Jahrhundert zum „Jahrhundert der Türkei“ zu machen. Seine Vision von einer starken Türkei, die mit Weltmächten wie China, Russland oder den USA auf Augenhöhe ist, hatte bereits den außenpolitischen Kern seines Wahlkampfs im Mai gebildet. Er präsentierte Drohnen, Kriegsschiffe und Elektroautos aus türkischer Produktion sowie neu entdeckte Erdgas- und Ölvorkommen als Grundlagen für das „Jahrhundert der Türkei“ – und sich selbst als den Mann, der das Land in diese goldene Zukunft führen kann. Die Taktik funktionierte erstaunlich gut, wie der Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Selim Koru bilanzierte. Erdoğans Wähler wähnten sich in „der epischen Schlacht zwischen Gut und Böse“ auf der richtigen Seite. „Das ist eine Dosis purer Nationalismus direkt in die Vene."

Nationalismus macht nicht satt

Allerdings macht Nationalismus nicht satt. Nach der Wahl im Mai beschleunigte sich die Talfahrt der Lira, weil die Zentralbank den Versuch aufgab, den Kurs der Währung mit Milliarden aus dem Staatshaushalt zu stützen, um Erdoğan politisch zu helfen. Die Devisenreserven des Landes schrumpften wegen dieser Ausgaben beträchtlich. Von Januar bis Juli 2023 verlor die türkische Währung fast 34 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Euro; allein zwischen der Stichwahl um das Präsidentenamt am 28. Mai und Juli betrug der Verlust 29 Prozent.

Finanzminister Şimşek hob mit Billigung Erdoğans die indirekten Steuern für eine ganze Reihe von Waren – von Benzin bis zu Handys – drastisch an, um wieder mehr Geld in die Staatskasse zu lenken. Şimşek brachte zudem die ehemalige Wall-Street-Bankerin Hafize Gaye Erkan an die Spitze der Zentralbank, um in- und ausländischen Investoren eine Rückkehr zu einer berechenbareren Finanzpolitik zu signalisieren. Unter Erkans Leitung änderte die Zentralbank ihren Kurs und hob die Leitzinsen zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder an. Die Inflation ging zwar von ihrem Höchststand von über 80 Prozent im Herbst 2022 zurück, stieg bis Ende August aber wieder auf fast 60 Prozent an.

Viele junge Menschen sehen ihre Aussichten auf ein gutes Leben und einen guten Job schwinden, was in einem Land mit einem Altersdurchschnitt von rund 31 Jahren weitreichende Folgen haben kann. Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung unter 18- bis 25-jährigen Türken in 16 Provinzen der Türkei kam schon vor der Mai-Wahl zu dem Ergebnis, dass 81 Prozent der Menschen in dieser Altersgruppe die Wirtschaftspolitik der Regierung als erfolglos betrachten und sich gegen einen Abbau demokratischer Standards wenden. 63 Prozent der Befragten sagten, sie würden die Türkei verlassen, wenn sie könnten. Bei den Zielländern lag Deutschland mit 14,5 Prozent an der Spitze, gefolgt von den USA mit 13,8 Prozent und Großbritannien mit 9,8 Prozent.

Schwächen des Systems

Die Hoffnungslosigkeit der jungen Generation weist auf eine Schwäche von Erdoğans Präsidialsystem hin. Der Staatspräsident richtet seine Politik an kurzfristigen Zielen wie der nächsten Wahl aus und vernachlässigt langfristige Perspektiven, Reformen und eine Stärkung unabhängiger Institutionen. Deshalb hat die Türkei viele ausländische Investoren verloren. Vor zehn Jahren besaßen Anleger außerhalb der Türkei rund ein Drittel der türkischen Staatsanleihen – 2020 waren es nur noch fünf Prozent.

Nach der Mai-Wahl versuchte Erdoğan die Quadratur des Kreises: Positive Signale an die Investoren sollten Anleger in die Türkei zurückholen, ohne die Grundlagen seines Regierungssystems zu ändern. Von einer „Zwickmühle“ sprach der Sozialwissenschaftler Yaşar Aydın. Die türkische Bauwirtschaft, die Exportbranche und die Verbraucher hätten vor der Wahl von niedrigen Zinsen und billigen Krediten profitiert, schreibt er. Das stelle Erdoğans Regierung nach der Wahl vor ein Dilemma: „Setzt sie weiterhin auf starkes Wachstum, drohen Inflationsspirale, Währungskrise oder gar Staatspleite. Kehrt sie zurück zu hohen Zinsen, strikter Haushaltsdisziplin und rigoroser Inflationsbekämpfung – unter Inkaufnahme von Wachstumseinbußen –, muss Erdoğan damit rechnen, dass sich nicht nur seine Wählerschaft von ihm abwendet, sondern auch sein Klientelnetzwerk."

