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Die Außenpolitik der „neuen Türkei“ | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial 100 Jahre Republik Türkei. Demokratie mit Höhen und Tiefen Türkeiwahlen 2023 transnational. Ein Blick auf die Türkei und Deutschland Dynamiken des türkischen Nationalismus Die Außenpolitik der „neuen Türkei“. Zwischen hegemonialem Anspruch und Anpassungsdruck Verfassungspolitik „türkischer Art“. Verfassungsänderungen als Mittel des Machtgewinns und Machterhalts in der Türkei Zur Geschichte der türkischen Frauenbewegung Schwieriger Geburtstag. Hundert Jahre nach ihrer Gründung ist die Türkei ein gespaltenes Land - Essay Karte der Türkei

Die Außenpolitik der „neuen Türkei“ Zwischen hegemonialem Anspruch und Anpassungsdruck

Gülistan Gürbey

/ 31 Minuten zu lesen

Die Türkei setzt in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik auf strategische Autonomie, flexible Allianzen und einen Mix aus politischen und militärischen Mitteln, um ihre strategischen Ziele durchzusetzen. Die Beziehungen zum Westen sind dabei zweitrangig.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine seit November 2002 regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) propagieren das „Jahrhundert der Türkei“ und die „Neue Türkei“. Innenpolitisch wollen sie sich von der kemalistisch-säkularen „alten“ Türkei abgrenzen und das Land nach außen als neue Führungsmacht in der Region und als einen globalen Akteur definieren. Die strategische Vision für 2023, entwickelt anlässlich des bevorstehenden 100. Jahrestages der Gründung der türkischen Republik im Oktober 2023, sieht vor, dass die Türkei als eine liberale Präsidialdemokratie zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt aufsteigt, die Vollmitgliedschaft in der EU anstrebt und die Beziehungen zu den USA stärkt. Allerdings zeigt die aktuelle Lage das Gegenteil. Die Türkei kämpft mit einer Wirtschafts- und Währungskrise, und die Beziehungen zum Westen sind angespannt. In den vergangenen zehn Jahren hat die türkische Außenpolitik eine aggressivere und stärker militarisierte Ausrichtung angenommen. Nach seinem Wahlsieg im Mai 2023 kündigte Erdoğan jedoch an, die Beziehungen zum Westen zu stärken, außenpolitische Spannungen zu reduzieren und die Zusammenarbeit mit regionalen Nachbarn auszubauen. Dies unterstreicht die seit 2021 erkennbare Tendenz zur Abkehr von einer konfrontativen Außenpolitik.

Im Folgenden soll ein kursorischer Überblick über die Außenpolitik der AKP-Regierung gegeben werden. Dabei sollen sowohl die strategischen Ziele und Antriebskräfte der türkischen Außenpolitik ermittelt als auch die aktive Einflussnahme in verschiedenen Regionen untersucht werden. Außerdem wird der Wandel in der Außenpolitik unter Berücksichtigung von internen und externen Faktoren skizziert.

Hegemonie und strategische Autonomie

Die konfrontative Außenpolitik der Türkei seit 2011 ist geprägt durch einen verstärkten militärischen Einsatz und die Besetzung fremder Territorien. Sie resultiert aus zwei Hauptmotivationen: erstens dem Streben nach mehr strategischer Autonomie in der Außen- und Sicherheitspolitik und zweitens der Nutzung der Außenpolitik für innenpolitische Ziele und die Konsolidierung der Macht. Die Türkei unter Erdoğan will außenpolitisch selbstständiger sein und die Abhängigkeit vom Westen – also von Nato, USA und EU – verringern, aber nicht vollständig brechen. Sie möchte gemäß eigenen Prioritäten und Zielen eigenmächtig entscheiden, mit wem sie Partnerschaften oder Allianzen eingeht und welche außen- und sicherheitspolitischen Mittel sie ergreift.

Strategische Autonomie ist ein Mittel zur Stärkung der eigenen Handlungsfähigkeiten, um Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und effektiv Einfluss zu nehmen. Sie ist eine Reaktion auf den Wandel der internationalen Nachkriegsordnung, der den Druck zur Anpassung außenpolitischer Strategien erhöht hat und eine stete Neubewertung der jeweiligen außen- und sicherheitspolitischen Lage und der Handlungsoptionen erfordert. Angesichts der Perzeption, dass globale Machtverschiebungen zu einem Rückzug des Westens, zur Schwächung bestehender multilateraler Institutionen und zur Entstehung neuer Machtzentren führen werden, betrachtet die Regierung Erdoğan strategische Autonomie als unverzichtbar. Denn diese ermöglicht es, flexibel auf geopolitische Herausforderungen zu reagieren und neu entstandene geopolitische Spielräume im Sinne der eigenen nationalen Interessen effektiv zu nutzen und Einflusssphären auszudehnen.

Das Interesse an strategischer Autonomie ist jedoch nicht alleine das Ergebnis von äußeren Einflüssen, sondern wird auch von inneren Machtdynamiken, ideologischen Überzeugungen und strategischen Zielen geprägt. Es ist integraler Bestandteil des geostrategischen Konzepts der „strategischen Tiefe“, das vom ehemaligen türkischen Außen- und Premierminister Ahmet Davutoğlu entwickelt wurde und das als ideologische Grundlage für die Außenpolitik der Türkei dient. Das Konzept verfolgt eine proaktive und multidimensionale Ausrichtung der türkischen Außenpolitik, basierend auf neo-osmanischen und panislamischen Ideologien. Diese umfassen eine dezidierte Rückbesinnung auf die imperiale Größe des Osmanischen Reiches, aus der der Anspruch abgeleitet wird, den Machtradius der Türkei durch strategische Autonomie auf ehemals osmanisch beherrschte Gebiete auszudehnen, die für sie von strategischem und nationalem Interesse sind. Prioritäres Ziel ist es, die Türkei zu einer unumgehbaren Führungsmacht in den angrenzenden Regionen – inklusive Europa, Nordafrika, dem Mittelmeerraum, dem Kaukasus, Westasien und dem Nahen Osten – und zu einem globalen Akteur zu machen.

Auch gilt es, die Türkei als Wirtschafts- und Energiezentrum zu etablieren und als Energiedrehkreuz zu positionieren, um die strategische Dominanz in diesen Bereichen zu festigen, die Energiesicherheit durch eine Diversifizierung von Energiequellen und -routen zu erhöhen und wirtschaftliche Vorteile als Transitland zu erzielen. Die Versorgung mit Energie ist eine Achillesferse der Türkei. Angesichts eines Mangels an eigenen Energiereserven ist das Land darauf angewiesen, einen Großteil seines Energiebedarfs aus Russland, Iran und Aserbaidschan zu importieren.

