Wer gehofft hatte, die Türkei würde nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 innenpolitisch in ruhigeres Fahrwasser gleiten, hat sich getäuscht. Zwar ist mit dem Sieg von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) und ihres Bündnisses mit kleineren nationalistischen und islamistischen Parteien die Machtfrage wohl längerfristig geklärt. Denn das Bündnis der Opposition ist zerfallen und die Hauptoppositionspartei von einem gnadenlosen Richtungs- und Führungskampf gebeutelt. Trotzdem bläst die Regierungsfront weiter zur Attacke.
Ihr Angriff ist auf zwei Ziele gerichtet: Kurzfristig möchte Erdoğan bei den für März 2024 angesetzten Kommunalwahlen die Rathäuser von Istanbul und Ankara sowie von Antalya, Adana und Mersin zurückerobern, die seine Partei bei den vorhergehenden Lokalwahlen 2019 verloren hat. Gegenwärtig werden fünf der sechs größten Städte der Türkei, ihre wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentren, von Widersachern Erdoğans regiert. Dem soll ein Ende gesetzt werden. Trotzdem bläst die Regierungsfront weiter zur Attacke.
Das zweite Ziel der Regierung ist längerfristig angelegt und von grundsätzlicher Art. Zum hundertsten Jahrestag der Republik am 29. Oktober 2023 will Erdoğan den institutionellen und politischen Umbau des Staates abschließen, den er – nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch 2016
Staatsgründer Kemal Atatürk hatte 1923 die Republik als strikt säkularen Staat organisiert. Atatürks Republik wurde von einer nach Europa ausgerichteten Elite regiert, die der frommen Mehrheit der Bevölkerung politisch, wirtschaftlich und kulturell sehr enge Grenzen setzte. Der heutige türkische Präsident will den Staat so umformen, dass dessen Gesetze und Institutionen die Weltsicht, die Sittlichkeit und die Moral, kurz die Identität des islamisch-konservativen Teils der Bevölkerung widerspiegeln.
Formal soll dieses Ziel durch eine neue Verfassung erreicht werden. Um die dafür notwendige politische Dynamik herzustellen, hetzt die Regierung den frommen Teil der Gesellschaft gegen den säkularen auf und lässt es gleichzeitig zu, dass militante konservative Gruppen den säkularen Teil der Bevölkerung einschüchtern.
Homophobie als Instrument
Ein Anzeichen dafür, wie weit dieser Prozess fortgeschritten ist, ist die Lage der LGBTI+ Community. Im Juni 2013 konnten in Istanbul noch fast 100000 Menschen unbehelligt an der jährlichen Pride-Parade teilnehmen. Im Juni 2023 dagegen war der zentrale Taksim-Platz zur Verhinderung der Pride weiträumig abgesperrt, bewacht von Tausenden Polizisten, darunter Abteilungen der Anti-Terror-Einheit, bestückt mit halbautomatischen Gewehren.
In den vorangegangenen Monaten hatte der Präsident im Wahlkampf Homosexuelle und Transpersonen als zentrale Bedrohung für Nation und Staat gebrandmarkt und sie immer wieder in einem Atemzug mit der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) und der Organisation des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen genannt, die in der Türkei unter der Bezeichnung „FETÖ“ auf der Terrorliste steht.
Wie das Vorgehen gegen die Pride-Parade zeigt, ist die Kampagne gegen die LGBTI+ Community längerfristig angelegt und war nicht nur ein Mittel, um die Wahlen zu gewinnen. So nahm die Polizei in der ersten Juniwoche in Istanbul-Kadıköy vorübergehend Zuschauer des britischen Films „Pride“ von 2014 fest, der Solidaritätsaktionen von Homosexuellen mit streikenden Minenarbeitern zeigt. In diesem Zusammenhang stellte der Gouverneur Istanbuls, Davut Gül, auf Twitter klar, dass künftig keinerlei Aktivitäten mehr geduldet würden, die die Institution der Familie bedrohten.
Aggressivem Vorgehen islamistisch-nationalistischer Kreise begegnen die Behörden dagegen mit Unbekümmertheit, wenn nicht gar mit Wohlwollen. So konnte am 17. Juni 2023 in Izmir eine Gruppe von islamistischen und nationalistischen Aktivisten Homosexuelle und Transpersonen bedrohen, die sich im Garten der örtlichen Rechtsanwaltskammer versammelt hatten.