Auch außenpolitisch warf Erdoğans Kurs nach der Wahl Fragen nach der Berechenbarkeit der Türkei auf. Im Streit um die Aufnahme von Finnland und Schweden in die Nato hatte der Präsident im Frühjahr seinen westlichen Partnern sein Entgegenkommen signalisiert, indem er den Beitritt Finnlands vom türkischen Parlament ratifizieren ließ. Beim Nato-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 gab er dann nach Angaben von Generalsekretär Jens Stoltenberg nach monatelangem Zögern auch grünes Licht für Schweden, relativierte diese Zusage aber, indem er die Zustimmung der Türkei zum schwedischen Beitritt von Fortschritten des türkischen EU-Beitrittsprozesses abhängig machte, bei dem seit Jahren Stillstand herrscht.

Diese überraschenden Kehrtwenden dienten Erdoğan vor allem dazu, sich vor dem heimischen Publikum als Politiker zu präsentieren, der die Interessen der Türkei auf außenpolitischer Bühne energisch vertritt. Weil seine Regierung die großen Medien der Türkei auf ihrer Seite hat, braucht er keine Kritik an seinem Schlingerkurs zu befürchten.

Im Ausland sieht es allerdings anders aus. EU-Politiker wiesen Erdoğans Junktim zwischen dem Nato-Beitritt Schwedens und einem türkischen EU-Beitritt empört zurück. Selbst Türkei-Experten wie Martin Erdmann, ein früherer deutscher Botschafter in Ankara, sind von Erdoğans Außenpolitik verwirrt. „Sie ist verstörend für Bündnispartner, und sie ist in Teilen erratisch“, sagte Erdmann. „Es ist eine Ad-hoc-Politik, oftmals nach Tagesverfassung oder Tagessituationen ausgerichtet." Hinter Erdmanns Kritik steht die Einschätzung westlicher Beobachter, Erdoğan treffe seine Entscheidungen entweder allein oder in einem Kreis enger Berater ohne das Fachwissen von Ministerien oder anderer Institutionen, weshalb die türkische Politik seit der Einführung des Präsidialsystems 2018 immer unberechenbar werde.

Kaum Chancen für Neuanfang in der Kurdenpolitik

Erdoğans politische Beweglichkeit erlaubte es ihm in den vergangenen Jahren, sich immer neue Bündnispartner zu suchen. In den ersten zehn Jahren seiner Regierungszeit arbeitete er mit der Bewegung um Fethullah Gülen zusammen, bis er sich 2013 mit dem Prediger überwarf. Anschließend suchte er die Nähe zu den politischen Vertretern der Kurden und ließ die AKP mit der kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und indirekt mit der Terrororganisation Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) über eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts verhandeln. Im Februar 2015 verkündeten Politiker von AKP und HDP eine Vereinbarung, die eine Zusage der PKK einschloss, ihren 1984 begonnenen Kampf gegen Ankara aufzugeben.

Als die HDP bei den Parlamentswahlen wenige Monate später ein Rekordergebnis von 13 Prozent einfuhr, während die AKP mit 40,1 Prozent ihre Mehrheit in der Volksvertretung verlor, änderte Erdoğan seinen Kurs schlagartig. Angesichts einer Serie von Anschlägen und neuen Gefechten zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften präsentierte sich die AKP als Garant der Stabilität und erreichte bei einer vorgezogenen Neuwahl im November 2015 mit 49,5 Prozent wieder die absolute Mehrheit im Parlament; die HDP sackte auf 10,8 Prozent ab. Ein Jahr später wurde der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş verhaftet. Im Februar 2018 zementierte Erdoğan seinen neuen nationalistischen Kurs, indem er ein Bündnis zwischen der AKP und der rechtsradikalen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) gründete. Bei dieser Allianz ist Erdoğan bis heute geblieben.

Erdoğans Rechtsruck macht eine Rückkehr zu einem Versöhnungskurs in der Kurdenfrage sehr unwahrscheinlich. Der Präsident besteht auf Demirtaş Inhaftierung, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Freilassung angeordnet hat. Zudem läuft vor dem Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die HDP, das mit einem Politikverbot für fast 700 Politiker der Kurdenpartei enden könnte. Kurz vor den Wahlen im Mai wurden in der vorwiegend kurdischen Provinz Diyarbakır, einer Hochburg der HDP, fast 150 Rechtsanwälte, Politiker und Künstler unter dem Vorwurf festgenommen, die PKK unterstützt zu haben.

Diskussion über Erdoğans Nachfolge

In der ersten Kabinettssitzung nach der Mai-Wahl sagte Erdoğan, er wolle eine neue Verfassung einführen und den Entwurf dafür ins Parlament einbringen lassen. Nach der derzeitigen Verfassung darf Erdoğan bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2028 nicht mehr antreten; eine neue Verfassung könnte dieses Hindernis für ihn aus dem Weg räumen, wenn mit ihrem Inkrafttreten seine bisherigen Amtszeiten nicht gezählt werden. Allerdings verfügen AKP und MHP nicht über die nötige Mehrheit im Parlament, um die Verfassungsreform zu beschließen. Erdoğan braucht dafür die Unterstützung von Teilen der Opposition.