Unter Präsident Erdoğan sind der Anspruch, die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Gestaltung der internationalen Politik deutlich gewachsen. Dies äußert sich in einem verstärkten Interesse an internationaler Präsenz, einer offensiveren Einflussnahme in internationalen Fragen, den Bestrebungen nach regionaler und globaler Macht, in der Auswahl außenpolitischer Mittel sowie im politischen Stil. Der ideologische Mix aus (Hyper-)Nationalismus, (Pan-)Islamismus und Neo-Osmanismus spiegelt sich in der Zusammensetzung des Regierungsblocks wider, der islamistische und ultranationalistische Kräfte vereint. Diese Regierungskonstellation ist eine treibende Kraft hinter den Großmachtambitionen der Türkei, sei es als Führungsmacht in der islamischen Welt oder unter den turksprachigen Völkern und Staaten. Die Rückbesinnung auf die imperiale Größe des Osmanischen Reiches enthält zugleich eine antiwestliche Komponente und äußert sich in der Vorstellung, dass externe Mächte, einschließlich des Westens, die Einheit der Türkei untergraben wollen und daher die nationale und territoriale Einheit des Landes in Gefahr sei. Dieses Narrativ speist sich aus der historischen Erfahrung des Zerfalls des Osmanischen Reiches und verursacht eine ambivalente Haltung gegenüber dem Westen. Erdoğan, aber auch Regierungsmitglieder bedienen sich dieses Narratives, um außenpolitisches Handeln zu legitimieren und innenpolitische Unterstützung zu generieren. Diesem Zweck dient auch Erdoğans Rhetorik, die hypernationalistisch, sunnitisch-islamistisch, neo-osmanisch, aber auch antikurdisch unterfüttert ist.

Politikmix und fluide Allianzen

Die Türkei verfolgt unter Erdoğan eine äußerst flexible Strategie zur Erreichung ihrer strategischen Ziele. Eckpfeiler sind eine Mischung aus einer fluiden Allianzenpolitik sowie politische und militärische Mittel, einschließlich einer wachsenden Bereitschaft zur militärischen Gewaltanwendung. Je nach Bedarf und Interessenlage sucht sie Allianzen mit verschiedenen Akteuren, wobei die Beziehungen zur EU und den Nato-Verbündeten zwischenzeitlich als zweitrangig betrachtet werden. Diese flexible Strategie ermöglicht es, die eigene Manövrierfähigkeit zu erweitern und die eigene Handlungsfähigkeit zu stärken.

In den vergangenen 20 Jahren wurden die Grundlagen für aktive Einflussnahme und eine eigenständigere Außenpolitik institutionell gestärkt, insbesondere durch eine stark personalisierte Außen- und Sicherheitspolitik, die Aufwertung des türkischen Geheimdienstes und den Ausbau der Militärtechnik und der Rüstungsindustrie. Mit dem Übergang zum Präsidialsystem 2018 ist die Außen- und Sicherheitspolitik endgültig zur Domäne Erdoğans geworden, da sie nun primär von seinen Direktiven abhängig ist. Zudem ist die Loyalität zum Präsidenten zu einem entscheidenden Kriterium für die Rekrutierung von Personal geworden. Unter Hakan Fidan, einem engen Vertrauten Erdoğans und dem neuen Außenminister, wurden die operationellen Fähigkeiten und Kapazitäten des türkischen Geheimdienstes erheblich gestärkt. Dieser spielt eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung strategischer Ziele und hat sich als operativer Wegbereiter in verschiedenen Konflikten erwiesen, darunter in Syrien, Libyen und Irakisch-Kurdistan. Diese geheimdienstlichen Einsätze trugen maßgeblich dazu bei, die Ausgangs- und Verhandlungsposition der Türkei erheblich zu stärken und eigene Interessen umzusetzen. In seiner Position als Geheimdienstchef spielte Fidan eine oft unsichtbare, aber äußerst einflussreiche Rolle bei den globalen Aktivitäten und strategischen Manövern der Türkei. Seine Ernennung zum Außenminister betont die enge Verknüpfung zwischen Geheimdiensttätigkeiten und politischer Führung und markiert einen bedeutenden Schritt in der türkischen Außenpolitik. Fidans umfangreiche Erfahrung in verschiedenen Bereichen verschafft der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik einen Wettbewerbsvorteil. Gleichzeitig stellt seine Ernennung jedoch eine Herausforderung für westliche Partner dar, da sie auch die Dynamik der türkischen Außenpolitik verändert.

In der Rüstungspolitik setzt die Regierung auf den permanenten und raschen Ausbau der Militärtechnologie und der Rüstungsindustrie, um die Entwicklung eigener Waffensysteme – Raketen, Panzer – und sogar eines eigenen Raumfahrtprogramms voranzutreiben. Auch sollen die operativen Fähigkeiten und Kapazitäten der Luft-, Land- und Seestreitkräfte gezielt gestärkt und die rüstungspolitische Abhängigkeit vom Westen reduziert werden. Besonders in der Drohnentechnologie erzielte die Türkei einen Durchbruch und erreichte Weltniveau. So werden türkische Drohnen auf vielen Kriegsschauplätzen erfolgreich eingesetzt, erprobt und kontinuierlich weiterentwickelt, unter anderem in Syrien oder Libyen, bei Erkundungen im Streit um umstrittene Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer, aber auch in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak gegen die militante Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK). Zusätzlich steigerte die Türkei ihre militärstrategischen Kapazitäten und Fähigkeiten durch den Ausbau von mehr als zehn Militärstützpunkten in verschiedenen Teilen der Welt, darunter in Albanien, Aserbaidschan, der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Bosnien-Herzegowina, Katar, Kosovo, Mali, Nordzypern, Somalia und Sudan.