Die übersteigerte Empörung über die LGBTI+ Community ist freilich nur ein Mittel dafür, eine Hegemonie konservativer Moral zu errichten, dadurch die Spielräume von Andersdenkenden einzuschränken und so die politische Herrschaft des Regierungslagers langfristig zu sichern.
Ein weiterer Schauplatz der Auseinandersetzungen sind Konzerte und Festivals, besonders die Auftritte von Frauen. Seit die Sängerin Melek Mosso einen ihr zugesprochenen Preis allen Frauen widmete, die „in dieser Gesellschaft seit Jahrhunderten aufgrund ihres Frauseins (…) verurteilt, herumgestoßen und marginalisiert worden sind“,
Ausgelöst durch Beschwerden konservativer Gruppen wurden seit dem Frühjahr 2022 eine ganze Reihe von Festivals und Freiluftkonzerten von AKP-Stadtverwaltungen oder Provinzgouverneuren der Zentralregierung verboten. Am 7. Juli 2021 schließlich forderte im westanatolischen Balıkesir eine „Zivilgesellschaftliche Plattform“, der unter anderem der konservative Unternehmerverein MÜSIAD angehört, ein generelles Verbot von Festivals und Popkonzerten in der bisherigen Form. Die Veranstaltungen verleiteten die Jugend dazu, „unsittliche und von der Religion verbotene Beziehungen“ zu knüpfen, weshalb die Zuschauer nach Geschlecht getrennt werden müssten.
Für die Regierungspartei eskalierte der neu ernannte Minister für Bildung und Erziehung, Yusuf Tekin, den Streit, indem er forderte, reine Mädchenschulen zu eröffnen. Dies entspreche dem Wunsch vieler Eltern und sei deshalb ein Schritt zu mehr Freiheit und Demokratie.
Neue Verfassungskampagne 2023
Vor Diskursen dieser Art sind die Ankündigungen des Regierungslagers zur Einführung einer neuen Verfassung zu verstehen. Erdoğans juristischer Chefberater, Mehmet Uçum, kündigte eine Verfassung an, die „dem Willen und den Forderungen des Volkes“ entspricht und nicht den Interessen der Eliten. Die neue Verfassung soll „sowohl individuelle als auch kollektive Rechte und Freiheiten“ garantieren und die „materielle und moralische Existenz des Staates“ schützen. Das „Volk“ soll ein Recht auf Gesetzesinitiativen haben und an juristischen Prozessen mitwirken können.
Wie für den Staatspräsidenten bildet „das Volk“ auch für Uçum eine in sich geschlossene sittlich-moralische Einheit. Diese Einheit steht in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu den säkularen, „verwestlichten“ Eliten, die nicht länger als legitime politische Akteure zählen. Beteiligt sich ein so imaginiertes Volk an der Gesetzgebung und an der Urteilsfindung von Gerichten, wird die Gewaltenteilung ausgehebelt. Es braucht sie nicht mehr, denn alle staatlichen Institutionen sind vom selben Geist durchdrungen.
Auch Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) und Erdoğans wichtigster Bündnispartner, hält wenig von Gewaltenteilung. Er fordert ebenfalls eine neue Verfassung. Für ihn soll sie primär dazu dienen, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts zu beschneiden. Denn den Verfassungsrichtern mangele es gegenwärtig an nationaler Gesinnung und an Liebe zum Vaterland.
Die größte Resonanz bei muslimisch-konservativen Wählern versprechen freilich Homophobie sowie der Topos von der Zerstörung der Familie, weshalb der Staatspräsident für die Notwendigkeit einer neuen Verfassung direkt auf diese Themen Bezug nimmt.
Hinsichtlich der ideologischen Gesichtspunkte wäre eine Verfassungsänderung im Sinne Erdoğans eine dramatische Veränderung für die Türkei. Doch die Methode, Verfassungsänderungen als Mittel zur Festschreibung von Machtverhältnissen zu nutzen, ist in der Türkei seit Langem wohlbekannt.