Obwohl der Präsident mit den Vorbereitungen für eine Verfassung versucht, die Grundlagen für seinen Verbleib an der Spitze des Staates über 2028 hinaus zu schaffen, hat in der Türkei die Diskussion über einen Nachfolger für Erdoğan begonnen, die durch gesundheitliche Probleme des 69-jährigen angefacht wird. Im Wahlkampf im April erlitt Erdoğan während eines Live-Interviews im Fernsehen einen Schwächeanfall und musste in den Tagen darauf mehrere Termine absagen.

Um Erdoğans Gesundheitszustand ranken sich seit Jahren Spekulationen, häufig befeuert vom Wunschdenken seiner Gegner. 2011 unterzog sich Erdoğan einer Darmoperation, dementierte aber Berichte über eine Krebserkrankung. Sechs Jahre später wurde ihm während des Gebets in einer Moschee schlecht, was er mit vorübergehenden Blutzuckerproblemen erklärte. 2021 schlief Erdoğan während einer Videobotschaft an seine Anhänger mitten im Satz ein. Kurz vorher musste er sich auf seine Frau Emine und einen Leibwächter stützen, als er eine Treppe hinunterging.

Wegen Erdoğans Alter und Gesundheitszustand sei es unwahrscheinlich, dass der Präsident über 2028 hinaus im Amt bleiben werde, meint Selim Koru. Die Frage ist, was geschieht, wenn Erdoğan abtritt. In der AKP und in der Regierung ist alles auf ihn zugeschnitten, sodass sich bei einem Wechsel an der Partei- und Staatsspitze auch das Regierungssystem ändern könnte. In der AKP gibt es außer Erdoğan niemanden, der die verschiedenen Machtinteressen innerhalb der Partei ausbalancieren kann. In der Regierung trifft er als „reis“ alle wichtigen Entscheidungen.

Koru weist allerdings darauf hin, dass das Präsidialsystem auch ohne Erdoğan weiter funktionieren könnte. „Wenn jemand anders reis wird, genießt sein Amt den Schutz der weitreichenden staatlichen Machtbefugnisse“, schreibt er. „Der Sicherheitsapparat, das Wohlfahrtsystem und das Medien-Monopol könnten sogar aus einem mittelmäßigen Politiker einen reis machen." Der Personenkult um Erdoğan würde in diesem Fall auf den neuen Mann an der Spitze übertragen.

Einer der Namen, die in Spekulationen über die Erdoğan-Nachfolge genannt werden, ist Selçuk Bayraktar. Er ist ein Schwiegersohn des Präsidenten und Chef des Kampfdrohnen-Herstellers Baykar, der wegen der militärischen Erfolge mit türkischen Drohnen in Libyen, im Kaukasus und in der Ukraine zu einem der wichtigsten Exporteure der türkischen Rüstungsindustrie geworden ist. Regierungsnahe Medien in der Türkei berichten auffällig häufig und in großer Aufmachung über Bayraktar. Die prominente Türkei-Expertin Amberin Zaman bestätigt, dass er als möglicher Erdoğan-Nachfolger gehandelt wird. Bayraktar selbst schließt eine politische Karriere nicht aus. Allerdings hat Bayraktar weder eine Hausmacht in der AKP noch Erfahrung als Politiker. Seine Chancen beruhen allein auf seiner verwandtschaftlichen Verbindung zu Erdoğan und auf seiner persönlichen Popularität.

Ungewisse Zukunft

So fehlt es der Türkei im hundertsten Jahr ihres Bestehens trotz der langen Ära Erdoğan und des erneuten Wahlsieges des Präsidenten weiter an Stabilität. Die Nachfolgediskussion dürfte in den kommenden Jahren weiter in den Mittelpunkt rücken, besonders wenn Erdoğan neue Gesundheitsprobleme bekommen sollte. Die Schwächung der Institutionen unter Erdoğan bedeutet, dass es kein staatliches Gerüst gibt, das dem Land Halt geben kann, wenn das Ende seiner Zeit an der Macht absehbar wird. Die Opposition steckt nach ihrer jüngsten Niederlage ebenfalls in einer tiefen Krise. Für Deutschland und Europa ergibt sich daraus, dass die von Martin Erdmann beschriebene „Ad-hoc-Politik“ in den Beziehungen zum Westen auch in den kommenden Jahren weitergehen dürfte – mit oder ohne Erdoğan.

ist freie Korrespondentin in der Türkei, unter anderem für den "Tagesspiegel" und den "Deutschlandfunk".