Regionale Einflussnahme und Zielkonflikte

Unter Präsident Erdoğan dehnte sich der regionale Einflussbereich der Türkei erheblich aus. Die Regierung knüpfte an die proaktive und multidimensionale Außenpolitik an, die nach dem Ende des Kalten Krieges in der Amtszeit von Turgut Özal als Staatspräsident (1989–1993) begonnen hatte. Bis zum sogenannten Arabischen Frühling, den Protesten, die 2011 in der arabischen Welt gegen die dortigen autoritären Regime ausbrachen, nutzte die AKP-Regierung politische, wirtschaftliche, diplomatische und kulturelle Mittel als Soft Power, um ihren Einfluss im Nahen Osten, auf dem Balkan, im Kaukasus und in Afrika auszubauen. Geleitet vom Prinzip der sogenannten „Null-Problem-Politik“ mit den Nachbarn sollte die Türkei durch eine konstruktive Politik in der Region und weltweit an Respekt gewinnen und daraus ihren internationalen Einfluss ziehen. So investierte die Regierung in die Verbesserung ihrer historisch angespannten Beziehungen zu Irak, Iran, Russland und Syrien und startete Initiativen zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Armenien – die letztlich jedoch gescheitert sind. Sie agierte auch als Vermittlerin in verschiedenen Konflikten, darunter im Gaza-Krieg von 2008/09. Besonderes Augenmerk richtete die Regierung auf die Neuausrichtung ihrer Beziehungen zu Syrien, das zuvor als „Feind“ betrachtet wurde. Dies geschah vor allem in den Jahren 2003 bis 2009 durch militärische und wirtschaftliche Abkommen; 2004 wurde Visafreiheit eingeführt und 2009 eine Freihandelszone geschaffen. Syrien diente als wichtiges Tor zu den lukrativen Märkten Ägyptens, Jordaniens und der Golfstaaten. Diese Annäherung half auch dabei, die strategische Rivalität mit dem Iran einzudämmen und dessen Unterstützung für die kurdische PKK zu unterbinden, wodurch die Türkei ihre Kontrolle über die regionale Dimension der Kurdenfrage behielt. Die Bekämpfung der PKK, die Eindämmung kurdischer Selbstbestimmungsbestrebungen und die Verhinderung der Entstehung eines kurdischen Staates beziehungsweise kurdischer Autonomie sind traditionell wichtige Ziele der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik, die bis heute durch Kontinuität unter Einsatz von militärischer Gewalt gekennzeichnet sind.

Vor allem in Afrika, auf dem Balkan und in Zentralasien wurde die Türkei unter Erdoğan zu einem bedeutenden Akteur. Nach ihrer Machtübernahme 2002 weitete die Regierung im Laufe der Jahre ihr diplomatisches Netzwerk aus und erhöhte die Zahl der Flugverbindungen. Sie verfolgte eine umfassende Agenda, die von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Handel, Investitionen und Entwicklungshilfe über Gesundheitsdienste, Bildung, kulturelle Zusammenarbeit, religiöse und zivilgesellschaftliche Aktivitäten bis hin zu Rüstungs- und Militärkooperation reichte. Die einstige Verbündete, die islamisch-nationalistische Fethullah-Gülen-Bewegung unterstützte dabei die Regierung bis 2012 in diesen Regionen aktiv durch ihre vielfältigen Netzwerke. Mit dieser vielschichtigen Regionalpolitik bediente die Regierung die ökonomischen Interessen islamisch-konservativer Unternehmer in der Türkei – die sogenannten „Anatolischen Tiger“ –, diversifizierte ihre wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen und präsentierte sich als regionaler wie globaler Akteur. Ab Mitte der 2000er Jahre baute die Regierung ihre Beziehungen zu den turksprachigen Staaten in Zentralasien, darunter Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, insbesondere in den Bereichen Handel, Energie und Sicherheit aktiv aus. Strategisches Ziel ist es, eine türkische Einflusssphäre von der Adria bis nach China zu schaffen und die Gemeinschaft der Turkvölker unter türkischer Führung als Machtfaktor in Eurasien zu etablieren. Infolge dieser Kooperationen entstand 2009 der sogenannte Türkische Rat, der 2021 in Organisation der Turkstaaten umbenannt wurde. Mitglieder sind neben der Türkei Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan, während Ungarn und Turkmenistan den Status als Beobachter haben.

Die auf Soft Power setzende Außenpolitik der Regierung Erdoğan verlagerte sich im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 und parallel zur innenpolitischen Autokratisierung immer mehr in Richtung einer aggressiven und konfrontativen Politik unter Einsatz von Hard Power. Die regionalen Entwicklungen – wie der Krieg in Syrien und der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) – sowie die angesprochenen, ideologisch geleiteten neo-osmanisch-hegemonialen Machtprojektionen beförderten diesen Trend. Dies schlug sich auch in flexiblen Allianzen, insbesondere mit Russland, nieder, um einerseits konkrete geopolitische, wirtschaftliche, sicherheits- und energiepolitische Interessen verfolgen, andererseits aber auch darüber hinausreichende hegemoniale Machtambitionen durchsetzen zu können. So wurden nicht nur der Irak und Syrien, sondern auch Libyen, das östliche Mittelmeer und der aserbaidschanisch-armenische Konflikt in Bergkarabach Schauplätze, auf denen die Türkei ihre Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen suchte.

Im Syrien-Konflikt verfolgten Erdoğan und seine Regierung eine pro-islamisch-sunnitische und antikurdische Politik, um die regionale Vormachtstellung der Türkei zu stärken und mit den Folgen des Krieges umzugehen. Neben der Bewältigung der Flucht von rund vier Millionen Menschen in die Türkei war und ist es ein ausdrückliches Ziel, die Entstehung einer kurdischen Autonomie oder eines kurdischen Staates zu verhindern und entlang der türkisch-syrischen Grenze eine „kurdenfreie“ Sicherheitszone zu etablieren. In diesem Kontext bekämpft das türkische Militär dort auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD), die als Ableger der PKK in Syrien gilt, sowie deren bewaffneten Arm, die Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG), und das von ihnen kontrollierte Selbstverwaltungsgebiet „Rojava“ (Kurdisch: Westkurdistan). Die USA unterstützen hingegen die YPG militärisch im Kampf gegen den IS, was ein Dorn im Auge Ankaras ist. Angesichts des russischen Eintritts in den Syrien-Krieg im September 2015 suchte Erdoğan schnell die Zusammenarbeit mit Russland und dem Iran, um seinen Handlungsspielraum im Konflikt zu erweitern und gleichzeitig Druck auf die USA auszuüben, damit diese ihre Unterstützung für die kurdische YPG beenden. Das türkische Militär marschierte gemeinsam mit ihren radikal-islamistischen und ultranationalistischen Milizen, der sogenannten Syrisch-Nationalen Armee, mehrmals völkerrechtswidrig in die kurdischen Gebiete in Nordsyrien ein und besetzte weite Gebiete, die seither als De-facto-Protektorate unter türkischer Hoheit und Verwaltung stehen und von ihren Söldnertruppen kontrolliert werden, etwa in der mehrheitlich kurdisch besiedelten Region Afrin, die infolge des völkerrechtswidrigen militärischen Einmarsches im März 2018 eingenommen wurde. Nicht zuletzt führte die energie- und rüstungspolitische Kooperation mit Russland, insbesondere der Kauf der russischen S-400 Raketensysteme im September 2017, zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Türkei und den USA.