Verfassungsänderung 2017: Präsidialsystem
Mit seiner gegenwärtigen Initiative versucht Erdoğan nun bereits zum dritten Mal, das Instrument der Verfassungsänderung zur Konsolidierung und zum Ausbau seiner Macht zu nutzen. Die bisher letzten Schritte in diese Richtung waren seine Kampagne für die Einführung des Präsidialsystems und das für ihn erfolgreiche Verfassungsreferendum vom 16. April 2017. Schon damals stand der Widerspruch zwischen dem gläubigen Volk und einer ihm entfremdeten Elite im Mittelpunkt der Propaganda des Staatspräsidenten. Bereits in jenen Tagen behauptete Erdoğan, die Gewaltenteilung sei ein Mittel, das gläubige Volk von der Macht fernzuhalten. Die säkulare Elite schränke das Handeln der vom Volk gewählten konservativen Regierung ein und nutze dazu die von ihr gestaltete Verfassung, die von ihr gemachten Gesetze und die von ihr beherrschten Institutionen, primär das Militär und die Justiz. Die Lösung liege in der Einführung eines Präsidialsystems, in dem ein vom Volk direkt gewählter Präsident, der die Identität und die Anliegen des Volkes verkörpert, mit großer Machtfülle dem Volkswillen zum Durchbruch verhilft und so Demokratie schafft.
Die Realität des türkischen Präsidialsystems kommt diesem Modell erschreckend nahe. Durch den exzessiven Gebrauch von Verordnungen mit Gesetzeskraft unterminiert der Präsident das Gesetzgebungsmonopol des Parlaments. Das Budgetrecht der Abgeordneten und ihre Möglichkeiten zur Kontrolle der Regierung sind stark eingeschränkt. Der Staatspräsident hat direkten Einfluss auf die Zusammensetzung der höchsten Gerichte und auf den Rat der Richter und Staatsanwälte, der die Ernennung und Beförderung der Richterschaft bestimmt. Die Folge sind eine hochgradig politisierte Justiz und große Rechtsunsicherheit, die auch daher rührt, dass sich niedere Gerichte und staatliche Institutionen weigern, Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen. Der Staatspräsident ernennt ohne Mitwirkungsrechte anderer die oberen Ränge aller staatlichen Institutionen. Das hat zu einer Verschmelzung von Partei und Staatsapparat, zu großflächiger Korruption
Verfassungsänderung 2007: Direktwahl des Staatspräsidenten
Es waren die türkischen Generäle, die selbsternannten Hüter des türkischen Laizismus, die Erdoğan den Weg zum Präsidialsystem geebnet haben, freilich ohne es zu wollen. Im Vorfeld der Wahl des damaligen AKP-Außenministers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten drohte der Generalstab im April 2007 mit dem Eingreifen der Armee. Die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), heute Oppositionsführerin, stellte sich damals bedingungslos hinter das Militär und unterstützte Großdemonstrationen, auf denen die Generäle aufgefordert wurden, die Macht zu übernehmen. Darüber hinaus focht die CHP die Wahl Güls vor dem Verfassungsgericht an. Dieses annullierte einen entscheidenden Wahlgang und interpretierte dabei die Statuten des Parlaments auf abenteuerliche Weise.
Zwar galt Gül als ein gemäßigter Politiker, doch war er vorher prominent in der später verbotenen islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) tätig gewesen, und seine Frau trug Kopftuch. Die säkulare Elite geriet angesichts seiner Kandidatur in Panik. Denn bereits vor Einführung des Präsidialsystems war der Präsident in der Türkei mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Das Amt funktionierte als Scharnier zwischen der säkularen bürokratischen Elite und der Regierung, die in aller Regel von konservativen Parteien gestellt wurde. Die Präsidenten wurden vom Parlament gewählt und durften bei Amtsantritt keiner politischen Partei mehr angehören. All dies verhinderte, dass sie sich – wie später Erdoğan – zum Volkstribun entwickeln konnten.
Im September 2007 gewann die AKP kurz nach der Krise angesetzte Neuwahlen mit 47 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Bürger honorierten ihren Widerstand gegen die Einmischung nicht legitimierter Kräfte wie der Militärführung und der hohen Gerichtsbarkeit in den politischen Prozess. Am 10. Oktober 2007 befürworteten in einem Referendum zur Verfassungsänderung 69 Prozent der Wähler, dass der Staatspräsident fortan vom Volk und nicht länger vom Parlament gewählt wird. Seitdem stand ein vom Volk direkt gewählter Präsident einer nur indirekt vom Parlament gewählten Regierung gegenüber. So ebnete der Wunsch der türkischen Gesellschaft nach mehr Demokratie den Weg zur heutigen Alleinherrschaft des Präsidenten.