Im Konflikt mit Griechenland und Zypern über die Ausbeutung von Erdgasfeldern und die Festlegung maritimer Interessensgebiete im östlichen Mittelmeer setzte die türkische Regierung seit der Entdeckung größerer Erdgasvorkommen Ende der 2000er Jahre auf eine Strategie der Eskalation, um den Einflussbereich der Türkei gemäß ihrer Militärdoktrin „Blaues Heimatland“ („Mavi Vatan“) als führende Seemacht im Schwarzen Meer, der Ägäis und im Mittelmeer auszudehnen. Diese Doktrin legt ebenfalls fest, dass die Türkei ihre nationalen Interessen in einer erweiterten Einflusszone einschließlich des Horns von Afrika und des Persischen Golfs, auch unter Einsatz militärischer Mittel, verfolgt. Die EU sah die Erdgasbohrungen in den umstrittenen Meeresgebieten, begleitet von Kriegsschiffen und die damit einhergehende Eskalation, wie zum Beispiel im Mai 2020, als eine militärische Provokation und reagierte mit Teilsanktionen, darunter Kürzungen von EU-Finanzmitteln und Sanktionen gegen Personen und Unternehmen, die an den Bohrungen beteiligt waren. Daraufhin drohte die Türkei, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingsfrage zu beenden, die seit der Flüchtlingsvereinbarung vom März 2016 besteht. Im März 2020 öffnete die Türkei für Flüchtlinge vorübergehend ihre Grenze zu Griechenland, was Griechenland und die EU unter erheblichen Druck setzte.

In Libyen unterstützten Erdoğan und seine Regierung das international anerkannte Regime mit Waffenlieferungen und der Entsendung von pro-türkischen Söldnergruppen aus Syrien. Im November 2019 wurde ein umstrittenes bilaterales See- und Militärabkommen zwischen der Türkei und Libyen geschlossen. Dieses Abkommen, das von Griechenland, Zypern, Ägypten und der EU als völkerrechtswidrig angesehen wird, war eine Reaktion auf die Gründung des East Mediterranean Gas Forums durch Ägypten, Griechenland, Israel und Zypern im Januar 2019. Das bilaterale Abkommen sichert Libyen militärische Unterstützung zu und legt gleichzeitig eine gemeinsame exklusive Wirtschaftszone beider Staaten fest, die sich von der Türkei bis Nordafrika erstreckt. Auf diese Weise konnte Ankara einen erheblichen Teil des östlichen Mittelmeeres für sich beanspruchen, in dem reiche Erdgasvorkommen vermutet werden. Innerhalb dieses Seegebiets liegen aber auch griechische Inseln wie Karpathos, Kasos, Kreta und Rhodos.

Im Bergkarabach-Konflikt leistete die türkische Regierung ihrem „Bruderstaat“ Aserbaidschan im Herbst 2020 militärische Unterstützung, unter anderem mit Drohnen und Söldnern. Aserbaidschan ist traditionell ein enger Verbündeter und wichtiger Erdöl- und Erdgaslieferant. Mithilfe der türkischen Unterstützung eroberte Aserbaidschan Bergkarabach zurück. Dieser Sieg schuf die Grundlage für die Verwirklichung des sogenannten Zangezur-Korridors. Diese Route verbindet die Türkei mit Aserbaidschan über armenisches Territorium und eröffnet die Möglichkeit, in Richtung Zentralasien und China zu expandieren. Sie verschafft der Türkei Zugang zu den Energieressourcen in der Kaspischen Region und ermöglicht es ihr, Europa direkt und ohne Umweg über Russland und Iran mit Energie zu versorgen.

Die Folgen der militärischen Eskalationsstrategie und der neo-osmanischen Machtprojektionen sind zwiespältig. Einerseits konnte die türkische Regierung erheblichen Einfluss in der Region gewinnen und sich strategische Vorteile verschaffen. Andererseits führte diese Politik zu einer wachsenden Isolation der Türkei unter ihren unmittelbaren Nachbarn und westlichen Partnern. Mit sämtlichen Anrainerstaaten, darunter Ägypten, Griechenland, Israel, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabische Emirate, geriet die Regierung zunehmend in Konflikt, und der Westen wurde sogar mehr und mehr zum Feindbild und Hindernis auf dem Weg zur aufstrebenden Regionalmacht.

Die gegenwärtig anhaltende Wirtschaftskrise und die Entwicklungen im regionalen Machtgefüge machten schließlich jedoch einen Kurswechsel erforderlich. Seit 2021 ist die Regierung bemüht, die belasteten Beziehungen zu ihren Nachbarländern wieder zu verbessern, um die Türkei in der sich neu ordnenden Region nicht weiter zu isolieren, insbesondere vor dem Hintergrund der seit 2020 gestärkten Allianzen zwischen Israel und den Golfstaaten. Gleichzeitig sucht die Türkei potenzielle Investoren aus Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, um die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Die Annäherung an das syrische Regime erfolgte auch vor dem Hintergrund einer wachsenden Bereitschaft in der Region, diplomatische Beziehungen mit dem wieder gestärkten Assad-Regime aufzunehmen, wie es beispielsweise 2021 die Vereinigten Arabischen Emirate und im Mai 2023 die Arabische Liga getan hatten.

Nicht zuletzt konnte sich Präsident Erdoğan im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seit Februar 2022 als starker Anführer auf der internationalen Bühne inszenieren. Er positionierte sich als unverzichtbarer Vermittler und trug gemeinsam mit den Vereinten Nationen erfolgreich zur Vermittlung des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine bei. Zugleich nutzte Erdoğan seine Vermittlerposition innerhalb der Nato als Druckmittel, indem er bis März 2023 den Beitritt Finnlands und bis Juli 2023 den Beitritt Schwedens blockierte. Ziel war es, kurdenpolitische und rüstungspolitische Zugeständnisse zu erzwingen, auch hinsichtlich der Lieferung von F-16-Kampfjets der USA an die Türkei. Auch wenn die westlichen Bündnispartner diese Vermittlerrolle unterstützen, sind die zentralen Probleme in den Beziehungen, die insbesondere durch den Kauf russischer S-400 Raketensysteme und die türkische Nichtbeteiligung an den Sanktionen gegen Russland entstanden sind, nicht überwunden.

Ausblick

Ob der aktuelle außenpolitische Kurs, der auf eine Neujustierung der konfrontativen Strategie in der Region und im Verhältnis zum Westen abzielt, vorübergehend ist oder nachhaltig sein wird, bleibt vorerst abzuwarten. Fakt ist jedoch, dass dieser Kurs auf den doppelten Anpassungsdruck zurückzuführen ist, der sowohl von regionalen als auch von inneren, insbesondere wirtschaftlichen Zwängen ausgeht. Die prekäre wirtschaftliche Lage ist eine Schwachstelle der Türkei und erfordert eine Verbesserung der angespannten Beziehungen, insbesondere zu westlichen Partnern. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig eine Abkehr von der bisherigen außenpolitischen Autonomie und den flexiblen Bündnissen, insbesondere jenem mit Russland. In einer instabilen multipolaren Weltordnung werden nach wie vor eigene strategische Interessen, geopolitische Positionierungen und Machtprojektionen das außenpolitische Handeln prägen, was zwangsläufig geopolitische Spannungen und außenpolitische Zielkonflikte mit sich bringen wird. Trotz der geostrategischen Bedeutung der Türkei als Schlüsselakteur in der von den USA angeführten Strategie zur Eindämmung von Russland und China sowie zur Verhinderung eines Bündnisses zwischen Russland, China und Iran dürften die Beziehungen zum Westen weiterhin kompliziert bleiben. Gleichzeitig eröffnet diese Strategie der Türkei Handlungsspielräume und stärkt ihre geopolitische Position. Präsident Erdoğan und seine Regierung werden weiterhin bestrebt sein, diese Spielräume maximal und autonom auszuschöpfen und gleichzeitig Spannungen mit dem Westen in einem kontrollierten Rahmen zu halten, um eine vollständige Entfremdung zu vermeiden.

Im Folgenden soll ein kursorischer Überblick über die Außenpolitik der AKP-Regierung gegeben werden. Dabei sollen sowohl die strategischen Ziele und Antriebskräfte der türkischen Außenpolitik ermittelt als auch die aktive Einflussnahme in verschiedenen Regionen untersucht werden. Außerdem wird der Wandel in der Außenpolitik unter Berücksichtigung von internen und externen Faktoren skizziert.

Hegemonie und strategische Autonomie

Die konfrontative Außenpolitik der Türkei seit 2011 ist geprägt durch einen verstärkten militärischen Einsatz und die Besetzung fremder Territorien. Sie resultiert aus zwei Hauptmotivationen: erstens dem Streben nach mehr strategischer Autonomie in der Außen- und Sicherheitspolitik und zweitens der Nutzung der Außenpolitik für innenpolitische Ziele und die Konsolidierung der Macht. Die Türkei unter Erdoğan will außenpolitisch selbstständiger sein und die Abhängigkeit vom Westen – also von Nato, USA und EU – verringern, aber nicht vollständig brechen. Sie möchte gemäß eigenen Prioritäten und Zielen eigenmächtig entscheiden, mit wem sie Partnerschaften oder Allianzen eingeht und welche außen- und sicherheitspolitischen Mittel sie ergreift.

Strategische Autonomie ist ein Mittel zur Stärkung der eigenen Handlungsfähigkeiten, um Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und effektiv Einfluss zu nehmen. Sie ist eine Reaktion auf den Wandel der internationalen Nachkriegsordnung, der den Druck zur Anpassung außenpolitischer Strategien erhöht hat und eine stete Neubewertung der jeweiligen außen- und sicherheitspolitischen Lage und der Handlungsoptionen erfordert. Angesichts der Perzeption, dass globale Machtverschiebungen zu einem Rückzug des Westens, zur Schwächung bestehender multilateraler Institutionen und zur Entstehung neuer Machtzentren führen werden, betrachtet die Regierung Erdoğan strategische Autonomie als unverzichtbar. Denn diese ermöglicht es, flexibel auf geopolitische Herausforderungen zu reagieren und neu entstandene geopolitische Spielräume im Sinne der eigenen nationalen Interessen effektiv zu nutzen und Einflusssphären auszudehnen.

Das Interesse an strategischer Autonomie ist jedoch nicht alleine das Ergebnis von äußeren Einflüssen, sondern wird auch von inneren Machtdynamiken, ideologischen Überzeugungen und strategischen Zielen geprägt. Es ist integraler Bestandteil des geostrategischen Konzepts der „strategischen Tiefe“, das vom ehemaligen türkischen Außen- und Premierminister Ahmet Davutoğlu entwickelt wurde und das als ideologische Grundlage für die Außenpolitik der Türkei dient. Das Konzept verfolgt eine proaktive und multidimensionale Ausrichtung der türkischen Außenpolitik, basierend auf neo-osmanischen und panislamischen Ideologien. Diese umfassen eine dezidierte Rückbesinnung auf die imperiale Größe des Osmanischen Reiches, aus der der Anspruch abgeleitet wird, den Machtradius der Türkei durch strategische Autonomie auf ehemals osmanisch beherrschte Gebiete auszudehnen, die für sie von strategischem und nationalem Interesse sind. Prioritäres Ziel ist es, die Türkei zu einer unumgehbaren Führungsmacht in den angrenzenden Regionen – inklusive Europa, Nordafrika, dem Mittelmeerraum, dem Kaukasus, Westasien und dem Nahen Osten – und zu einem globalen Akteur zu machen.

Auch gilt es, die Türkei als Wirtschafts- und Energiezentrum zu etablieren und als Energiedrehkreuz zu positionieren, um die strategische Dominanz in diesen Bereichen zu festigen, die Energiesicherheit durch eine Diversifizierung von Energiequellen und -routen zu erhöhen und wirtschaftliche Vorteile als Transitland zu erzielen. Die Versorgung mit Energie ist eine Achillesferse der Türkei. Angesichts eines Mangels an eigenen Energiereserven ist das Land darauf angewiesen, einen Großteil seines Energiebedarfs aus Russland, Iran und Aserbaidschan zu importieren.

Unter Präsident Erdoğan sind der Anspruch, die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Gestaltung der internationalen Politik deutlich gewachsen. Dies äußert sich in einem verstärkten Interesse an internationaler Präsenz, einer offensiveren Einflussnahme in internationalen Fragen, den Bestrebungen nach regionaler und globaler Macht, in der Auswahl außenpolitischer Mittel sowie im politischen Stil. Der ideologische Mix aus (Hyper-)Nationalismus, (Pan-)Islamismus und Neo-Osmanismus spiegelt sich in der Zusammensetzung des Regierungsblocks wider, der islamistische und ultranationalistische Kräfte vereint. Diese Regierungskonstellation ist eine treibende Kraft hinter den Großmachtambitionen der Türkei, sei es als Führungsmacht in der islamischen Welt oder unter den turksprachigen Völkern und Staaten. Die Rückbesinnung auf die imperiale Größe des Osmanischen Reiches enthält zugleich eine antiwestliche Komponente und äußert sich in der Vorstellung, dass externe Mächte, einschließlich des Westens, die Einheit der Türkei untergraben wollen und daher die nationale und territoriale Einheit des Landes in Gefahr sei. Dieses Narrativ speist sich aus der historischen Erfahrung des Zerfalls des Osmanischen Reiches und verursacht eine ambivalente Haltung gegenüber dem Westen. Erdoğan, aber auch Regierungsmitglieder bedienen sich dieses Narratives, um außenpolitisches Handeln zu legitimieren und innenpolitische Unterstützung zu generieren. Diesem Zweck dient auch Erdoğans Rhetorik, die hypernationalistisch, sunnitisch-islamistisch, neo-osmanisch, aber auch antikurdisch unterfüttert ist.