Das Militär und die Verfassungen von 1961 und 1982
In der Krise vom April 2007 zogen die CHP, die Militärführung und das Verfassungsgericht an einem Strang, denn in jenen Tagen teilten all diese Akteure die Ideologie des Kemalismus. Sie alle sahen „die religiösen reaktionären Kräfte“ als eine der beiden primären Bedrohungen
In den ersten Jahren der Republik waren europäisierte Offiziere prominent an der Gründung der CHP beteiligt, die das Land bis 1950 faktisch im Rahmen eines Einparteiensystems regierte und den Konservativen politische Rechte verweigerte. Doch nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem 1948 setzte sich bei den Wahlen von 1950 mit großer Mehrheit die konservative Demokratische Partei (Demokrat Parti, DP) durch. Als die DP begann – ganz ähnlich wie heute Erdoğan –, die Nation ausschließlich konservativ zu denken und in ihrem Namen die politischen Freiheiten der Opposition einzuschränken, kam es am 27. Mai 1960 zu einem Putsch und das Militär übernahm zum ersten Mal die Macht.
Unter der Ägide der Generäle erhielt die Türkei 1961 eine neue, modernere Verfassung. Ihr Hauptanliegen war es, die Rückkehr einer Politik à la DP zu verhindern, in der Demokratie auf die Herrschaft einer kulturellen beziehungsweise religiösen oder ethnischen Mehrheit reduziert ist. Um dies zu erreichen, stärkte die Verfassung von 1961 die Grundrechte der Bürger und ihre individuellen und kollektiven politischen Rechte. Gleichzeitig etablierte die Verfassung neue Institutionen, die das Handeln der Regierung und ihrer Parlamentsmehrheit aus normativer Perspektive kontrollieren sollten. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Einführung eines Verfassungsgerichts. Ein zweiter war, dem Nationalen Sicherheitsrat (NSR) Verfassungsrang zu verleihen. Das Gremium setzte sich zu gleichen Teilen aus den Spitzen des Militärs und der gewählten Regierung zusammen und institutionalisierte auf diese Weise die Mitsprache des Militärs bei politischen Entscheidungen. So diente die neue Verfassung von 1961 dazu, die konservativen Kräfte einzuhegen und den Primat der europäisierten bürokratischen Elite aufrechtzuerhalten.
Bereits zehn Jahre später, 1971, drängte das Militär erneut eine konservative Regierung zum Rücktritt und schränkte die 1961 gewährten Freiheiten wieder ein. Doch den größten Einschnitt markiert der Staatsstreich vom 12. September 1980 und die daraufhin erneut vom Militär bestimmte neue Verfassung von 1982. Sie machte die Generäle für die nächsten zwanzig Jahre – bis zum Amtsantritt der AKP 2003 – zu den letztendlich entscheidenden innen- und außenpolitischen Akteuren im Land.
Die Rechte und Freiheiten der Bürger wurden massiv eingeschränkt. In der Präambel der Verfassung von 1982 – die den Rahmen für die Interpretation ihrer einzelnen Artikel bildet – hieß es, „dass keine Vorstellung und Überlegung Schutz genießt, die den nationalen türkischen Interessen, (…) der Unteilbarkeit des Staates und seines Landes, den historischen und moralischen Werten des Türkentums, dem Nationalismus Atatürks, seinen Prinzipien und Reformen und seinem Zivilisationsverständnis widerspricht“. Damit konnten alle politischen Rechte nur unter dem Vorbehalt ausgeübt werden, dass sie sich innerhalb dieser eng gesteckten und fast nach Belieben interpretierbaren ideologischen Vorgaben bewegten. Die Betonung des Türkentums und der unteilbaren Einheit des Staates sanktionierte jede Art von politischer Betätigung im Namen kurdischer Identität, und die Betonung der Atatürkschen Reformen und Prinzipien stellte Politik im Namen religiöser Überzeugungen unter Strafe.
Erdoğan, so scheint es, will ausschließlich dem muslimisch-konservativen Teil der Bevölkerung die Grund- und Bürgerrechte zugestehen und betrachtet die Rechte der restlichen Gesellschaft als Verhandlungsmasse. Ein ganz ähnliches Verständnis fand sich bei der alten säkularen Elite. Sie erklärte ihr Ideal einer aufgeklärten, europäisierten und rein ethnisch-türkischen Nation zur gesellschaftlichen Realität und stellte die Rechte all jener, die nicht diesem Ideal entsprachen, zur Disposition. Solange dieser Kulturkampf anhält, bleibt wenig Raum für Kompromiss und für Konsens, für Rechtssicherheit und für Gewaltenteilung.