Politikmix und fluide Allianzen

Die Türkei verfolgt unter Erdoğan eine äußerst flexible Strategie zur Erreichung ihrer strategischen Ziele. Eckpfeiler sind eine Mischung aus einer fluiden Allianzenpolitik sowie politische und militärische Mittel, einschließlich einer wachsenden Bereitschaft zur militärischen Gewaltanwendung. Je nach Bedarf und Interessenlage sucht sie Allianzen mit verschiedenen Akteuren, wobei die Beziehungen zur EU und den Nato-Verbündeten zwischenzeitlich als zweitrangig betrachtet werden. Diese flexible Strategie ermöglicht es, die eigene Manövrierfähigkeit zu erweitern und die eigene Handlungsfähigkeit zu stärken.

In den vergangenen 20 Jahren wurden die Grundlagen für aktive Einflussnahme und eine eigenständigere Außenpolitik institutionell gestärkt, insbesondere durch eine stark personalisierte Außen- und Sicherheitspolitik, die Aufwertung des türkischen Geheimdienstes und den Ausbau der Militärtechnik und der Rüstungsindustrie. Mit dem Übergang zum Präsidialsystem 2018 ist die Außen- und Sicherheitspolitik endgültig zur Domäne Erdoğans geworden, da sie nun primär von seinen Direktiven abhängig ist. Zudem ist die Loyalität zum Präsidenten zu einem entscheidenden Kriterium für die Rekrutierung von Personal geworden. Unter Hakan Fidan, einem engen Vertrauten Erdoğans und dem neuen Außenminister, wurden die operationellen Fähigkeiten und Kapazitäten des türkischen Geheimdienstes erheblich gestärkt. Dieser spielt eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung strategischer Ziele und hat sich als operativer Wegbereiter in verschiedenen Konflikten erwiesen, darunter in Syrien, Libyen und Irakisch-Kurdistan. Diese geheimdienstlichen Einsätze trugen maßgeblich dazu bei, die Ausgangs- und Verhandlungsposition der Türkei erheblich zu stärken und eigene Interessen umzusetzen. In seiner Position als Geheimdienstchef spielte Fidan eine oft unsichtbare, aber äußerst einflussreiche Rolle bei den globalen Aktivitäten und strategischen Manövern der Türkei. Seine Ernennung zum Außenminister betont die enge Verknüpfung zwischen Geheimdiensttätigkeiten und politischer Führung und markiert einen bedeutenden Schritt in der türkischen Außenpolitik. Fidans umfangreiche Erfahrung in verschiedenen Bereichen verschafft der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik einen Wettbewerbsvorteil. Gleichzeitig stellt seine Ernennung jedoch eine Herausforderung für westliche Partner dar, da sie auch die Dynamik der türkischen Außenpolitik verändert.

In der Rüstungspolitik setzt die Regierung auf den permanenten und raschen Ausbau der Militärtechnologie und der Rüstungsindustrie, um die Entwicklung eigener Waffensysteme – Raketen, Panzer – und sogar eines eigenen Raumfahrtprogramms voranzutreiben. Auch sollen die operativen Fähigkeiten und Kapazitäten der Luft-, Land- und Seestreitkräfte gezielt gestärkt und die rüstungspolitische Abhängigkeit vom Westen reduziert werden. Besonders in der Drohnentechnologie erzielte die Türkei einen Durchbruch und erreichte Weltniveau. So werden türkische Drohnen auf vielen Kriegsschauplätzen erfolgreich eingesetzt, erprobt und kontinuierlich weiterentwickelt, unter anderem in Syrien oder Libyen, bei Erkundungen im Streit um umstrittene Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer, aber auch in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak gegen die militante Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK). Zusätzlich steigerte die Türkei ihre militärstrategischen Kapazitäten und Fähigkeiten durch den Ausbau von mehr als zehn Militärstützpunkten in verschiedenen Teilen der Welt, darunter in Albanien, Aserbaidschan, der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Bosnien-Herzegowina, Katar, Kosovo, Mali, Nordzypern, Somalia und Sudan.

Regionale Einflussnahme und Zielkonflikte

Unter Präsident Erdoğan dehnte sich der regionale Einflussbereich der Türkei erheblich aus. Die Regierung knüpfte an die proaktive und multidimensionale Außenpolitik an, die nach dem Ende des Kalten Krieges in der Amtszeit von Turgut Özal als Staatspräsident (1989–1993) begonnen hatte. Bis zum sogenannten Arabischen Frühling, den Protesten, die 2011 in der arabischen Welt gegen die dortigen autoritären Regime ausbrachen, nutzte die AKP-Regierung politische, wirtschaftliche, diplomatische und kulturelle Mittel als Soft Power, um ihren Einfluss im Nahen Osten, auf dem Balkan, im Kaukasus und in Afrika auszubauen. Geleitet vom Prinzip der sogenannten "Null-Problem-Politik" mit den Nachbarn sollte die Türkei durch eine konstruktive Politik in der Region und weltweit an Respekt gewinnen und daraus ihren internationalen Einfluss ziehen. So investierte die Regierung in die Verbesserung ihrer historisch angespannten Beziehungen zu Irak, Iran, Russland und Syrien und startete Initiativen zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Armenien – die letztlich jedoch gescheitert sind. Sie agierte auch als Vermittlerin in verschiedenen Konflikten, darunter im Gaza-Krieg von 2008/09. Besonderes Augenmerk richtete die Regierung auf die Neuausrichtung ihrer Beziehungen zu Syrien, das zuvor als "Feind" betrachtet wurde. Dies geschah vor allem in den Jahren 2003 bis 2009 durch militärische und wirtschaftliche Abkommen; 2004 wurde Visafreiheit eingeführt und 2009 eine Freihandelszone geschaffen. Syrien diente als wichtiges Tor zu den lukrativen Märkten Ägyptens, Jordaniens und der Golfstaaten. Diese Annäherung half auch dabei, die strategische Rivalität mit dem Iran einzudämmen und dessen Unterstützung für die kurdische PKK zu unterbinden, wodurch die Türkei ihre Kontrolle über die regionale Dimension der Kurdenfrage behielt. Die Bekämpfung der PKK, die Eindämmung kurdischer Selbstbestimmungsbestrebungen und die Verhinderung der Entstehung eines kurdischen Staates beziehungsweise kurdischer Autonomie sind traditionell wichtige Ziele der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik, die bis heute durch Kontinuität unter Einsatz von militärischer Gewalt gekennzeichnet sind.

Vor allem in Afrika, auf dem Balkan und in Zentralasien wurde die Türkei unter Erdoğan zu einem bedeutenden Akteur. Nach ihrer Machtübernahme 2002 weitete die Regierung im Laufe der Jahre ihr diplomatisches Netzwerk aus und erhöhte die Zahl der Flugverbindungen. Sie verfolgte eine umfassende Agenda, die von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Handel, Investitionen und Entwicklungshilfe über Gesundheitsdienste, Bildung, kulturelle Zusammenarbeit, religiöse und zivilgesellschaftliche Aktivitäten bis hin zu Rüstungs- und Militärkooperation reichte. Die einstige Verbündete, die islamisch-nationalistische Fethullah-Gülen-Bewegung unterstützte dabei die Regierung bis 2012 in diesen Regionen aktiv durch ihre vielfältigen Netzwerke. Mit dieser vielschichtigen Regionalpolitik bediente die Regierung die ökonomischen Interessen islamisch-konservativer Unternehmer in der Türkei – die sogenannten "Anatolischen Tiger" –, diversifizierte ihre wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen und präsentierte sich als regionaler wie globaler Akteur. Ab Mitte der 2000er Jahre baute die Regierung ihre Beziehungen zu den turksprachigen Staaten in Zentralasien, darunter Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, insbesondere in den Bereichen Handel, Energie und Sicherheit aktiv aus. Strategisches Ziel ist es, eine türkische Einflusssphäre von der Adria bis nach China zu schaffen und die Gemeinschaft der Turkvölker unter türkischer Führung als Machtfaktor in Eurasien zu etablieren. Infolge dieser Kooperationen entstand 2009 der sogenannte Türkische Rat, der 2021 in Organisation der Turkstaaten umbenannt wurde. Mitglieder sind neben der Türkei Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan, während Ungarn und Turkmenistan den Status als Beobachter haben.

Die auf Soft Power setzende Außenpolitik der Regierung Erdoğan verlagerte sich im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 und parallel zur innenpolitischen Autokratisierung immer mehr in Richtung einer aggressiven und konfrontativen Politik unter Einsatz von Hard Power. Die regionalen Entwicklungen – wie der Krieg in Syrien und der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) – sowie die angesprochenen, ideologisch geleiteten neo-osmanisch-hegemonialen Machtprojektionen beförderten diesen Trend. Dies schlug sich auch in flexiblen Allianzen, insbesondere mit Russland, nieder, um einerseits konkrete geopolitische, wirtschaftliche, sicherheits- und energiepolitische Interessen verfolgen, andererseits aber auch darüber hinausreichende hegemoniale Machtambitionen durchsetzen zu können. So wurden nicht nur der Irak und Syrien, sondern auch Libyen, das östliche Mittelmeer und der aserbaidschanisch-armenische Konflikt in Bergkarabach Schauplätze, auf denen die Türkei ihre Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen suchte.

Im Syrien-Konflikt verfolgten Erdoğan und seine Regierung eine pro-islamisch-sunnitische und antikurdische Politik, um die regionale Vormachtstellung der Türkei zu stärken und mit den Folgen des Krieges umzugehen. Neben der Bewältigung der Flucht von rund vier Millionen Menschen in die Türkei war und ist es ein ausdrückliches Ziel, die Entstehung einer kurdischen Autonomie oder eines kurdischen Staates zu verhindern und entlang der türkisch-syrischen Grenze eine "kurdenfreie" Sicherheitszone zu etablieren. In diesem Kontext bekämpft das türkische Militär dort auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD), die als Ableger der PKK in Syrien gilt, sowie deren bewaffneten Arm, die Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG), und das von ihnen kontrollierte Selbstverwaltungsgebiet "Rojava" (Kurdisch: Westkurdistan). Die USA unterstützen hingegen die YPG militärisch im Kampf gegen den IS, was ein Dorn im Auge Ankaras ist. Angesichts des russischen Eintritts in den Syrien-Krieg im September 2015 suchte Erdoğan schnell die Zusammenarbeit mit Russland und dem Iran, um seinen Handlungsspielraum im Konflikt zu erweitern und gleichzeitig Druck auf die USA auszuüben, damit diese ihre Unterstützung für die kurdische YPG beenden. Das türkische Militär marschierte gemeinsam mit ihren radikal-islamistischen und ultranationalistischen Milizen, der sogenannten Syrisch-Nationalen Armee, mehrmals völkerrechtswidrig in die kurdischen Gebiete in Nordsyrien ein und besetzte weite Gebiete, die seither als De-facto-Protektorate unter türkischer Hoheit und Verwaltung stehen und von ihren Söldnertruppen kontrolliert werden, etwa in der mehrheitlich kurdisch besiedelten Region Afrin, die infolge des völkerrechtswidrigen militärischen Einmarsches im März 2018 eingenommen wurde. Nicht zuletzt führte die energie- und rüstungspolitische Kooperation mit Russland, insbesondere der Kauf der russischen S-400 Raketensysteme im September 2017, zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Türkei und den USA.

Im Konflikt mit Griechenland und Zypern über die Ausbeutung von Erdgasfeldern und die Festlegung maritimer Interessensgebiete im östlichen Mittelmeer setzte die türkische Regierung seit der Entdeckung größerer Erdgasvorkommen Ende der 2000er Jahre auf eine Strategie der Eskalation, um den Einflussbereich der Türkei gemäß ihrer Militärdoktrin "Blaues Heimatland" ("Mavi Vatan") als führende Seemacht im Schwarzen Meer, der Ägäis und im Mittelmeer auszudehnen. Diese Doktrin legt ebenfalls fest, dass die Türkei ihre nationalen Interessen in einer erweiterten Einflusszone einschließlich des Horns von Afrika und des Persischen Golfs, auch unter Einsatz militärischer Mittel, verfolgt. Die EU sah die Erdgasbohrungen in den umstrittenen Meeresgebieten, begleitet von Kriegsschiffen und die damit einhergehende Eskalation, wie zum Beispiel im Mai 2020, als eine militärische Provokation und reagierte mit Teilsanktionen, darunter Kürzungen von EU-Finanzmitteln und Sanktionen gegen Personen und Unternehmen, die an den Bohrungen beteiligt waren. Daraufhin drohte die Türkei, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingsfrage zu beenden, die seit der Flüchtlingsvereinbarung vom März 2016 besteht. Im März 2020 öffnete die Türkei für Flüchtlinge vorübergehend ihre Grenze zu Griechenland, was Griechenland und die EU unter erheblichen Druck setzte.

In Libyen unterstützten Erdoğan und seine Regierung das international anerkannte Regime mit Waffenlieferungen und der Entsendung von pro-türkischen Söldnergruppen aus Syrien. Im November 2019 wurde ein umstrittenes bilaterales See- und Militärabkommen zwischen der Türkei und Libyen geschlossen. Dieses Abkommen, das von Griechenland, Zypern, Ägypten und der EU als völkerrechtswidrig angesehen wird, war eine Reaktion auf die Gründung des East Mediterranean Gas Forums durch Ägypten, Griechenland, Israel und Zypern im Januar 2019. Das bilaterale Abkommen sichert Libyen militärische Unterstützung zu und legt gleichzeitig eine gemeinsame exklusive Wirtschaftszone beider Staaten fest, die sich von der Türkei bis Nordafrika erstreckt. Auf diese Weise konnte Ankara einen erheblichen Teil des östlichen Mittelmeeres für sich beanspruchen, in dem reiche Erdgasvorkommen vermutet werden. Innerhalb dieses Seegebiets liegen aber auch griechische Inseln wie Karpathos, Kasos, Kreta und Rhodos.

Im Bergkarabach-Konflikt leistete die türkische Regierung ihrem "Bruderstaat" Aserbaidschan im Herbst 2020 militärische Unterstützung, unter anderem mit Drohnen und Söldnern. Aserbaidschan ist traditionell ein enger Verbündeter und wichtiger Erdöl- und Erdgaslieferant. Mithilfe der türkischen Unterstützung eroberte Aserbaidschan Bergkarabach zurück. Dieser Sieg schuf die Grundlage für die Verwirklichung des sogenannten Zangezur-Korridors. Diese Route verbindet die Türkei mit Aserbaidschan über armenisches Territorium und eröffnet die Möglichkeit, in Richtung Zentralasien und China zu expandieren. Sie verschafft der Türkei Zugang zu den Energieressourcen in der Kaspischen Region und ermöglicht es ihr, Europa direkt und ohne Umweg über Russland und Iran mit Energie zu versorgen.

Die Folgen der militärischen Eskalationsstrategie und der neo-osmanischen Machtprojektionen sind zwiespältig. Einerseits konnte die türkische Regierung erheblichen Einfluss in der Region gewinnen und sich strategische Vorteile verschaffen. Andererseits führte diese Politik zu einer wachsenden Isolation der Türkei unter ihren unmittelbaren Nachbarn und westlichen Partnern. Mit sämtlichen Anrainerstaaten, darunter Ägypten, Griechenland, Israel, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabische Emirate, geriet die Regierung zunehmend in Konflikt, und der Westen wurde sogar mehr und mehr zum Feindbild und Hindernis auf dem Weg zur aufstrebenden Regionalmacht.

Die gegenwärtig anhaltende Wirtschaftskrise und die Entwicklungen im regionalen Machtgefüge machten schließlich jedoch einen Kurswechsel erforderlich. Seit 2021 ist die Regierung bemüht, die belasteten Beziehungen zu ihren Nachbarländern wieder zu verbessern, um die Türkei in der sich neu ordnenden Region nicht weiter zu isolieren, insbesondere vor dem Hintergrund der seit 2020 gestärkten Allianzen zwischen Israel und den Golfstaaten. Gleichzeitig sucht die Türkei potenzielle Investoren aus Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, um die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Die Annäherung an das syrische Regime erfolgte auch vor dem Hintergrund einer wachsenden Bereitschaft in der Region, diplomatische Beziehungen mit dem wieder gestärkten Assad-Regime aufzunehmen, wie es beispielsweise 2021 die Vereinigten Arabischen Emirate und im Mai 2023 die Arabische Liga getan hatten.

Nicht zuletzt konnte sich Präsident Erdoğan im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seit Februar 2022 als starker Anführer auf der internationalen Bühne inszenieren. Er positionierte sich als unverzichtbarer Vermittler und trug gemeinsam mit den Vereinten Nationen erfolgreich zur Vermittlung des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine bei. Zugleich nutzte Erdoğan seine Vermittlerposition innerhalb der Nato als Druckmittel, indem er bis März 2023 den Beitritt Finnlands und bis Juli 2023 den Beitritt Schwedens blockierte. Ziel war es, kurdenpolitische und rüstungspolitische Zugeständnisse zu erzwingen, auch hinsichtlich der Lieferung von F-16-Kampfjets der USA an die Türkei. Auch wenn die westlichen Bündnispartner diese Vermittlerrolle unterstützen, sind die zentralen Probleme in den Beziehungen, die insbesondere durch den Kauf russischer S-400 Raketensysteme und die türkische Nichtbeteiligung an den Sanktionen gegen Russland entstanden sind, nicht überwunden.

Ausblick

Ob der aktuelle außenpolitische Kurs, der auf eine Neujustierung der konfrontativen Strategie in der Region und im Verhältnis zum Westen abzielt, vorübergehend ist oder nachhaltig sein wird, bleibt vorerst abzuwarten. Fakt ist jedoch, dass dieser Kurs auf den doppelten Anpassungsdruck zurückzuführen ist, der sowohl von regionalen als auch von inneren, insbesondere wirtschaftlichen Zwängen ausgeht. Die prekäre wirtschaftliche Lage ist eine Schwachstelle der Türkei und erfordert eine Verbesserung der angespannten Beziehungen, insbesondere zu westlichen Partnern. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig eine Abkehr von der bisherigen außenpolitischen Autonomie und den flexiblen Bündnissen, insbesondere jenem mit Russland. In einer instabilen multipolaren Weltordnung werden nach wie vor eigene strategische Interessen, geopolitische Positionierungen und Machtprojektionen das außenpolitische Handeln prägen, was zwangsläufig geopolitische Spannungen und außenpolitische Zielkonflikte mit sich bringen wird. Trotz der geostrategischen Bedeutung der Türkei als Schlüsselakteur in der von den USA angeführten Strategie zur Eindämmung von Russland und China sowie zur Verhinderung eines Bündnisses zwischen Russland, China und Iran dürften die Beziehungen zum Westen weiterhin kompliziert bleiben. Gleichzeitig eröffnet diese Strategie der Türkei Handlungsspielräume und stärkt ihre geopolitische Position. Präsident Erdoğan und seine Regierung werden weiterhin bestrebt sein, diese Spielräume maximal und autonom auszuschöpfen und gleichzeitig Spannungen mit dem Westen in einem kontrollierten Rahmen zu halten, um eine vollständige Entfremdung zu vermeiden.

ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Friedens- und Konfliktforschung, Autoritarismus, Defekte Demokratien, De-facto-Staaten und Internationaler Minderheitenschutz mit regionalem Fokus auf Nahost, die Türkei, Zypern und Kurdistan. E-Mail Link: guerbey@zedat.fu-berlin.de